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Gregor Brand

Hochbegabte und hochleistende Jugendliche.
Anmerkungen zum Marburger Hochbegabtenprojekt

In: Labyrinth, 24. Jg. (2001), Nr. 69, S. 10 - 15


I. Hochbegabte Kinder und Jugendliche - wie sind sie?

Was unterscheidet hochbegabte Kinder und Jugendliche von weniger intelligenten? Was unterscheidet sie gerade nicht? Es gibt verschiedene Wege, sich über diese pädagogisch wichtigen Fragen größere Klarheit zu verschaffen. So kann man etwa auf die Lebensläufe einzelner hoch intelligenter Menschen zurückgreifen. Dabei ist es für den Fall, dass jemand weiß, dass er selbst hochbegabt ist, naheliegend und durchaus legitim, auch die eigenen biographischen Erfahrungen  einzubeziehen. Klug reflektierte Selbstbeobachtung war schon in vergangenen Zeiten für viele eminente und hochintelligente Persönlichkeiten - z. B. die Philosophen John Stuart Mill oder William James - ein Mittel, um zu wichtigen Erkenntnissen über Hochbegabung und Genialität zu kommen.

Der eigentlich übliche Weg ist jedoch, das Verhalten und die Entwicklung anderer hochbegabter Menschen zu betrachten; es gibt mehr Menschen, die sich für das Phänomen Hochbegabung interessieren oder damit konfrontiert werden als solche, die selbst hochbegabt sind. Wie auch bei der Selbstbeobachtung besteht hier freilich das Risiko, das Verhalten Einzelner zu schnell für schlechthin hochbegabungstypisch zu halten. Dabei wird zudem oft übersehen, dass auch eine Anhäufung von Einzelfällen noch wenig darüber aussagt, wie die dabei gemachten Beobachtungen generell einzuordnen sind. Nahezu jede Meinung über Hochbegabung lässt sich durch viele Einzelfälle „belegen". Gerade deswegen sollte man sich bei allgemeinen Aussagen über Hochbegabte nicht in erster Linie fragen, ob man diese durch weitere Einzelfälle bestätigen kann, sondern umgekehrt, ob man nicht Beispiele kennt, die gegen die Theorie sprechen.

Eine entscheidend wichtige, aber leider viel zu wenig genutzte Quelle für Aussagen über Hochbegabte sind wissenschaftliche Untersuchungen. Wenn solche dann noch eine große Zahl von Personen umfassen und sich über einen längeren Zeitraum erstrecken, dann werden ihre Ergebnisse so bedeutsam, dass niemand, der sich gründlicher mit der Thematik befasst, daran vorbeigehen sollte. Die international bekannteste Untersuchung über hochbegabte Kinder war die „landmark study" des Psychologen Lewis M. Terman, die in den Anfang der Zwanziger Jahren des 20. Jahrhunderts in Kalifornien begonnen wurde. Der Lebensweg der damals etwa 10 Jahre alten Kinder ist bis in deren hohes Alter hinein - also bis in die Gegenwart - über Jahrzehnte wissenschaftlich begleitet und ausgewertet worden. Die Grundaussagen der Terman-Studie sind eindeutig: Bei den Hochbegabten handelt es sich im Durchschnitt um eine Gruppe, die sich im Hinblick auf ihre psychische und physische Gesundheit, ihren beruflichen Erfolg, ihr geistigen Lebensleistungen und ihr soziales Verhalten positiv von weniger Intelligenten unterscheidet. Diese Ergebnisse stehen völlig in Einklang mit den Daten, die man bei den Millionen von Intelligenzmessungen in den USA gefunden hat. Je höher die Intelligenz, desto geringer sind im Durchschnitt - nicht in jedem Einzelfall! - die physischen, psychischen und sozialen Probleme. Hochbegabung ist danach also typischerweise kein Problemfall, sondern ein Glücksfall.

In krassem Gegensatz dazu steht ein Image hochbegabter Kinder, wie es in Deutschland vor allem in den Neunziger Jahren in weiten Teilen der Medien propagiert wurde und mittlerweile auch von vielen Menschen übernommen wurde. Danach sind, nur leicht überspitzt ausgedrückt, hochbegabte Kinder durchweg  in ihrem Verhalten oft nicht zu verstehende Problemkinder ihrer Eltern einerseits  und Stiefkinder der Gesellschaft und des Bildungssystems andererseits; die Eltern sind zu bedauern,  wenn  sich - verräterische Sprache - der „Verdacht" auf Hochbegabung bestätigt und ihr Kind davon „betroffen" ist - wie von einer Krankheit.
 

