LAND DER WÖLFE
Auf Wiedersehen, Geisterstadt.
Es ist Abschiedszeit. Wir fahren nach Norden, an die weißrussische Grenze.
Weißrußland ist ein eigenständiges Land. Es muß gesagt werden, daß das benachbarte Land mehr gelitten hat als das Land, in dem sich die Katastrophe ereignet hat. Radioaktivität ist international; sie braucht keine Einladung oder Visa für die Reise. Der böse, dunkle Wind trug an diesem Tag 70% der schweren Strahlung von Tschernobyl in das Nachbarland von Weißrußland.
Auf der Reise nach Norden wird klar, wie riesengroß das Gebiet ist, das damals versucht wurde – und das im Jahr 2525 immer noch verseucht sein wird.
Wermut
Das ist unsere Straße; an manchen Stellen ist sie gut.
An anderen Stellen nicht.
An manchen Stellen liegen gestürzte Telegrafenmasten über der Straße.
So lange wir durch das Land der Wölfe reisen, sehen wir nur die Schatten toter Dörfer und verlassene Gehöfte. Wir sehen auch die Pflanzen am Straßenrand. Bei uns heißen sie „Tschernobyl“, Wermut. Er hat einen bitteren Geschmack.
Die Natur nimmt das Land unerbittlich wieder in Besitz. In ein paar hundert Jahren werden alle Zeichen der menschlichen Besiedlung verschwunden sein. Die Strahlung wird länger bleiben. Viel länger.
Wenn wir im Herbst reisen, biegen sich die Obstbäume unter der Last ihrer Früchte und bitten uns geradezu, diese großen Äpfel und Birnen zu pflücken, aber wir wagen es nicht, sie zu essen.
In der Offenbarung des Johannes ist die Rede von dem Stern namens Wermut, der auf den dritten Teil der Flüsse und der Wasserquellen fällt und sie bitter macht...
Wir trinken auch aus diesem Brunnen nicht.
Ich bin nicht religiös und mache mir keine großen Gedanken über meine Sünden, weil unsere Sünden im Jenseits abgerechnet werden. Aber ich mache mir viele Gedanken über die Fehler, deren Preis wir schon in dieser Welt bezahlen müssen... Ich bin weder eine Optimistin, die sich freut, daß das Glas halb voll ist, noch bin ich eine Pessimistin, für die dasselbe Glas schon halb leer ist. Ich bin eine Realistin, die das Glas als das sieht, was es ist, aber hier in Tschernie sehe ich dunkel, verschwommen durch das Glas, daß die Schreiber der Bibel das Tschernobyl-Desaster irgendwie vorhergesehen haben.
Im Griechischen, der Originalsprache des Neuen Testaments, heißt es in der Offenbarung (Offb. 8, 10): „...und es fiel ein großer Stern vom Himmel, der brannte wie eine Fackel...“. Das Wort für „fallen“ bedeutet „schweben“ oder „sich niederlassen“, und das Wort für „Stern“ kann man übersetzen als „über den Himmel zerstreut“. Dieses stammt von einem anderen Wort ab, das heißt „sich ausbreiten“, wie ein Teppich – eine passende Beschreibung für die radioaktive Wolke, die sich über dem Gebiet ausbreitete. Interessanterweise kommt das Wort für „Fackel“ von einem griechischen Verb, das „strahlen“ bedeutet. Und das Substantiv dazu ist „Strahlung“.
Im elften Vers ist der Name des Sterns sogar groß geschrieben, wie der Name eines Ortes. Und was „den dritten Teil der Welt“ angeht, so war es bei den Griechen der ersten Jahrhunderte unserer Zeitrechnung verbreitet, mit „einem Drittel“ einen großen Teil zu beschreiben. Tschernobyl kann auch ein Sammelname für alle zukünftigen Tschernobyls sein. Egal wo so ein „großer Stern“ wieder fällt, die Zukunft des Landes wird dieselbe sein, Strahlung und Wermut – das Kraut des Vergessens.
