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 Gregor Brand

„The most original-minded man ...“:
Francis Galton (1822 - 1911)

 

 I. Francis Galton - Genie der Vielseitigkeit

Francis Galton ist eine der faszinierendsten Wissenschaftlerpersönlichkeiten des an eindrucksvollen Gelehrten und Wissenschaftlern überreichen 19. Jahrhunderts. Doch er teilt auch das Schicksal der meisten Spitzenwissenschaftler: Er ist außerhalb der Fachkreise kaum bekannt. Aber was sind bei Galton die Fachkreise? Francis Galton hat Medizin studiert, aber dieses Studium nach dem Tod seines Vaters abgebrochen. So wenig, wie er als Mediziner bezeichnet werden kann, so wenig kann er ausschließlich einem speziellen anderen Fach zugeordnet werden. Seine wissenschaftliche Bedeutung, derentwegen er zu Lebzeiten zahlreiche Ehrungen erhielt, und die unter anderem dazu führt, dass ihm gleich zu Beginn des Dritten Jahrtausends eine neue Biographie gewidmet wurde (Gillham 2001), liegt in ganz unterschiedlichen Bereichen: Zuerst wurde man auf ihn als Afrikaforscher und Geograph aufmerksam. Dann machte er sich einen Namen als Meteorologe, der unter anderem maßgeblich an der Entwicklung und Einführung von Wetterkarten beteiligt war. Als er 47 Jahre alt war, erschien sein wirkungsgeschichtlich vielleicht bedeutsamstes Werk, das sich auf ein neues Forschungsgebiet bezog: „Hereditary Genius“ (Galton 1869); erst mit dieser Arbeit wurde er von weiteren intellektuellen Kreisen wahrgenommen. Die in dieser umfangreichen Schrift behandelte Thematik des Zusammenhangs von Vererbung, Intelligenz und Hochbegabung verfolgte Galton in den folgenden Jahrzehnten bis zu seinem Tod weiter und widmete ihr weitere wichtige Forschungen. Er wurde dabei unter anderem zum Initiator der wegweisenden Methode der Zwillings- und Adoptionsstudien und konzipierte die ersten Intelligenztests. Darüberhinaus schuf er grundlegende Beiträge zur Statistik, zur Kriminologie (hier vor allem zur Erforschung und Anwendung von Fingerabdrücken) sowie zur Anthropologie und schuf schließlich Begriff und Forschungsgebiet der Eugenik. Ohne ausgebildeter Psychologe gewesen zu sein, gilt er weithin als Begründer der differentiellen Psychologie und - neben Wilhelm Wundt (1832 - 1920) - als Vater der experimentellen Psychologie. In all diesen Bereichen findet man seinen Namen in den einschlägigen Lexika und Darstellungen zur Geschichte dieser Disziplinen.

Allein schon wegen seiner herausragenden Bedeutung als Pionier der Begabungsforschung erscheint es gerechtfertigt, ihn hier in einer biographischen Skizze näher vorzustellen. Dabei soll, entsprechend der Zielrichtung dieser Zeitschrift, vor allem auf seine Kindheit und Jugend sowie auf seinen Bildungsweg eingegangen werden. Sein Werdegang kann manche Aufschlüsse darüber geben, wie sich ein Spitzenbegabter entwickelt beziehungsweise entwickeln kann. Für den fortbestehenden Erkenntniswert spielt es dabei keine Rolle, dass die Gesellschaft, in der Galton lebte, nicht diejenige ist, in der wir jetzt leben. Die Biographien Hochbegabter spielen sich schließlich fast nie in gleicher Umgebung ab, da sich die gesellschaftlichen und kulturellen Rahmenbedingungen dauernd ändern. Für ihre fortdauernde Relevanz kann es deshalb nicht entscheidend sein, ob ein ungewöhnlich intelligenter Mensch vor vierzig Jahren in der DDR aufgewachsen ist, vor 70 Jahren in Indien oder vor 150 Jahren im viktorianischen England.

II. Die Abstammung Francis Galtons

Bei jemanden, der in einem solch intensiven Maß die Abhängigkeit der Intelligenz von der Vererbung betont hat wie Francis Galton, ist es nahezu unausweislich, auf seine eigenen genetischen Voraus-setzungen einzugehen. Dieser Auffassung war auch schon sein erster Biograph, der eminente Statistiker und Mathematiker Karl Pearson (1857 - 1936), der sich im ersten Band seiner monu-mentalen Biographie Galtons (Pearson 1914) überaus eingehend mit dessen Genealogie beschäftigt hat. Francis Galton gehörte zu einem hoch interessanten Erbkreis, der zahlreiche intellektuell herausragende Persönlichkeiten hervorgebracht hat. Seine Mutter war Frances Anne Violetta Darwin (1783 - 1874), eine Tochter von Dr. Erasmus Darwin (1731 - 1802). Ein Halbbruder von ihr war Dr. Robert Darwin (1766 - 1848), der - wie seinerzeit sein Vater Erasmus - als einer besten englischen Ärzte seiner Zeit galt. Robert Darwin wiederum war der Vater des weltberühmten Charles Darwin (1809 - 1882), des Begründers der wissenschaftlichen Evolutionstheorie; Francis Galton und Charles Darwin waren demnach Halbvettern. Ihr gemeinsamer Großvater Erasmus Darwin kann als einer der genialsten Persönlichkeiten, die je britischen Boden bewohnt haben, angesehen werden  - was schon etwas heißen will bei einem Volk, das in seiner Geschichte im Übermaß Gelehrte, Wissenschaftler, Ärzte, Juristen, Schriftsteller, Politiker und Soldaten von Weltrang hervorgebracht hat.  Zu seiner Zeit berühmt und hoch geschätzt, geriet diese außerordentliche Qualität von Erasmus Darwin allerdings im 19. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit. Erst in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich der Biologe Desmond King-Hele wieder intensiv mit dem Leben und Werk des älteren Darwin befasst und in mehreren Biographien - zuletzt 1999 - (King-Hele 1999)  eindrucksvoll dargestellt, dass Erasmus Darwin ein Genius war, das nach Höhe und Breite seiner Begabung keinen Vergleich mit den bedeutendsten Köpfen aller Zeiten scheuen muss. Der Dichter und Philosoph Samuel Coleridge (1772 - 1834), selbst einer der Großen der britischen Zivilisation, äußerte sich 1796 - also zu Lebzeiten des auch Coleridge bekannten Goethe -  über Erasmus Darwin folgendermaßen: „ I think he is the first literary character in Europe, and the most original-minded man“. Auch wenn man über die Berechtigung dieses Superlativs streiten kann, so zeigt die Äußerung jedenfalls die außerordentliche Reputation, die Erasmus Darwin genoss. Der zweite Teil der coleridgeschen Charakterisierung passt auf den Enkel Francis Galton nicht weniger als auf dessen Großvater Erasmus Darwin.