II. Das Marburger Hochbegabtenprojekt (MHP)

Angesichts dieser konträren Einstellungen über Hochbegabte ist es von enormer Bedeutung, dass in den Achtziger Jahren eine neue umfassende Langzeituntersuchung über hochbegabte Kinder und Jugendliche gestartet wurde: das Marburger Hochbegabtenprojekt (MHP). Die aktuellen Ergebnisse und Auswertungen dieser Studie sind im vergangenen Jahr in einem über 400 Seiten starken Buch publiziert worden (D. H. Rost: Hochbegabte und hochleistende Jugendliche. Münster: Waxmann, 2000). Da nicht erwartet werden kann, dass sich jeder der Lektüre dieses wissenschaftlichen Werkes unterzieht, die gefundenen Resultate aber für jeden an Hochbegabung Interessierten von Bedeutung sein müssen, sollen hier einige Hauptergebnisse im Folgenden vorgestellt werden.

Beim MHP hat eine Arbeitsgruppe unter der Leitung des Entwicklungspsychologen Prof. Detlef H. Rost unter Berücksichtigung des aktuellen Forschungs- und Diskussionstandes der Intelligenzforschung und mit den differenzierten Mitteln der wissenschaftlichen Psychologie aus einer Gruppe von über 7000 Kindern der dritten Grundschulklasse die Intelligentesten ermittelt und einem breiten Spektrum psychologischer Tests - nicht nur Intelligenztests - unterworfen. Einige Jahre später sind diese Kinder erneut untersucht worden, was die Aussagekraft der gefundenen Ergebnisse nochmals deutlich erhöht. Diese Rost-Studie kann insbesondere durch die relativ hohe Zahl der untersuchten Kinder, durch ihre Dauer und ihre sorgfältige und intensive wissenschaftliche Begleitung Anspruch auf besondere Beachtung erheben.

Bemerkenswert beim MHP ist auch die Tatsache, dass sich das Forschungsinteresse nicht nur auf die Hochbegabten richtete, sondern auch auf die Gruppe der schulischen Höchstleister. Viele Hochbegabte gehören zwar zu den  Spitzenleistern, aber es dürfte auch allgemein bekannt sein, dass Hochbegabung einerseits keine notwendige Voraussetzung für schulische Bestleistungen ist und dass andererseits die meisten Hochbegabten nicht zu den absoluten schulischen Spitzenleistern zählen. Daher war es in der Tat sinnvoll, zwischen beiden Gruppen zu differenzieren.

1. Die Auswahl der hochbegabten Kinder/Jugendlichen

Bevor es zur Auswahl der hochbegabten Kinder kommen konnte, musste geklärt werden, wer überhaupt als „hochbegabt" anzusehen ist.  Zur Frage, wer als hochbegabt klassifiziert werden sollte und was unter Hochbegabung zu verstehen ist, gibt es bekanntlich zahlreiche unterschiedliche Meinungen. Umstritten ist dabei vor allem, ob Hochbegabung als intellektuelles Potenzial anzusehen ist - mit anderen Worten: ob zur Annahme von Hochbegabung ein sehr hoher IQ ausreicht - oder ob man erst dann von Hochbegabung sprechen kann, wenn weitere Faktoren vorhanden sind, die zu einer Realisierung dieses Potenzials führen.