Noch ein interessantes Detail: Die Bedeutung „Wermut“ für das Wort „Tschernobyl“ ist auf mysteriöse Weise aus unseren Wörterbüchern verschwunden. Das ist politische Richtlinie. Um Weltuntergangsstimmung zu vermeiden und weitere Reaktoren zu bauen, wurde dieses Wort aus den Wörterbüchern entfernt. Ich bezweifle, daß sie es schaffen werden, diese Episode aus unserem Gedächtnis zu löschen; das Wort wird immer noch alltäglich benutzt. Und wir wissen alle, daß nicht einmal sämtliche Regierungen der Welt, nicht einmal die reichen Schirmherren der allmächtigen Atomindustrie, Verse aus der Bibel löschen können.
Der Brotkorb
Landwirtschaft in der Ukraine
Das Gebiet der Ukraine ist ein bißchen größer als Frankreich. In Geschichtsbüchern wurde es als ein „Brotkorb Europas“ bezeichnet.
Die Ukraine verfügt über 40% der fruchtbaren „Schwarzen Erde“ der Welt.
Nikolai Gogol schrieb im 19. Jahrhundert: " Der Erdboden ist so gut in der Ukraine, dass ein Stecken den man in den Boden steckt anwachsen wird."
Jetzt wachsen aus dem Boden die Warntafeln. Der Brotkorb schmeckt nach Wermut.
Zumindest die Wildschweine fühlen sich gut jetzt. Niemand jagt sie. Genau wie andere einheimische Lebensmittel sind sie verstrahlt und es gibt keine Nachfrage.
Wilcha.
Wir sind am Bahnhof von Wilcha. Der letzte Personenzug hielt hier vor etwa 18 Jahren. Danach rumpelten nur noch die Güterzüge aus dem Atomkraftwerk hier durch.Wilcha war die viertgrößte Stadt im Gebiet von Tschernobyl. Sie liegt auf der Grenze zwischen der Ukraine und Weißrußland. Die Orte, an denen die Strahlung höher ist als im umliegenden Gebiet, heißen „Hotspots“. Hier liegt der Pegel der radioaktiven Isotope von Cäsium bei 60 Curie pro Quadratkilometer, das heißt, wir haben einen Hotspot erreicht. Die Stadt strahlt, und niemand lebt mehr hier seit 1986.
Hier schaut meine Ninja in die Fenster einer leeren Schule.
Wenn man nachts durch diesen verlassenen Ort reist, ist der Scheinwerfer des Motorrads das einzige Licht in der ganzen Stadt. Es fällt durch die leeren Tür- und Fensterhöhlen wie ein Röntgenstrahl. Nachts sieht man hier mehr als am Tage.
Tschernie bei Nacht
Tote Städte und Dörfer schlafen am Tage nur. Nachts erwacht hier alles. Überall bewegt es sich, raschelt... Frösche quaken.
Ortschaften, genau wie Menschen, scheinen sich aus dieser Welt in eine andere zu verabschieden, nachdem sie einer tödlichen Strahlendosis ausgesetzt waren. Wenn ich nachts durch Tschernobyl reise, überkommt mich immer das Gefühl, als wäre ich am gleichen Ort angekommen wie sie. Dann ist es schwer für mich mir vorzustellen, dass in dieser tiefen Stunde an anderen Plätzen das Nachtleben brodelt, Leute sich zujubeln, sich unterhalten oder tanzen.
Das muß einmal eine Metzgerei gewesen sein, auf dem Schild steht „Fleisch“.
Alpha, Beta, Gamma...
Ich bin eine Nachteule, und es ist schwierig für mich, Partner für Nachtfahrten zu finden. Jedes Mal, wenn ich Leute hierher bringe, fragen sie mich, warum wir hier in Tschernie Frösche überfahren und nicht irgendwo nett ein Bier trinken... Ich sage ihnen dann immer, daß zwei Schachteln Zigaretten in einer Kneipe ungesünder sind als nach Wilcha zu fahren. Meistens wollen sie nur schnell weg von hier. Die Leute denken, dieses Land sei verflucht.