Erasmus Darwin war zweimal verheiratet. In erster Ehe heiratete er 1757 die siebzehnjährige Mary Howard (1740 - 1770); dieser Verbindung entsprossen eine Tochter und vier Söhne, darunter der oben erwähnte Dr. Robert Darwin, F. R. S. (Fellow of the Royal Society; diese auf wissenschaftlicher Leistung beruhende Ehrung wurde auch  seinem Sohn Robert, seinen Enkeln Charles Darwin und F. Galton sowie etlichen weiteren Nachfahren zuteil). Nach dem Tod seiner Frau vermählte sich Erasmus Darwin als Fünfzigjähriger mit der 16 Jahre jüngeren Witwe Elisabeth Collier (1747 - 1832). Aus dieser zweiten Ehe gingen sieben weitere Kinder hervor, darunter Frances Anne Violetta, Francis Galtons Mutter. Schließlich hatte Erasmus noch aus einer außerehelichen Beziehung mit Mary Parker zwei weitere Kinder, die gemeinsam mit seinen übrigen erzogen wurden. Man kann davon ausgehen, dass die Fruchtbarkeit seines Großvaters von seinem Enkel Francis nicht nur aus familiären, sondern auch aus kulturbiologischen Gründen ausgesprochen positiv bewertet wurde. In seinen späteren Schriften hat sich Galton - auch unter dem Einfluss der Evolutionstheorie seines Vetters Charles - intensiv mit eugenischen Überlegungen befasst. Aufgrund seiner Überzeugung von der primär genetisch bedingten Determiniertheit der Begabungshöhe war es für ihn eine logische Konsequenz, die Frage aufzuwerfen, welche - unterschiedlich intelligenten - Menschen sich in welchem Umfang fortpflanzen und was dies für die Entwicklung einer Gesellschaft bedeutet. Galton selbst, der 1853 Louisa Jane Butler, Tochter einer angesehenen Akademikerfamilie, heiratete, blieb ohne Nachkommen. Angesichts seiner Überzeugung von der sozial positiven Wirkung einer stärkeren Vermehrung gerade des intelligentesten Teils der Bevölkerung kann man davon ausgehen, dass die Kinderlosigkeit der eigenen Ehe nicht auf freiem Willensentschluss beruhte und ihn durchaus belastet hat.

Nicht nur die mütterlichen Darwin-Vorfahren, sondern auch die väterlichen Galton-Ahnen weisen zahlreiche Persönlichkeiten auf, die sich nicht nur durch geistige Leistungen auszeichneten, sondern zum nicht geringen Teil auch durch ungewöhnliche physische Energie und Leistungskraft. Francis Galtons Urgroßvater Samuel Galton (1720 - 1799) erwarb sich ein großes Vermögen, von dem sein Urenkel noch entscheidend profitierte. Sein Sohn, Francis Großvater Samuel Galton der Jüngere F. R. S. (1753 - 1832),  betätigte sich als Waffenhändler, obwohl er damit in Konflikt geriet mit seinen quäkerischen Glaubensbrüdern. Er war ein wissenschaftlich interessierter und auch in diesem Bereich selbst tätiger und publizierender Mann, Mitglied verschiedener wissenschaftlicher Gesellschaften und gehörte - wie der mit ihm befreundete Erasmus Darwin - zur intellektuell elitären Lunar Society in Birmingham.

Francis` Vater Samuel Tertius Galton (1783 - 1843) war wie sein Vater ein wohlhabender und gebildeter Geschäftsmann; er hatte - wie sein Sohn Francis - eine Vorliebe für Statistik und veröffentlichte ein Werk über den Zusammenhang von Wechselkursen, Geldmenge und Preisen. Zu seinen Vorfahren und Verwandten zählten - um nur diese wenigen Beispiele zu nennen - die Barclays, die zur Elite der englischen Quäkerbewegung gehörten, Sir Ewen Cameron (1629 - 1719), einer der letzten schottischen Hochland-Häuptlinge, der Gelehrte Sir Henry Savile (1549 - 1622) oder der Dichter Sir Charles Sedley (1639 - 1701). Wie bei Galtons mütterlichen Vorfahren, so gab es auch bei den väterlichen einige Linien, die in den englischen und europäischen Hochadel des Mittelalters führten, so dass Galton unzählige Male von englischen, schottischen und anderen europäischen Königen abstammte. Es würde hier bei weitem zu weit führen, auch nur aus der näheren Verwandtschaft alle Familienmitglieder aufzuführen, die durch wissenschaftliche Leistungen hervorgetreten sind. So hatte allein sein Cousin Charles - verheiratet mit einer Kusine - drei Söhne, die Professoren wurden und zwei weitere, die als Bankier beziehungsweise Erfinder sehr erfolgreich waren. Erstaunlich ist, dass der Galton-Biograph Pearson nach sorgfältiger genealogisch-biographischer Analyse von dessen vier Großeltern sich nicht entscheiden kann, wen davon er als bemerkenswerteste Persönlichkeit ansehen soll - und das, obwohl mit Erasmus Darwin und Samuel Galton zwei außergewöhnlich Begabte darunter zu finden sind.

In Galtons eigener Verwandtschaft zeigte sich nach all dem das, was er  seit „Hereditary Genius“ über die Vererbung der Hochbegabung nachzuweisen suchte: Dass besonders hohe Begabung sich nicht gleichmäßig über die Bevölkerung verteilt, sondern in bestimmten Familien in extrem überdurchschnittlichem Umfang konzentriert ist. Der von Galton erstmals statistisch festgestellte Zusammenhang, dass ein geistig hervorragender Mensch in seiner Verwandtschaft weit mehr ebenfalls besonders begabte Persönlichkeiten hat als bei zufälliger Verteilung der Begabung zu erwarten wäre, wurde bis zur Gegenwart hin immer wieder bestätigt (Weiss 2000). Als Randnotiz dazu kann man noch erwähnen, dass sich unter den von Miraca Gross gefundenen australischen Kindern mit einem Stanford-Binet-IQ von mindestens 160 mit Richard McLeod ein direkter Nachkomme von Charles Darwin befand (Gross 1993).

III. Kindheit und Schulweg eines Hochbegabten

Francis Galton wurde am 16. Februar 1822 auf dem elterlichen Anwesen Larches bei Birmingham als letztes von neun Kindern geboren. Zwischen ihm und seinen Geschwistern lag ein beträchtlicher Abstand, denn die jüngste seiner Schwestern war elf Jahre und seine Brüder Darwin und Erasmus waren 8 und 6 Jahre älter. Von vornherein war er der Liebling seiner Geschwister, insbesondere seiner Schwestern. Seine Schwester Elisabeth Anne (1808 - 1906) schrieb später, ihre Mutter habe auf die Uhr achten müssen, damit jede Schwester sich gleich lang habe um ihn kümmern dürfen. Besonders intensiv beschäftigte sich seine Schwester Adèle (1810 - 1823, der Akzent im Namen wird in den verschiedenen Quellen unterschiedlich geschrieben) mit ihm. Durch ein Rückenleiden gezwungen, die meiste Zeit im Bett zu verbringen, wollte sie ihrem kleinen Bruder möglichst früh möglichst viel beibringen; speziell zu diesem Zweck eignete sie sich autodidaktisch Kenntnisse - z. B. des Lateinischen - an.  Parallel zum Sprechenlernen versuchte sie, Francis spielerisch die Buchstaben des Alphabets zu lehren; nach dem späteren Zeugnis seiner Schwester konnte er richtig auf die Buchstaben zeigen, bevor er sprechen konnte. Mit 12 Monaten konnte der kleine Francis alle Großbuchstaben lesen, mit 18 Monaten auch die anderen. Mit 2 ½ Jahren las er selbständig das Buch Cobwebs to catch Flies und als er fast drei Jahre alt war, konnte er mit seinem Namen unterschreiben. Elisabeth Anne Galton schrieb später (in ihren von Pearson zitierten maschinenschriftlichen Erinnerungen) über den Unterricht ihrer Schwester:  „ Adéle had a wonderful power of teaching and gaining attention without fatiguing. She taught herself Latin and Greek, that she might teach him. She never made him learn by heart, but made him read his lesson bit by bit, eight times over, when he then could say it ...“.