Wie andere empirisch arbeitende Psychologen lassen auch Prof. Rost und seine Mitarbeiter für den Begriff der Hochbegabung das geistige Potenzial, wie es durch Intelligenztests ermittelt werden kann, allein ausreichend sein. Sie setzen sich damit unter anderem von dem immer wieder gern erwähnten Renzulli-Konzept der Hochbegabung ab, dessen praktische und wissenschaftliche Brauchbarkeit entschieden bestritten wird. Die Frage, wer als hochbegabt anzusehen ist, wurde beim MHP anhand des in der Intelligenzforschung weitgehend anerkannten Konzepts der allgemeinen Intelligenz (general intelligence - „g") beantwortet. Da alle Intelligenztests positiv miteinander korrelieren, kann man davon ausgehen, dass sie etwas Gemeinsames messen: eben diese allgemeine Intelligenz. „Allgemeine Intelligenz ist als das definiert, was einer (repräsentativen) Auswahl intellektueller Leistungstests gemeinsam ist" (S. 19). In vielen Untersuchungen hat sich längst gezeigt, dass „g" nicht nur ein theoretisches Konstrukt ist, sondern dass es mannigfache Verbindungen und Korrelationen dieser allgemeinen Intelligenz mit zahlreichen biologischen Variablen (z. B. Gehirngröße, EEG, Reaktionsgeschwindigkeit usw.) gibt. Nicht jeder Intelligenztest ist gleich gut geeignet, „g" zu messen; das Ausmaß, in dem ein einzelner Intelligenztest gerade die allgemeine Intelligenz misst, kann  mathematisch ermittelt werden und ist für die wichtigsten Tests bekannt. Unter Berücksichtigung dieser Erkenntnisse hat Rost seiner Auswahl drei Intelligenztests zugrunde gelegt, die nach seiner Auffassung sowohl einzeln als gerade auch in der Summe besonders zuverlässige Angaben über die Stärke der allgemeinen Intelligenz zulassen: den CFT 20, den Zahlen-Verbindungs-Test (ZVT) nach Oswald/Roth und einen sprachlichen Analogietest. In seine Hochbegabtengruppe hat er nun diejenigen der rund 7000 Schüler/innen aufgenommen, die bei diesen Tests insgesamt zu den oberen 2% zählten oder aber bei wenigstens einem Test einen Wert über 129 erreichten und bei den anderen Tests keinen schlechteren Wert als 107. Dabei betont er mit Recht, dass die Hochbegabungs-Klassifizierung gerade der oberen 2%  (und nicht etwa der intelligentesten drei, fünf oder 7 Prozent) durchaus willkürlich ist. Wann jemand als hochbegabt bezeichnet werden sollte, bleibt immer auch eine Sache der Definition, genauso wie etwa die Frage, ab welchem Messwert  jemand als „sehr groß" oder „sehr dick" anzusehen ist.
Die Seiten des Buches, in denen Rost sein methodisches Vorgehen und die ihm zugrundeliegenden Konzepte begründet, hätten es verdient, als Sonderdruck an alle verteilt zu werden, die sich mit den Themen Intelligenz und Hochbegabung befassen. Sie sind eine konzentrierte und sehr lesenswerte Darstellung dessen, was in der Psychologie Stand der Wissenschaft ist und setzen sich erfreulich von dem ab, was man sonst meist in populären Darstellungen zur Frage der Intelligenz lesen kann. So weist Rost  darauf hin, dass das auch journalistisch so populäre Konzept „multipler Intelligenzen" von Howard Gardner, wonach es eine voneinander unabhängige linguistische, musikalische, mathematische etc. Intelligenz gebe, wissenschaftlicher Substanz entbehrt; dieses Konzept wird von ihm - im Anschluss an amerikanische Autoren - einer vernichtenden Kritik unterzogen. In Übereinstimmung mit der großen Mehrzahl der naturwissenschaftlich orientierten Psychologen stellt Rost nicht in Abrede, dass es Menschen gibt, die etwa musikalisch oder mathematisch oder sprachlich besonders begabt sind, aber es wird mit überzeugenden Argumenten bestritten, dass diese Intelligenzen unabhängig voneinander bestehen, wie dies Gardner behauptet.