Am 15. 2. 1827 schrieb Klein-Francis seiner großen Schwester folgendes Brieflein:

„MY DEAR ADÈLE,

I am four years old and I can read any English book. I can say all the Latin Substantives and Adjectives and active verbs besides 52 lines of latin poetry. I can cast up any sum in addition and can multiply by 2, 3, 4, 5, 6, 7, 8 (9), 10, (11). I can also say the pence table. I read French a little and I know the clock. Francis Galton. Febuary-15- 1827.“

Die Zahl 9 war mit einem Korrekturmesser ausgekratzt und die 11 mit einem kleinen Papierquadrat überklebt, was von späteren Kommentatoren so gedeutet wurde, dass der kleine Galton letztlich doch nicht mehr Können in Anspruch nehmen wollte als tatsächlich vorhanden war. Vor allem die Angaben in diesem Brief waren später für den von Galton stark beeinflussten amerikanischen Intelligenz-forscher Lewis M. Terman (1877 - 1956) die Grundlage dafür, Galtons Intelligenzquotienten posthum einzuschätzen (Terman 1917). Terman ging dabei davon aus, dass zu den im Brief angegebenen Leistungen normalerweise erst ein Achtjähriger in der Lage sei. Nach der damals zur IQ-Berechnung verwendeten Formel - Intelligenzalter (mal 100) dividiert durch Lebensalter - kam er für Galton auf einen IQ von 200 - einen solchen Wert hatte bis dahin kein Kind erreicht. Terman hatte allerdings übersehen, dass Galton diesen Brief nur einen Tag vor seinem fünften Geburtstag geschrieben hatte, demnach als Lebensalter eher 5 einzusetzen gewesen wäre, was bei sonst gleichen Annahmen zu einem IQ von 160 führen würde. Festzuhalten bleibt bei allen Zweifeln an der Präzision einer solchen posthumen IQ-Messung, dass die Angaben über Galtons kindliche Entwicklung jedenfalls den eindeutigen Schluss zulassen, dass seine intellektuelle Leistungsfähigkeit extrem hoch war. Sie war aber andererseits - wie man aus vielen Untersuchungen seit 1917 weiß - auch nicht einzigartig.

Angesichts eines in so frühen Jahren erfolgten zielstrebigen Lehrens und Lernens könnte sich die Frage stellen, ob das Kind nicht überfordert wurde. Es gibt jedoch keine Anzeichen dafür, dass diese Art der Erziehung Galton geschadet hat. Pearson weist zwar in diesem Zusammenhang darauf hin, dass es in Galtons späteren Jahren Phasen geistiger Erschöpfung gegeben habe, doch ist mehr als zweifelhaft, dass dies etwas mit der frühkindlichen intellektuellen Entwicklung zu tun gehabt hat.  Immerhin war Galton die weitaus meiste Zeit seines langen Lebens geistig enorm produktiv; die Zahl seiner wissenschaftlichen Veröffentlichungen, wie sie Forrest zusammenstellte (Forrest 1974), lag weit über dem Durchschnitt. Es ist daher naheliegender, gelegentliche passive Phasen eines insgesamt hochkreativen Lebens mit den Anstrengungen des erwachsenen Mannes und nicht des Kindes Galton in Verbindung zu bringen. Davon abgesehen könnten solche Phasen auch ein darwinsches Familienerbe gewesen sein. Von Charles Darwin heißt es, dass er „fast ständig kränkelte und unter Er-schöpfungszuständen litt“ (Schmitz 1983, S. 126) und dessen älterer Bruder Erasmus A. Darwin (1804 - 1881) wird von Schmitz als zwar sehr intelligent, aber auch als „ständig kränkelnder und  wenig lebenstüchtiger Junggeselle“ beschrieben.  Pearson erwähnt eine von Galtons Mutter überlieferte Bemerkung des fünfjährigen Francis, wonach dieser seinem Vater, als der ihm Rechenaufgaben stellte, auf die Frage, ob er nicht müde sei, antwortete: „ I am not tired of the thing, but of myself“. Einerseits sollte man diese Bemerkung nicht überbewerten, zumal nicht bekannt ist, in welchem größeren Zusammenhang sie gesagt wurde und es zweifelhaft ist, ob sie überhaupt über den Moment hinausweisen sollte. Andererseits spricht das Zitat eher dafür, dass Francis gerade Interesse an dem „thing“ hatte, was ebenfalls nicht für eine „Überforderung“ spricht. Galtons Kindheit bestand zudem keineswegs nur aus solcher Art Lernen , sondern seine Familie legte beispielsweise auch auf Sport und Aktivitäten in der freien Natur und Umgang mit Haustieren viel Wert. Insgesamt ergeben die verfügbaren Informationen, dass der junge Galton ein zwar introvertierter, aber doch munterer, fröhlicher und aktiver Junge war. Kurz und gut: Für eine Überforderung gibt es keinerlei Anzeichen. Davon abgesehen war das „Wunderkind“ - Erschöpfungszustände hin oder her - zeitlebens eher von kräftiger Konstitution und wurde schließlich  - bei höchster geistiger Produktivität bis zuletzt - 89 Jahre alt. Galton widerlegte damit  in eigener Person das damals verbreitete und auch heute wohl nicht völlig ausgerottete abergläubische Vorurteil, ihrem Alter intellektuell weit vorauseilende Kinder nähmen - wie seinerzeit der Lübecker Christian Heinrich Heineken (1721 - 1725) ein vorzeitiges Ende.

Mit fünf Jahre kam Francis in eine Schule von 25 Jungen in der Nähe des elterlichen Anwesens. Pearson, der Galton auch noch persönlich sehr gut gekannt hat, berichtet, Francis habe sich hier von Anfang an durch seine Leistungen ausgezeichnet und sei „headboy“ gewesen, obwohl die meisten anderen Schüler teilweise beträchtlich älter waren. An dieser Schule von Mrs. French wurde ein anspruchsvoller Lateinunterricht erteilt, so dass Galton als Achtjähriger berichten konnte, unter anderem die Fabeln von Phaedrus, einen Teil von Ovids Metamorphosen und Briefen samt der dazu erforderlichen Grammatik durchgenommen zu haben. Francis konnte dabei kaum von dem von seiner Schwester  erteilten „Lateinunterricht“ profitieren, da diese ihm mangels größerer eigener Kenntnisse nur einfache Anfangsgründe des Lateinischen hatte beibringen können. Er musste also gewissermaßen in diesem damals zentralen Fach von vorne anfangen, was ihm sicher nicht leicht gefallen ist, da er den Lateinunterricht nicht mochte - um es milde auszudrücken - und sich mehr für ganz andere Gebiete interessierte. Seine Neigung galt auch schon zu dieser Zeit naturkundlichen Studien. Seine Sammelleidenschaft für Insekten war bekannt und er erwarb sich bereits in diesem Alter beträchtliche entomologische Kenntnisse; auch Geologie und Ornithologie faszinierten ihn. Obwohl seine Schulleiterin für diese Aktivitäten wenig Sinn hatte - sie bemerkte einmal, der junge Gentleman werde immer nur beim Studium der "abstruse sciences"  gefunden - , so äußerte sich doch ansonsten in höchsten Tönen über ihn.