Rost hält schließlich auch nichts davon, den wissenschaftlich unklaren Begriff der „Kreativität" als Bestandteil der Intelligenz anzusehen und etwa Kreativitätstests zur Identifikation Hochbegabter heran-zuziehen. Er weist unter anderem darauf hin, dass Kreativitätstests nur einen geringen prognostischen Wert für spätere besonders kreative Lebensleistungen haben. Zudem stellt er zutreffend fest, dass Kreativität und Intelligenz nicht unabhängig voneinander sind; mit anderen Worten: Besonders kreative Menschen sind typischerweise auch überdurchschnittlich intelligent. Kreatives Verhalten, wie es durch bestimmte Lebensleistungen beschreibbar und messbar ist (etwa durch die Anzahl von Erfindungen, Publikationen, Herstellung von anerkannten Kunstwerken usw.) wird durch Tests der allgemeinen Intelligenz besser vorhergesagt als durch reine Kreativitätstests. Bei weitem nicht jeder Hochbegabte ist kreativ, aber im Durchschnitt übertrifft die Kreativität Hochintelligenter diejenige durchschnittlich Intelligenter bei weitem.
Weiterhin legt Rost die Schwächen neuerer Intelligenzdefinitionen bloß, etwa was die so populär gewordene „emotionale" oder „soziale" Intelligenz angeht. Auf seine Kritik an den seit einigen Jahren inflationär zunehmenden Intelligenzbegriffen („Kochintelligenz", „Geldintelligenz", Sexintelligenz" usw.) näher einzugehen, würde hier zu weit führen, aber es ihm darin zuzustimmen, dass diese neuen Intelligenzbegriffe offenbar das Verlangen vieler Menschen widerspiegeln, wenigstens in einem Bereich als „intelligent" zu gelten und eventuell sogar als hochbegabt.

Insgesamt muss man sagen, dass die intelligenztheoretischen Ausführungen Rosts für denjenigen, der sich in der relevanten Literatur auskennt, nichts Neues sind, dass sie aber vielen Anderen wirklich als „starker Tobak" vorkommen müssen, weil hier auf wenigen Seiten zahlreiche psychologische Legenden kühl und fundiert als solche charakterisiert werden.

2. Die Zielgruppe der Hochbegabten beim MHP

Welche Kinder wurden nun von dem MHP erfasst? Die Ausgangsstichprobe bestand, wie bereits erwähnt, aus rund 7000 Grundschülern der dritten Klasse aus den alten Bundesländern. Nachdem diese Kinder die oben erwähnten Intelligenztests absolviert hatten, wurden daraus 151 hochbegabte Kinder ausgewählt. Dieser sogenannten „Zielgruppe" wurde eine Vergleichsgruppe von 136 Kindern gegenüberstellt, wobei jedes Vergleichsgruppenkind einem Zielgruppenkind nach Geschlecht, Schule, Klasse und sozioökomischem Hintergrund zugeordnet wurde. Beide Gruppen wurden einige Jahre später, als die Kinder 15 Jahre alt waren und sich in der Regel in der 9. Klasse befanden, erneut getestet.

3. Die Gruppe der hochleistenden Jugendlichen

Die hochleistenden Jugendlichen wurden aus Schülern  der 9. Klassen von 156 zufällig ausgewählten Gymnasien der neuen Bundesländer zusammengestellt. Entscheidendes Kriterium für die Auswahl waren exzellente Schulnoten. In diese Zielgruppe hochleistender Jugendlicher wurde jeder Schüler mit einem Notenschnitt über 1, 5 aufgenommen. Gab es mehrere Schüler mit einem solchen Notenschnitt, dann wurden die drei besten der Schule ausgewählt. Gab es keinen Schüler mit einem Schnitt über 1, 5,  dann wurde der Schüler mit dem besten Notenschnitt (sofern er über 1, 9 lag) aufgenommen. Die Zielgruppe der Hochleistenden bestand schließlich aus 118 Jugendlichen der 9. Klasse. Auch hier wurde eine Vergleichsgruppe durchschnittlich Leistender gebildet, die aus 112 Neuntklässlern zusammensetzte. Bei diesen hochleistenden Schülern waren die Mädchen mit 58% gegenüber 42 %  Jungen deutlich in der Überzahl, wobei dieses Zahlenverhältnis allerdings auch dem tatsächlichen Geschlechterverhältnis an ostdeutschen Gymnasien entspricht. In sozialer Hinsicht ist bemerkenswert, dass zwei Drittel der Hochleistenden der Oberschicht entstammen, während dies bei den durchschnittlich Leistenden nur etwa ein Viertel ist.
 