Als Francis 8 ½ Jahre alt war, beschloss sein Vater, ihn auf eine größere Schule nach Boulogne (Frankreich) zu schicken. Die Gründe für diese recht ungewöhnliche Maßnahme sind nicht genau bekannt; Galton selber vermutete später in seinen Memoiren (Galton 1908), sein Vater habe dies getan, um ihn möglichst akzentfreies Französisch lernen zu lassen. Galtons Eltern hofften, dass er sich in Boulogne glücklich fühle. Sie scheinen diesen Eindruck gehabt zu haben, was auch daran lag, dass er in den Briefen an sie immer wieder seine Zufriedenheit betonte. So schrieb er am 30. 10. 1830:
„I am very happy at School. The Boys are all pretty kind to me ...“. In höherem Alter dagegen erwähnte Galton dagegen öfters, dass er an der Schule in Boulogne keineswegs glücklich gewesen sei. Dies hat wohl unter anderem daran gelegen, dass er nun in einem so jungen Alter fern der Eltern, Geschwister und Freunde leben musste. Wahrscheinlich fiel es ihm auch schwer, unter seinen Mitschülern neue Freunde zu gewinnen, da seine Schulkameraden auch hier meist wesentlich älter waren. In Boulogne kam er zunächst in höhere Klasse, wo die meisten seiner Mitschüler ihm im Alter sechs oder sieben Jahre voraus waren. Als sich zeigte, dass er mit deren Kenntnissen in den Alten Sprachen nicht mithalten konnte, wurde er in eine tiefere Klasse versetzt. Er blieb etwa zwei Jahre in Boulogne. Die erhaltenen Briefe aus dieser Zeit zeigen ihn, wenn man vom Intellekt absieht, als einen altersgemäß entwickelten „normalen“ Jungen seines Alters, der froh war, als er wieder dauerhaft nach England zurückkehren konnte.

Als Zehnjähriger kam Galton wieder zurück in seine Heimat. Seine neue Schule in Kenilworth, geleitet von Reverend Atwood, war eine Privatschule mit sechs Jungen als Schüler. Mr. Atwood hatte sehr viel Sinn und Sympathie für die Neigungen und die Art der ihm anvertrauten Jungen. Im Unterricht in Kenilworth spielten zwar einerseits die biblisch-christliche Lehre und Geschichte eine wichtige Rolle, aber andererseits nahmen auch Tätigkeiten, die den Geschmack des Jungen weit stärker trafen, wie Vogelfangen, Schießen und Cricket, großen Raum ein. Dem jungen Galton gefiel es an dieser Schule ausgezeichnet und einmal bat er sogar vor den Weihnachtsferien, noch länger dort bleiben zu können. Seine Äußerungen über seinen Lehrer Mr. Churchill waren derart positiv, dass Pearson meinte, niemals habe jemand für sein Unterrichten ein besseres Zeugnis erhalten als dieser ansonsten unbekannte Lehrer Churchill.

Zu Beginn des Jahres 1835, also mit knapp 13 Jahren, wechselte Galton auf die King Edward´s School (auch „Free School“ genannt) in Birmingham , wo er im Haus des  Schulleiters Dr. Jeune wohnte. Gleich zu Beginn der Zeit an der neuen Schule erkrankte er schwer an Scharlachfieber. Von den Folgen dieser Erkrankung erholte er sich zwar physisch auch dank eines ausgiebigen Sportprogramms gut, doch schulisch geriet er durch seine etwa sechswöchige Abwesenheit ins Hintertreffen. Als er nach Ostern 1835 erstmals wieder zur Schule konnte, stellte er fest, dass er vor allem in den klassischen Sprachen hinter seine Mitschüler weit zurückgefallen war, so dass er sich auf eigenen Wunsch eine Klasse zurückversetzen ließ. Was die Schule selbst betraf und vor allem den Unterricht durch Dr. Jeune, so missfiel diese Erziehung Galton sehr. Dies lag zum Teil an dessen harten Strafen, zu denen sowohl häufige körperliche Züchtigungen gehörten und als auch umfangreiche schriftliche Strafarbeiten, die es für kleinste „Verfehlungen“, z. B. Fehler bei der lateinischen Grammatik, gab. Im Lehrplan spielte der altsprachliche Unterricht die weitaus größte Rolle und dabei wiederum die extensive Beschäftigung mit der lateinischen Grammatik. Dies war überhaupt nicht nach dem Geschmack des jugendlichen Galton, der sich nach wie vor entschieden lieber mit naturkundlichen Forschungen befasste und technische Projekte verfolgte. So entwarf er beispielsweise im Sommer 1835 eine Flugmaschine, wobei er möglicherweise von entsprechenden Ideen seines Großvaters Erasmus inspiriert wurde. Auf diese Schule bezogen schrieb er später in seinen Erinnerungen, er habe Grammatik und die trockenen Rudimente von Latein und Griechisch verabscheut, da er in ihnen keinerlei Sinn habe entdecken können. Er habe sich nach einem Unterricht gesehnt, der ihm nicht geboten wurde: nach ausgiebiger Beschäftigung mit guter englischer Literatur, nach qualifiziertem Mathematikunterricht und solider naturwissenschaftlicher Ausbildung. Sein vernichtendes Fazit über den Unterricht an dieser Free School: „ I learnt nothing ...“. Galton  führt dies - sicher zu recht -  darauf zurück, dass der Unterricht überhaupt nicht zu seiner Art gepasst habe; da habe es auch nichts genützt, dass Dr. Jeune (später Bischof von Peterborough) ein Mann mit außergewöhnlichen geistigen Fähigkeiten und großem pädagogischen Eifer gewesen sei. Prof. Pearson kommentierte die galtonschen Schuljahre in Birmingham mit der Feststellung, dass der junge Galton grundsätzlich sehr lernbegierig gewesen sei, aber man habe ihm Steine statt des Brotes gegeben, nach dem er verlangt habe; so seien diese Schuljahre eine Zeit der Depression und der Stagnation gewesen. Galton blieb an der Free School bis zum Sommer 1838. Mit 16 ½ Jahren verließ er die Schule von Dr. Jeune und wechselte auf das General Hospital in Birmingham, um dort eine Ausbildung zum Arzt zu beginnen.

Die summarische Feststellung des Psychologen Raymond Fancher (Fancher 2001), die achtjährige Schulzeit Galtons sei gekennzeichnet durch viel Elend und mittelmäßige Leistungen, ist als pauschale Bewertung nicht zutreffend. Bezeichnenderweise erwähnt Fancher in seinem tendenziösen Überblick über Galtons Bildungsweg seine ersten Schuljahre bei Mrs. French mit keinem Wort. Bei den vier Schulen, die Galton besuchte,  kann weder bei der ersten noch gar bei der dritten von „misery“ die Rede sein. Seine schulischen Leistungen waren in den ersten drei Schuljahren ausgezeichnet und auch in Kenilworth ist nichts von mittelmäßigen Leistungen bekannt; in beiden Schulen scheint er auch keineswegs unglücklich gewesen zu sein. Ob man von einer mediokren Leistung in Boulogne sprechen kann, wenn ein Achtjähriger zusammen mit teilweise Sechzehnjährigen zunächst in eine gleiche, hohe Klasse kommt - also quasi überspringt - , aber dann eine Klasse zurückgeht, erscheint mir mehr als zweifelhaft. Immerhin lernte der junge Francis hier nicht in irgendeiner Lehranstalt mit durchschnittlich begabten Mitschülern, sondern auf einer extrem anspruchsvollen (Fancher: „highly competitive“) Schule mit einer entsprechend ausgewählten Schülerschaft. Fancher nimmt die Tatsache, dass Galton auf dieser ungeliebten Schule in einem verhassten Fach nicht gleich mit fast doppelt so alten Mitschülern konkurrieren kann, zum Anlass, seine vorschulischen „Wunderkind“-Leistungen als „Show“ zu bewerten. Die von Pearson gebrachten Beispiele liefern jedoch ein ganz anderes Bild. So ist beispielsweise nicht allein die Tatsache bemerkenswert, dass Galton als Fünfjähriger umfangreich aus Scotts Geschichtsepos „Marmion“ zitieren konnte, sondern vor allem der Umstand, dass diese spontanen Zitate bei den verschiedenen Anlässen inhaltlich verblüffend situationsangemessen  waren. Dies zeigt, wie andere Episoden auch, dass kleine Francis sehr wohl und sehr gut verstanden hatte, was er da lernte.

So bleibt, was die schulischen Leistungen betrifft, lediglich die Tatsache, dass er auf seiner letzten Schulstation, der Free School in Birmingham, in der Tat in den Alten Sprachen wohl in der Tat nicht mehr als mittelmäßig war und in Mathematik nicht der Beste, sondern „nur“ zu den vier Besten gehörte.

Fancher meint nun, die schulischen - und danach studentischen - Erfahrungen Galtons, dass er nicht immer an der Notenspitze stand, hätten ihn schließlich dazu gebracht, angeborene Grenzen der Begabung anzunehmen; in diesen Mängelerfahrungen lägen also die Wurzeln für seine Thesen über den Zusammenhang zwischen Vererbung und Intelligenz. Gewissermaßen erst durch das Erlebnis  der eigenen Beschränktheit sei er auf die Idee gekommen, das Ausmaß der Intelligenz müsse genetisch determiniert sein. Dabei übersieht Fancher, dass das Neue an Galtons Werk in „Hereditary Genius“ und den Folgeschriften keineswegs war, dass er behauptete, geistige Eigenschaften seien vererblich oder es gebe erblich vorgegebene Grenzen des Intellekts. Für diese Auffassungen musste er nicht erst durch negative schulische Erfahrungen sensibilisiert werden, sondern es ist mehr als realistisch anzunehmen, dass sie für ihn von früher Jugend an selbstverständlicher Ausdruck des gesunden Menschenverstandes waren. Die Vorstellung, dass mentale Eigenschaften vererbt werden, ist der Menschheit zutiefst vertraut, seit sie überhaupt weiß, dass es Vererbung gibt. Sie wurde im klassischen Altertum ebenso geäußert wie in der Edda; sie war jahrtausendelang geradezu selbstverständliches Gemeingut in Europa gewesen (R. Pearson 1995). Es hätte nicht in nahezu allen Rechtssystemen derart sorgfältige familien- und erbrechtliche Regelungen gegeben, wenn die Menschen geglaubt hätten, ihre Kinder würden zwar eventuell ihre Haarfarbe erben, aber hätten ansonsten geistig-seelisch nichts mit ihnen gemein.  Um zur Idee der Vererblichkeit von Begabung zu kommen, bedurfte es für Galton also wahrlich nicht der Erfahrung eigener Grenzen; dass die eigenen Fähigkeiten nicht unbegrenzt sind, ist ohnehin jedem auch nur halbwegs intelligenten Menschen bewusst. Das Neue am galtonschen Werk über Vererbung und Begabung war vielmehr vor allem, dass er versuchte, diesen Zusammenhang von Vererbung und Intelligenz erstmals wissenschaftlich, vor allem mit statististischen Untersuchungen, nachzuweisen. Von all dem abgesehen waren solche Schulerfahrungen, wie sie Galton in Birminham machte, für hochintelligente Kinder nichts Ungewöhnliches und sie können schon deswegen nicht zum Ausgangspunkt der speziellen theoretischen Vorstellungen Galtons gemacht werden. Fast alle bedeutenden englischen Naturwissenschaftler seiner Zeit machten ähnliche Schulerfahrungen wie Galton, wie dieser später im Rahmen seiner Untersuchungen (Galton 1874) herausfand. Eine ganz überwältigende Mehrheit dieser „English Men of Science“ konnte genausowenig  wie Galton mit der am Pauken der alten Sprachen orientierten „old-fashioned high-and-dry education“ etwas anfangen. Kennzeichnend  dafür ist die Aussage von Charles Darwin : „The school as a means of education to me was simply a blank“; seinen Unterricht in Edinburgh bezeichnete Darwin als „intolerably dull“ (Darwin 1887). Galton hatte also objektiv keinen Grund, wegen etwaiger mittelmäßiger Leistungen in Latein oder Griechisch an seiner angeborenen Intelligenz zu zweifeln und es gibt auch nicht den geringsten Hinweis darauf, dass er dies subjektiv getan hat. Genauso wie seine Wissenschaftler-Kollegen machte er zu recht nicht eigene Schwäche dafür verantwortlich, dass er in Birmingham nichts lernte, sondern das überholte und - von Pearson so genannte -  mittelalterliche Schulsystem.

IV. Galton als Medizinstudent

Der Wunsch, dass aus ihrem jüngsten Sohn ein Mediziner werden möge, war besonders stark bei seiner Mutter ausgeprägt, die dabei sicherlich auch die erfolgreichen Karrieren dachte, die sowohl ihr Vater Dr. Erasmus Darwin als auch ihr Halbbruder Dr. Robert Darwin als Ärzte gemacht hatten. Galtons Vater Tertius war schließlich bereit, diesen Wunsch zu unterstützen, da er einerseits von den  Fähigkeiten seines Sohnes überzeugt war und zudem andererseits auch von Mr. Hodgson in diesem Sinn bestärkt und gedrängt wurde. Hodgson (1788 - 1869) war ein hochangesehener Arzt - später unter anderem in London Präsident des College of Surgeons - , der schon bei Galtons Geburt dabei gewesen war und zeitlebens ein enger Freund der galtonschen Familie blieb. Galtons Kontakt mit der Medizin begann, noch vor der eigentlichen Ausbildung, damit, dass er auf Wunsch seines Vaters, der ihm zeigen wollte, was ihn erwarten würde, 1838 einer Obduktion beiwohnte. Es handelte sich bei der Toten um ein Mädchen, dass vollkommen gesund gewesen war, dann aber nach wenigen Stunden intensiver Bauchschmerzen an einer Blinddarmentzündung verstorben war. Der 16jährige Galton hatte das Gefühl, mit diesem anatomischen Erlebnis seine Kindheit hinter sich gelassen zu haben.

Neben dieser Erfahrung hielt es Tertius Galton für sinnvoll, wenn sein Sohn unter intelligenter Begleitung und Führung vor Studienbeginn eine mehrwöchige Studienreise auf dem Kontinent mache. So reiste Francis mit dem sechs Jahre älteren Medizinstudenten William Bowman, einem später hoch angesehenen Ophtalmologen, und dem 20-jährigen Russel nach Europa, wo sie sich unter anderem eine Irrenanstalt - wie man das damals nannte -  in Wien ansahen. Weniger bemerkenswert als die Erlebnisse auf dieser Tour erscheint mir eine persönliche Notiz aus Galtons Erinnerungen zu sein, in der er erwähnt, dass er in diesem Alter sehr schüchtern, zurückhaltend und empfindsam gewesen sei; dass Bewusstsein, auch nur in der kleinsten Weise aufzufallen, habe ihn bis zu einem geradezu absurden Grad rot werden lassen. Dies sind Züge, die man bei hochintelligenten Jugendlichen wesent-lich häufiger trifft als bei solchen am anderen Ende der Intelligenskala.