4. Die Intelligenzverteilung

Die Messung der Intelligenz der beiden Leistungsgruppen - der Hochleister und der Durchschnittsleister - und der Vergleich mit den beiden westdeutschen Begabungsgruppen hat interessante Ergebnisse erbracht, auch wenn diese insgesamt nicht als sonderlich überraschend angesehen werden können. So  wurde festgestellt, dass die durchschnittlich Leistenden in ihrer Intelligenz den durchschnittlich Begabten entsprachen; ihr IQ-Mittelwert lag um 100. Demgegenüber gab es zwischen der Gruppe der schulischen Hochleister und derjenigen der Hochbegabten deutliche Intelligenzunterschiede. Der IQ-Mittelwert der Spitzenschüler lag bei 117, mit einer Standardabweichung von 11, 5. Das bedeutet, dass etwa 15 Prozent der hochleistenden Schüler als hochbegabt im engeren Sinn anzusehen waren. Auf der anderen Seite besagt diese Verteilung auch, dass es eine kleine Minderheit (etwa 15 %) der Schüler schafft, zumindest noch in der 9. Klasse mit einer nur kaum über dem Durchschnitt liegenden Intelligenz hervorragende Schulleistungen zu erbringen. Rost weist darauf hin, dass sich dieser Anteil sicherlich in den höheren Klassen deutlich vermindert; es spricht alles dafür, dass der Anteil Hochbegabter unter den Spitzenabiturienten erheblich höher ist als unter den Spitzenschülern der 9. Klasse. Festzuhalten bleibt,  dass zwar nur eine Minderheit der hochleistenden Schüler im engeren Sinn hochbegabt ist, dass aber andererseits ist die Wahrscheinlichkeit, ein Hochbegabter zu sein, bei einem Spitzenschüler 6 bis 7 mal höher als bei einem Durchschnittsschüler ist.

Interessant wäre es gewesen, die gemessenen Intelligenzwerte mit denen anderer Untersuchungen zu vergleichen. So hat etwa eine Testung von Gymnasiasten an einigen rheinland-pfälzischen Schulen ergeben, dass diese insgesamt einen IQ-Durchschnittswert erreichen, der dem der ostdeutschen Spitzenschüler entspricht, so dass man annehmen muss, dass in diesem Fall der IQ der Spitzenleister wesentlich über dem in der Rost-Studie gefundenen Wert liegt.  Es bleibt auch die Frage, ob die Heranziehung der Hochleister gerade aus der 9. Klasse besonders glücklich war. Sie war sicherlich veranlasst durch das Bemühen, den 15jährigen Hochbegabten eine gleichaltrige Gruppe von Hochleistern gegenüber stellen zu können. Aber es ist auch bekannt, dass in diesem pubertätsgeprägten Alter nichtintellektuelle Faktoren auf die Schulleistung einen so großen Einfluss haben wie vielleicht sonst während der ganzen Schulzeit nicht. Es bleiben daher auch unter diesem Aspekt erhebliche Zweifel, ob die hier untersuchten Hochleister der 9. Klasse repräsentativ für schulische Hochleister allgemein sind.
 

III. Stabilität von Hochbegabung

Die Frage, ob eine einmal festgestellte Hochbegabung im Lauf der Jahre bestehen bleibt oder nicht, ist nicht nur von theoretischer Bedeutung, sondern hat auch Konsequenzen für die Erziehung. Nach meinem Eindruck halten viele Eltern die bei ihrem Kind festgestellte Hochbegabung im Grunde für eine unsichere Angelegenheit, was vielleicht damit zu tun hat, dass sie es im Grunde nicht recht wahrhaben können, dass ihr Kind tatsächlich zu den Allerintelligentesten zählt. Nicht wenige glauben, oft durch unseriöse Publikationen darin bestärkt, dass sie nach der Identifikation ihres Kindes als hochbegabt nun ganz besondere Maßnahmen ergreifen müssten, damit diese Begabung nicht verkümmert und verloren geht und fühlen sich wegen dieses scheinbaren Handlungsdrucks permanent gefordert und oft überfordert.
Im Rahmen des MHP ist nun auch die Stabilität der Hochbegabung untersucht worden. Es ging dabei um die Frage, wieviel Prozent der Ausgangsstichprobe der Hochbegabten auch nach sechs Jahren noch als hochbegabt klassifiziert werden konnten. Darüber hinaus sollte ermittelt werden, mit welchen familiären Merkmalen die Stabilität zusammenhängt  und wie sich stabil Hochbegabte von unstabil Hochbegabten unterscheiden. Bemerkenswert dabei und ein weiterer Beleg für die wissenschaftlich gründliche Vorgehensweise beim MHP ist die Tatsache, dass für die Zweittestung eine neue Normierungsstichprobe von Kindern bzw. Jugendlichen ausgewählt wurde.