Im Herbst 1838 zog Galton in das Birmingham General Hospital, um dort die erste Stufe seiner medizinischen Ausbildung zu absolvieren. Er wurde hauptsächlich mit pharmazeutischen Aufgaben betraut, sollte also beispielsweise Tinkturen und Extrakte herstellen sowie spezielle Pillen verfertigen. Mit dem ihm seit früher Kindheit eigenen Drang nach wissenschaftlicher Forschung und empirischer Beobachtung nutzte er diese Tätigkeit zu Experimenten und Selbstversuchen mit den vorhandenen Stoffen. Was die Selbstversuche betraf, so ging er systematisch vor, in dem er bei den mit A beginnenden Stoffen anfing und konsequent weiter durchprobierte, bis er fast zum Ende von C gekommen war; dann ließ er infolge der Wirkungen von Croton-Öl von diesem Verfahren ab. Neben dieser Tätigkeit musste er auch die Ärzte bei ihren Visiten und Operationen begleiten, vor allem auch bei Unfallopfern. Das wissenschaftliche Interesse scheint hier bei Galton bereits größer gewesen zu sein als das spezifisch ärztliche, was für den sensiblen Jugendlichen unter anderem den Vorteil hatte, dass er das Geschehen im Krankenhaus mit einer etwas größeren Distanz erleben konnte. Dabei ist zu berücksichtigen, dass damals die erforderlichen Operationen noch in der Vor-Chloroform-Ära stattfanden und es auch ansonsten die Errungenschaften der Medizin des 20. Jahrhunderts, die nicht nur Patienten, sondern auch Ärzten das Leben erleichtern, noch nicht gab. Zeitlich wesentlich stärker als die klinischen Erfahrungen wurde Galton durch das theoretische Unterrichtsprogramm beansprucht. Sein anstrengender Tag war von früh morgens bis spät abends durch Lernen ausgefüllt, wobei neben medizinischer Lektüre Mathematik und Deutsch im Vordergrund standen. Er klagte in dieser Zeit oft über Kopfschmerzen und stand an der Grenze zur gesundheitsstörenden Überarbeitung oder hatte diese sogar schon überschritten.

Im Herbst 1839 wechselte Galton, wiederum auf den Rat von Hodgson hin, an das King´s College nach London, wo er zusammen mit fünf anderen Schülern bei Prof. R. Partridge (1805 - 1873) wohnte. Im King´s College hörte Galton medizinische Vorlesungen und musste dazu die entsprechenden Prüfungen absolvieren. Auch hier war der Galton teils von außen, teils autonom, auferlegte Lernstress sehr groß; Galton brannte auch hier - nach einem Ausdruck von Pearson - an beiden Enden. In meh-reren Fächern, z. B. Anatomie, Chemie und Forensische Medizin, gehörte er zu den mit Preisen ausgezeichneten Besten. Auch hier gibt es nicht den geringsten Anhalt für die fanchersche Unterstellung, Galton habe sich gewissermaßen als intellektuellen Versager erlebt.

Im Oktober 1840 immatrikulierte sich der nun 18-jährige Galton am berühmten Trinity College in Cambridge, um dort seine medizinische Ausbildung zu vollenden. Obwohl er Cambridge ohne medizinischen Abschluss verließ, hat er sich später sehr gern an diese Zeit erinnert und fühlte sich der Universität zeitlebens eng verbunden. Pearson berichtet, dass Galton in seinem Leben nichts mehr gefreut habe als die Ehren, die er später von Cambridge erhalten hat, mögen sie nun in der Verleihung der Ehrendoktorwürde oder darin bestanden haben, dass sein Porträt später neben dem anderer Cambridge-Geistesgrößen in der dining-hall hängen durfte. In Cambridge befand sich Galton in der Gesellschaft hoch intelligenter Mitstudenten, die in der Regel später zu hohen gesellschaftlichen Ehren aufstiegen, was nicht notwendig hieß, dass sie sich durch besondere intellektuelle Leistungen hervortaten. Als Beispiel dafür nennt Pearson den späteren Vice-Master des Trinity College W. G. Clark, von dem er schreibt: „ W. G. Clark - who like many men gave promise of high achievement, but failed to fulfil ...“.

Das Studium in Cambridge war sehr anstrengend -  besonders, wenn man es, wie Galton, mit Auszeichnung beenden wollte. Dabei war sein Ehrgeiz nicht auf den Erwerb besonderer medizinischer Kenntnisse gerichtet noch gar auf akademische Erfolge in den auch im Rahmen seines Studiums eine Rolle spielenden Alten Sprachen. Er bewunderte vielmehr am meisten die Mathematiker und wäre gern ein „Wrangler“ geworden, also ein Student, der die Mathematikprüfungen mit Auszeichnung absolviert hat. Voraussetzung für eine solche Ehrung wäre ein sehr gutes Abschneiden bei den im dritten Studienjahr stattfinden rigorosen 44-stündigen Mathematical Tripos Prüfungen gewesen. Das Prüfungssystem war jedoch so fordernd, dass diejenigen Studenten schlechte Karten hatten, die den hohen Anforderungen entweder intellektuell nicht gewachsen waren oder die sich in ihren geistigen Interessen nicht auf den engen Lehrplan beschränken wollten oder konnten. Galton gehörte zur letzteren Gruppe. Sein psychischer Horizont waren viel zu groß, als dass er sich nur auf Mathematik hätte konzentrieren können. Ob Galton, wie Karl Pearson mutmaßte, generell unfähig war, unter Druck zu arbeiten, erscheint mir zweifelhaft. Vermutlich war er, wie viele Hochbegabte, sehr wohl bereit, sich großen Anstrengungen zu unterwerfen, aber nur wenn es sich um selbstbestimmten und frei gewählten Druck handelte, nicht jedoch um einen bloß durch ein Prüfungssystem geforderten. Wie auch immer: Obwohl die mathematischen Prüfungen eigentlich seine volle Konzentration auf eine entsprechende Vorbereitung erfordert hätten, gab Galton seine ausgedehnten literarischen  und sozialen Aktivitäten nicht auf. Er war engagiertes Mitglied einiger Cambridge-Gesellschaften, z. B. der Camden Antiquarian Society, und gründete sogar mit Begeisterung selbst neue Vereinigungen, z. B. die „Historical Society“ und die „English Epigram Society“. Im Gegensatz zu seinen späteren Jahren verfasste er in seiner Cambridge-Zeit auch etliche Gedichte, insbesondere Epigramme. Vermutlich konnte nur derjenige Wrangler werden, dem Mathematik zumindest für die Zeit des Studiums das Wichtigste war. Galton jedoch schrieb aus Cambridge seinem darob wahrscheinlich besorgten Vater: „ I am having the greatest fun imaginable  in getting up an „English Epigram Society“ ... „

Als Galton nun bei einer Vorprüfung im zweiten Studienjahr merkte, dass er mit den Leistungen der Mathespezialisten nicht mithalten konnte und vermutlich die geforderten Resultate bei den Tripos nicht schaffen würde, kam es bei ihm zu gesundheitlichen Störungen, die meist als schwerer  Zusammenbruch charakterisiert werden. Die eigenen Angaben zu seiner Verfassung im dritten Jahr seines Cambridge-Medizinstudiums lassen diesen Ausdruck jedoch als übertrieben erscheinen. Galton konnte durchaus weiterhin seinem Studium nachgehen, wenn auch teilweise mit größeren Einschränkungen. Das galt hauptsächlich für das Lesen, zu dem er sich in dieser Zeit oft unfähig fühlte und auf das er dann nicht selten mit starkem Herzklopfen und Schwindelgefühl reagierte; darüberhinaus hatte er mit Anfällen von Schwindel zu kämpfen. Er selbst schrieb dazu im November 1842 in einem Brief an seinen Vater: „ Was mich am meisten ärgert, ist, dass meine Kraft zum Lesen an aufeinanderfolgenden Tagen so stark variiert. Manchmal kann ich stundenlang lesen, dann wieder nicht einmal eine halbe Stunde. Wenn das Schwindelgefühl einsetzt, dann kommt es derart schnell, dass es kein Vorwarnsystem gibt, das mir sagt, wann ich aufhören soll - außer manchmal das Herzklopfen.“  Diese Beeinträchtigungen waren immerhin so dauerhaft, dass Galton nun nicht länger mehr einen Prädikatsabschluss in Mathematik anstrebte. Andererseits hielten sie ihn nicht davon ab, sich weiterhin stark am studentisch-sozialen Leben in Cambridge zu beteiligen. Vermutlich hingen die geschilderten psychosomatischen Symptome nicht nur damit zusammen, dass er seit Jahren unter hohem Leistungsstress stand, sondern resultierten auch daraus, dass er mit dem in Aussicht stehenden Lebensweg alles andere als  glücklich war. Er studierte Medizin, weil seine Eltern dies wollten und ihn dazu gedrängt hatten, doch schrieb er Jahrzehnte später, er habe die Idee gehasst, als Arzt zu praktizieren. In Gedichten, die er während seiner Studentenzeit verfasste,  kritisierte er das konventionelle Karrierestreben und sogar das Streben nach Wissen, obwohl ihm später gerade dies als erstrebenswerteste Ziel schlechthin eines Menschen  erschien. Auch wenn er seinen Vater sehr liebte und ein enges Verhältnis zu ihm hatte, war für ihn in dieser Situation dessen Tod im Oktober 1844 gewissermaßen eine Befreiung. Er erbte ein großes Vermögen und war damit nicht mehr auf einen Beruf zum Broterwerb angewiesen. So war es kein Wunder, dass er im Herbst 1844 sein Studium in Cambridge abbrach und ein gänzlich anderes, unabhängiges Leben begann.

V. Die Ruhe vor der Wissenschaft

Auf die Zeit in Cambridge folgte der von 1844 bis 1849 andauernde Zeitraum der galtonschen „Brachjahre“ (K. Pearson 1914: „fallow years“). Nachdem sein Vater gestorben war, kehrte Francis in seine Heimat zurück und blieb dort zunächst etwa ein Jahr lang. In auffallendem Gegensatz  zu der vorangegangenen und auch der nachfolgenden Zeit sind für diesen Zeitraum nur relativ wenig  persönliche oder sonstige Dokumente bekannt, so dass man nicht sicher sagen kann, wie die Entwicklung Galtons in diesem Jahr verlaufen ist. Ein Jahr nach dem Tod seines Vaters brach er zu einer Reise nach Ägypten, Syrien und in den damals noch unerforschten Sudan auf, von der er wiederum ein Jahr später zurückkehrte. Die darauf folgenden drei Jahre verbrachte das einstige „Wunderkind“ mit exzessivem Jagen, Fischen, Segeln und anderen Vergnügungen in verschiedenen Regionen Großbritanniens. Er genoss also für einige Jahre das unabhängige müßiggängerische Leben eines wohlhabenden Gentlemans, wie es viele seiner Standesgenossen - auch aus der eigenen Familie - zeitlebens führten. Im Gegensatz zu diesen konnte ihn dies jedoch nicht allzu lange zufriedenstellen. Im Frühjahr 1850 brach Galton zu einer sorgfältig geplanten mehrjährigen Forschungsreise nach Afrika auf. Die dabei gemachten Beobachtungen, die von ihm ab 1852 publiziert wurden, bezeichneten den Anfang seiner wissenschaftlichen Arbeit. Diese mündete schließlich in die Beiträge, die zu seiner immer noch fortdauernden Wirkung führten.

Ein Jahr vorher hatte sich der immer an so vielem interessierte Galton den Luxus geleistet, in London einen Phrenologen namens Donovan aufzusuchen und sich von diesem ein Persönlichkeitsgutachten erstellen lassen. Dieser Vorgang wäre an sich nicht weiter beachtenswert, hätte nicht der bereits erwähnte Fancher daraus ein Schlüsselerlebnis für Galton konstruiert. Donovan ließ sich bei seiner Beurteilung Galtons anscheinend von dessen Erscheinung völlig in die Irre führen. Er sieht in dem schlanken, sportlichen Mann aus der wohlhabenden bürgerlichen Oberschicht, der seine zurück-liegenden Jahre überwiegend mit Outdoor-Aktivitäten zugebracht hat, einen Gentleman, der für intellektuelle Bestrebungen nichts übrig hat. Donovan schließt nun aus dem Anschein und Auftreten bauernschlau-oberflächlich, Galton fände seine Bestimmung nicht als Gelehrter bei intellektuellen Beschäftigungen, sondern nur in rauen Tätigkeiten („only when rough work has to be done“) und meint, der junge Mann sei am besten für das Militär geeignet. Dazu bescheinigt er Galton großzügig „a good working intellect“. Mit anderen Worten: Er hält ihn für einen durchschnittlichen Vertreter seines Standes und erkennt nicht im geringsten, dass vor ihm jemand steht, der genau dies nicht ist. Galton wird über diese Beurteilung ähnlich gedacht haben wie sein Zeitgenosse Wilhelm Wundt, der spätere Psychologe und Philosoph von Weltruf, über die Abgangsempfehlung seines Lehrers, er solle mangels höherer Begabung zur Post gehen. Fancher dagegen, der die Phrenologie-Episode gewaltsam in sein künstliches Deutungsschema der galtonschen Geistesentwicklung presst, meint - wofür es nicht den geringsten dokumentarischen Hinweis gibt -, das phrenologische Gutachten könne Galton wieder einmal - wie angeblich schon sein schulisches „Versagen“  in der Erkenntnis seiner angeborenen intellektuellen Grenzen bestärkt haben. Als signifikantes Indiz dafür, dass Galton den Phrenologen ernst genommen habe, sieht Fancher die Tatsache, dass Galton alsbald dessen Rat gefolgt sei, indem er zu seinen Forschungsreisenden nach Afrika aufbrach. Ganz abgesehen davon, dass Donovan ihm nichts dergleichen geraten hatte - Erforscher unbekannter Gebiete zu werden ist nicht schon deshalb das Gleiche, wie Soldat zu sein, nur weil beide Tätigkeiten überwiegend im Freien stattfinden -, so übersieht Fancher auch, dass es die galtonsche „Wanderlust“ (so der Ausdruck von Pearson 1914) schon lange vor dem Besuch beim Phrenologen gab und dass sie auch schon früher mehrfach in die Tat umgesetzt worden war. Zudem existierte in Galtons Verwandtschaft eine Neigung zu Entdeckungsreisen. Bereits sein ihm physisch und psychisch sehr ähnlicher Onkel Sir Francis Sacheverel Darwin (1786 - 1859) hatte forschend den Mittelmeerraum bereist - von Charles Darwins Fahrten mit der berühmten „Beagle“ ganz zu schweigen. Um Persönlichkeiten dieser Art zu geographischen Forschungsreisen zu bewegen, bedurfte es wahrlich nicht des Ratschlages eines phrenologisierenden Quacksalbers. Doch nicht genug damit, dass Fancher spekuliert, Galton habe das ernüchternde Urteil des Phrenologen über seinen Intellekt ernst genommen; er kommt er auf die geradezu abwegige Idee, Galton sei sogar froh gewesen, bescheinigt zu bekommen, dass er von Natur aus zu blöd sei für große intellektuelle Leistungen. Es sei ihm ein tröstlicher, angenehmer Gedanke („comforting thought“) gewesen zu erfahren, dass er sich wegen seiner  Misserfolge keine Vorwürfe machen müsse. Hauptsächlich also um sich selbst zu trösten, habe Gefallen an der Theorie gefunden, die wichtigsten intellektuellen Qualitäten (die er nicht habe) seien nicht durch Lernen zu erwerben, sondern ererbt. Auch für diese Hypothese gibt es nicht den geringsten Hinweis und sie erscheint, wenn man die Biographie Galtons insgesamt betrachtet, psychologisch mehr als unwahrscheinlich. Galton war zeitlebens sehr ehrgeizig, gerade, was wissenschaftliche Ehren und Leistungen betraf. Hätte er den Phrenologen tatsächlich ernst genommen, so hätte er sich sagen müssen, dass sein Lebenstraum, im Gebiet des Intellekts etwas Besonderes zu erreichen, auf einer Illusion beruht. Dies wäre für ihn eine zutiefst deprimierende und niederschmetternde Erkenntnis gewesen und alles andere als ein Gegenstand des Trostes. Die auf die Phrenologie-Episode folgenden Monate und Jahre zeigen, dass Galtons hohes intellektuelles Selbstbewusstsein, in dem er von frühester Kindheit durch kluge Verwandte und Lehrer (selbst durch Dr. Jeune, den Leiter der für ihn am wenigsten erfreulichen Schule) bestärkt worden worden war, in keiner Weise etwa durch seine Cambridge-Erfahrungen Schaden genommen hatte, zumal ihm schon als Student bewusst gewesen war, dass in Cambridge viele höchst intelligente Studenten ihr Studium ohne „honours“ abschließen. Schon wenige Monate nach dem Besuch beim Phrenologen tritt Galton mit seiner Entdeckung des „Telotype“ an die Öfffentlichkeit, plant seine Afrikareise ganz bewusst als wissenschaftliche Forschungsreise und beginnt damit seinen schließlich mit hohen Ehren endenden wissenschaftlichen Lebensweg. Dies alles hätte für ihn keinen Sinn gemacht, wenn er tatsächlich der Meinung gewesen wäre, lediglich über einen „good working intellect“ zu verfügen. Die Bedeutung der Phrenologie-Episode liegt allenfalls darin, dass sie einmal mehr das umfassende und unvoreingenommene Interesse Galtons an allen möglichen Phänomenen zeigt. Gerade diese Eigenschaft vorurteilsfreier wissenschaftlicher Neugier befähigte ihn, in Verbindung mit seinem überragenden Intellekt, zu den Leistungen, die ihn zu einem der großen Wissenschaftler des 19. Jahrhunderts machten.
 