Ohne hier auf die Einzelheiten weiter eingehen zu können, kann als Ergebnis festgehalten werden, dass nur etwa 15% der Ausgangsstichprobe als instabil hochbegabt ermittelt wurden. Bei ihnen gab es einen solchen Leistungsabfall, dass es sechs Jahre später nicht mehr gerechtfertigt erschien, sie noch als „hochbegabt" zu bezeichnen. Was die Unterschiede der beiden Gruppen (stabil bzw. instabil Hochbegabte) angeht, so fand man Zusammenhänge, die mir nicht ganz unerwartet erscheinen. Der größte Unterschied liegt in der besuchten Schulform. Die stabil Hochbegabten besuchten fast alle das Gymnasium, während der Anteil der Gymnasiasten sich bei den als instabil hochbegabt erweisenden Drittklässlern nur bei etwa 55 % bewegt. Es ist jedoch zweifelhaft, ob der Unterschied in der Begabungsstabilität Folge oder Ursache ungleicher Beschulung ist. Immerhin ergab sich, dass die instabil Hochbegabten sich auch schon bei der ersten Testung im geistigen Leistungsvermögen von den dauerhaft Hochbegabten unterschieden: ihre Intelligenztestwerte lagen etwas niedriger. Dies spricht dafür, dass es zumindest nicht allein an der unterschiedlichen Schulart lag, dass bei ihnen einigen Jahre später keine Hochbegabung mehr festgestellt werden konnte. Aber, um dies noch einmal zu betonen: Der weitaus größte Teil der Kinder war im Jugendlichenalter genauso hochbegabt wie schon in der Grundschulzeit. Da nicht davon ausgegangen werden kann, dass diese Kinder alle besonders gefördert worden sind, könnte dieses Ergebnis Eltern durchaus zu größerer pädagogischer Gelassenheit im Umgang mit ihren hochbegabten Kindern veranlassen.

Was die sozioökonomischen Verhältnisse angeht, so ergab sich ein Zusammenhang mit dem Bildungs- und Sozialstatus der Eltern. Die stabil Hochbegabten kamen zu einem deutlich höheren Teil aus Oberschichtelternhäusern, während die instabil Hochbegabten wesentlich häufiger der Unterschicht und unteren Mittelschicht entstammten. Bemerkenswert dabei ist, dass der Zusammenhang mit dem Bildungsabschluss des Vaters noch höher ist als der mit dem sozioökonomischen Status.  Je höher das väterliche Ausbildungsniveau ist, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass die Hochbegabung aufrecht erhalten bleibt. Bei der - in der Studie nicht diskutierten - Frage nach den Gründen hätte sicher auch die biologisch-genetische Komponente berücksichtigt werden müssen. Es ist wiederholt festgestellt worden, dass mit zunehmendem Alter - auch schon merklich im 2. Lebensjahrzehnt -  der genetische Einfluss auf die Intelligenz zunimmt und der Anteil der Umwelteinflüsse abnimmt. Meines Erachtens könnte gerade auch die Tatsache, dass dem Bildungsabschluss des Vaters - der hoch mit dessen Intelligenz korreliert -  eine stärkere Bedeutung zukommt als seinem sozioökonomischen Status, ein Hinweis auf die Wirksamkeit dieser genetischen Komponente sein.

Was die Persönlichkeitsfaktoren der Kinder betrifft, so ist bei den stabil Hochbegabten tendenziell von vornherein ein größeres Interesse an den Schulfächer festzustellen und ein höherer schulischer Ehrgeiz, was sich natürlich auch positiv auf die Noten auswirkt. Mit anderen Worten: Hochbegabte Kinder mit guten oder sehr guten Schulnoten haben eine größere Wahrscheinlichkeit, hochbegabt zu bleiben als weniger gute Schüler.