VI. Schlussbemerkungen

Wenn man sich den Werdegang Galtons anschaut, dann muss man feststellen, dass seine außerordentlichen geistigen Fähigkeiten erst durch eine ungewöhnliche Vielzahl günstiger Umstände die öffentliche Aufmerksamkeit erreichten, die schließlich einsetzte. Obwohl seine Höchstbegabung schon im Kleinkindalter hervortrat, wäre sie heute völlig unbekannt, wenn Galton nicht das 47. Lebensjahr überschritten hätte. Trotz sehr hoher Intelligenz erbrachte er weder in seinen Schuljahren noch als Student überragende Leistungen. Seine erste Veröffentlichung, eine Schrift über den von ihm erfundenen „Telotype“, wäre heute genauso unbeachtet wie Zigtausende anderer Erfindungen. Seine Publikationen bis zur Veröffentlichung „Hereditary Genius“ galten nahezu auschließlich geo-graphischen oder meteorologischen Themen. Viele dieser Schriften hat Galton als Privatdrucke außer-halb des gängigen Verlagsbetriebes publiziert. Trotz der in diesen Arbeiten zum Ausdruck kommen-den außergewöhnlichen Begabung wäre Galton heute allenfalls einem erlesenen kleinen Kreis von Geographie- und Meteorologiehistorikern bekannt, hätte sein Leben vor 1869 geendet.

Francis Galton hat spätestens seit „Hereditary Genius“ immer wieder betont, dass für die Heraus-bildung höchster geistiger Fähigkeiten „nature“ eine weit größere Rolle spielt als „nurture“. Nicht zu verkennen ist jedoch, dass Galton in einem Umfeld aufwuchs und später lebte, dass für das Bekanntwerden seiner genetisch fundierten Spitzenbegabung kaum günstiger hätte sein können. Das beginnt schon damit, dass seine Intelligenz sehr früh erkannt wurde, dass sie zutiefst geschätzt und gefördert wurde und keinerlei Anlass für Irritation oder gar Ausgrenzung war. Galton wuchs in einer Familie und in einem Verwandtenkreis auf, in dem er nicht nur zahlreiche intellektuelle Anreize erhielt, sondern in dem sein ganzer Bildungsweg bewusst geplant war. Seine wohlhabenden Eltern hatten hochgebildete Freunde und Verwandte, die ihnen wichtige Tipps geben konnten. Auch wenn die elterlichen Bildungsentscheidungen eventuell teilweise falsch waren, so führten sie doch schließlich dazu, dass Galton mit 18 Jahren  Student einer außerordentlich renommierte Universität wurde. Er sprach und schrieb in einer zunehmend wichtiger werdenden Weltsprache und lebte in einem der Zentren der wissenschaftlichen Welt. Die Wissenschaftler und Gelehrten, die in London und in Großbritannien zu seiner Zeit aktiv waren, waren teilweise seine Verwandten; sie kannten jedenfalls seine Familie und deren große wissenschaftliche Tradition und waren überwiegend Angehörige seiner Schicht. Nachdem sein Cousin Charles Darwin 1859 seine epochenmachende Arbeit über „The Origin of Species ...“  veröffentlicht hatte, gehörte Galton zu einer Familie mit einem Wissenschafter von Weltruf und welthistorischer Bedeutung. Wäre dies für das Beachtetwerden seiner eigener Arbeiten ohne Bedeutung, dann würde in der Literatur nicht immer wieder seine Verwandtschaft zu Darwin erwähnt.

Solche äußerst günstigen Verhältnisse, denen man noch andere hinzufügen könnte, sollen die geistigen Leistungen Galtons in keiner Weise schmälern. Aber derartige fördernde soziokulturelle Faktoren dürfen bei der Beurteilung der intellektuellen Leistungsstärke eines Menschen nicht außer Acht gelassen werden, wenn man nicht anderen Unrecht tun will, die zwar nicht intellektuell, wohl aber in anderen Bereichen weniger begünstigt sind.



Literatur:

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Fancher, R. E. (2001): Francis Galton and Phrenology. In: Psychologie et Histoire, vol. 2, 131 - 147
Forrest, D. W. (1974): Francis Galton: The Life and Work of a Victorian Genius. London
Galton, F. (1869) : Hereditary Genius. London
Galton, F. (1874): English Men of Science: their Nature and Nurture. London
Galton, F. (1908) : Memories of My Life. London
Gillham, N. W. (2001) : The Life and Works of Francis Galton. From African Exploration to the Birth of Eugenics. New York, N. Y.
Gross, M. U. M. (1993): Exceptionally Gifted Children. London and New York
King-Hele, D. (1999): Erasmus Darwin: A Life of Unequalled Achievement. London
Pearson, K. (1914): The Life, Letters and Labours of Francis Galton. Vol. I, Cambridge
Pearson, R. (1995): The Concept of Heredity in the History of Western Culture: Part One. In: The Mankind Quarterly, Vol. XXXV, Nr. 3, S. 229 - 266
Schmitz, S. (1983): Charles Darwin. Leben-Werk-Wirkung. Düsseldorf
Terman, L. M. (1917) : The Intelligence Quotient of Francis Galton in Childhood. In: American Journal of Psychology, 28 (1917), S. 209 - 215
Weiss, V. (2000): Die IQ-Falle. Intelligenz, Sozialstruktur und Politik. Graz


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