IV. Die Hochbegabten: typischerweise keine Problemkinder

Eine ganz wichtiges Anliegen der Rost-Studie war die Frage, welche Persönlichkeitsmerkmale Hochbegabte kennzeichnen und welche nicht. Gerade auf diesem Gebiet gedeihen seit langem  Spekulationen und Legendenbildungen.  Vor allem wird, im Sinn der Genie-Wahnsinn-Theorie, sowohl in weiten Bevölkerungskreisen als auch bei einigen wissenschaftlichen Autoren die Auffassung vertreten, besonders hohe Begabung gehe typischerweise mit psychischen Beeinträchtigungen einher. Dieses Vorurteil lässt auch bei ansonsten intelligenten Menschen oft die kritische Distanz und das logische Überlegen vergessen, was vor allem dazu führt, dass vorschnell von Einzelbeobachtungen auf die Allgemeinheit geschlossen wird. Typisch dafür scheint mir die Äußerung eines Studenten zu sein, der vor kurzem in einer Mailingliste sinngemäß schrieb, ihm sei während eines Praktikums in der Psychiatrie aufgefallen, dass die dortigen Hochbegabten massive psychische Probleme hätten. Aber wie soll es auch anders sein bei Hochbegabten, die in psychiatrischer Behandlung sind? Hätte er sein Praktikum beispielsweise in einer Zahn- oder Augenklinik gemacht, hätte er sicher auch feststellen können, dass gar nicht so wenige hochintelligente Menschen Zahn - und Augenprobleme haben ...

Gegenüber diesem verbreiteten Vorurteil, das sich wie alle Vorurteile durch jeden Einzelfall bestätigt sieht, ergeben empirische Untersuchungen ein anderes Bild. Dies galt schon für die erwähnte Terman-Langzeitstudie, aber es gilt auch für andere Untersuchungen, die in dem Buch von Rost vorgestellt werden. Dabei konnte durchweg kein gehäuftes Auftreten psychopathologischer Probleme bei Hochbe-gabten festgestellt werden. Etwas Anderes ergibt sich gelegentlich dann, wenn die Untersuchungs-gruppe von vornherein eine bestimmte Auswahl betroffen hat, etwa wenn nur solche Hochbegabte untersucht werden, deren Eltern sich hilfesuchend an Beratungsstellen gewandt haben oder wenn solche Gruppen untersucht wurden, die sich nicht nur durch sehr hohe Intelligenz, sondern auch durch sehr hohe Kreativität auszeichnen. Bei letzteren - das sind häufig die „berühmten" Hochbegabten - gibt es durchaus Hinweise auf überdurchschnittlich häufigeres Vorkommen schwieriger psychosozialer Verhältnisse.

Die zahlreichen psychologischen Tests, die hier im Einzelnen nicht dargestellt werden können, lassen die Forscher des MHP zu folgendem Fazit kommen:

„ Zusammenfassend können damit die Hochbegabten als im Schulsystem gut integriert und schulisch erfolgreich sowie sozial unauffällig, psychisch besonders stabil und selbstbewußt charakterisiert werden." (S. 204)

Die immer wieder herausgestellten angeblich besonderen psychosozialen Probleme  Hochbegabter werden geradezu provokativ als „schlichte Vorurteile" bezeichnet. Dabei sollte man allerdings nicht vergessen, dass es hier um allgemeine Aussagen geht, die nicht für jeden Einzelfall zutreffen.

Bedeutet dieses Ergebnis nun, dass besondere Aktivitäten zugunsten Hochbegabter überflüssig sind? Die Rost-Studie weist selbst darauf hin, dass es unter den Hochbegabten eine besondere Gruppe gibt, die ganz sicher spezieller Hilfestellung bedarf: die der sogenannten Underachiever. Unter den untersuchten Hochbegabten fanden die Rost-Mitarbeiter etwa 15 % Underachiever, also Schüler, deren Leistungen deutlich unter dem zurückbleiben, wozu sie nur unter Berücksichtigung ihrer Intelligenz in der Lage sein sollten. Zu diesen Minderleistern wurden 4 Sitzenbleiber gezählt, zwei Realschüler und ein Hauptschüler sowie weitere 9 Jugendliche mit einem Notenschnitt unter 3, 0. Man kann darüber streiten, wo genau die Grenze zur Minderleistung anzusetzen ist, aber es ist sicher gut vertretbar, noch nicht von schulischer Minderleistung zu sprechen, wenn ein Schüler im Zeugnis beispielsweise einige Zweien und ein paar Dreien hat und damit etwa auf einen Schnitt von 2, 8 kommt. Rost widmet sich im vorliegenden Buch nicht speziell diesen Underachievern, sondern verweist nur auf andere Untersuchungen, die zeigen, dass sich die kleine Minderheit der hochbegabten Minderleister von den Achievern  „teilweise dramatisch" im Persönlichkeitsbereich unterscheidet. Der gravierende Unterschied zwischen hochbegabten Underachievern einerseits und der Mehrzahl der Hochbegabten andererseits bedeutet, dass die psychosoziale Situation von hochbegabten Minderleistern nicht zum Prototyp der Hochbegabung schlechthin gemacht werden darf, da dies eine beträchtliche Verzerrung der Realität bedeuten würde. Andererseits bedeutet ein Anteil von etwa 15% von hochbegabten Kindern mit erheblichen Problemen auch, dass es sehr viele individuelle Schicksale gibt, bei denen ein ausgesprochen starker Handlungsbedarf besteht.

V. Peer-Beziehungen: Hochbegabte sind typischerweise keine sozialen Außenseiter

Wie für alle Kinder und Jugendlichen, so spielt auch für die Hochbegabten das Verhältnis zu ihren Peers eine wichtige Rolle - also zu den Gleichaltrigen beziehungsweise anderen Kindern und Jugendlichen, mit denen sie in täglichem Kontakt stehen, insbesondere den Klassenkameraden. Auch für Eltern ist dieses Verhältnis wichtig und nicht selten ein Grund sorgenvoller Überlegung. Wie nahezu in allen Bereichen der Hochbegabungsdiskussion gibt es auch hier unterschiedliche Grundauffassungen. Manche meinen, Hochbegabte hätten aufgrund ihrer Andersartigkeit besondere Schwierigkeiten im Umgang mit ihren Peers, seien daher häufig vereinsamt und deswegen an sich selbst leidende Außenseiter. Demgegenüber können andere Wissenschaftler, Eltern und Beobachter dies nur in Einzelfällen bestätigen, aber dieses Bild  im Allgemeinen in keiner Weise bestätigen. Sie stellen sogar oft fest, dass die besonderen Fähigkeiten der Hochintelligenten ihnen eher zu einer besseren Stellung im Umgang mit anderen Jugendlichen verhelfen.

Um auch in dieser Frage zu mehr Faktenwissen zu kommen, hat das MHP auch diesen Punkt nach den Regeln der psychologischen Wissenschaft untersucht. Im Ergebnis wird die Frage, ob hochbegabte Jugendliche sozial isoliert sind, eindeutig verneint. Was die Anzahl der Freunde betrifft, die Zugehörigkeit zu einer Clique oder die Existenz eines guten Freundes, so ergaben sich weder positive noch negative Zusammenhänge mit herausragender geistiger Befähigung. Das bedeutet, dass eine in Einzelfällen vorkommende soziale Isolierung nicht voreilig auf die Hochbegabung zurückgeführt werden darf, sondern in Verbindung mit anderen Faktoren persönlicher oder sozialer Art zu sehen ist, die auch bei weniger Begabten vorkommen und auch bei diesen zu sozialer Vereinzelung führen können.
Zu den Unterschieden, die zwischen Hochbegabten und weniger Intelligenten festgestellt wurden, gehört die Tatsache, dass Hochbegabte häufiger die Aussage bejahen, man solle nicht zu viele Freundschaften haben. In Verbindung mit anderen Beobachtungen spricht dies dafür, dass Hochbegabte tendenziell ein reiferes Freundschaftskonzept haben und bei Kontakten größeren Wert auf das qualitative Moment legen.

Im Gegensatz zu einer weit verbreiteten Meinung konnte die Rost-Studie nicht bestätigen, dass sich Hochbegabte bevorzugt Freunde unter älteren Jugendlichen suchen, wenn man einmal davon absieht, dass ihre Klassenkameraden oft älter sind. Vielleicht liegt die Diskrepanz zu anderen Beobachtungen hier auch im Begriff der „Freundschaft" begründet.
Insgesamt zeichneten nicht nur die befragten hochbegabten Jugendlichen selbst, sondern auch ihre Eltern und Lehrer ein positives Bild von ihren sozialen Beziehungen zu Gleichaltrigen. Das verbreitete Image des Hochbegabten als einsamen und als Strebers betrachteten Jugendlichen konnte in keiner Weise bestätigt werden. Dabei ist auch hier wieder zu beachten, dass es sich um Aussagen über Häufigkeiten und Durchschnitte handelt, so dass anders aussehende Einzelfälle damit nicht ausgeschlossen sind.


(c) Copyright: Gregor Brand, 2001


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