Ich persönlich glaube nicht an die Geschichten über Mutanten oder den Schneemenschen von Tschernobyl. Für mich ist es ein interessanter Ort.
In den Außenbezirken von Wilcha zeigt mein moderner Hand-Geigerzähler „Inspector“ 109 mR/h an. Die Stadt liegt gut 45 Kilometer vom Reaktor entfernt, in der Richtung, in die die ersten radioaktiven Wolken zogen. Mein Freund der „Inspector“ mißt alle Arten von Strahlung, die dem Menschen bekannt sind. Jetzt ist es an der Zeit für eine einfache Lektion über Strahlungsarten.
Die, die einfach durch uns durchgehen, heißen Gammastrahlen; sie ist kumulativ, das heißt sie summiert sich, also kann man berechnen, wie gesundheitsschädlich sie ist. Gammastrahlung ist fast identisch mit Röntgenstrahlen. Röntgenstrahlung ist vom Menschen gemacht, Gammastrahlung ist natürlichen Ursprungs. Man nennt sie auch Höhenstrahlung. Jeder, der mit dem Flugzeug in großen Höhen fliegt, setzt sich einer Höhenstrahlung von 25 mR/h aus. Gammastrahlung ist die härteste Sorte Strahlung mit direkten Auswirkungen. Gammastrahlung ist wellenförmig. Sie wirkt etwa wie unsichtbare Gewehrkugeln und kann innerhalb von Stunden töten. Alpha- und Betastrahlung sind hingegen Teilchen und wirken wie eine Zeitbombe. Atmet man radioaktiven Staub, dringen sie in den menschlichen Körper ein, sammeln sich dort und explodieren ein paar Jahre später in Form von Krebszellen. Alphateilchen sind die schwersten dieser drei, Betateilchen sind extrem leicht, und Gammastrahlung hat gar keine Masse. Alphastrahlung legt nicht mehr als vier bis zwölf Zentimeter zurück, bevor sie aufgehalten wird; man könnte Billard spielen mit Kugeln aus reinem Plutonium. Die äußere Schicht unserer Haut aus abgestorbenen Zellen hält die Betastrahlung auf, daher wäre es sogar ungefährlich, mit Plutoniumkugeln zu jonglieren, solange man sie nicht aus Versehen verschluckt.
Wenn man in diesem Gebiet reist, wo der Strahlungspegel 100 mR/h nicht übersteigt, so bekommt man innerhalb einer Stunde dieselbe Gammastrahlendosis ab wie bei einem mehrstündigen Flug von Kiew nach London. Ich fliege nicht nach London, also kann ich nach Wilcha reisen und dieselbe geringe Strahlendosis einstecken.
Leider kann man die Alpha- und Betateilchen nicht zählen, die man einatmet, dabei stellen sie das Hauptrisiko dar. Im ersten Jahr nach der Katastrophe wäre es glatter Selbstmord gewesen, sich hier in einem offenen Fahrzeug zu bewegen; die radioaktiven Partikel liegen am Boden. Ich würde mich von meinen Schuhen verabschieden müssen, wenn ich hier durchs Gras gehen würde. Entsprechend würde ich meinen Geigerzähler kontaminieren und lahmlegen, wenn ich ihn eine der radioaktiven Oberflächen berühren lassen würde. Mittlerweile ist die Strahlung in den Boden gezogen, und der Strahlungspegel ist niedriger. Das Gute daran ist, daß man sich jetzt in diesem Gebiet ohne großes Gesundheitsrisiko bewegen kann. Das Schlechte ist, daß dieses Land inzwischen mit Radioaktivität durchtränkt ist. Das macht weitere Fortschritte in der Dekontamination unwahrscheinlich.
Heuzutage steckt die Strahlung in Gurken und Äpfeln, und ein Geigerzähler ist im Gemüseladen genauso nützlich wie hier. Ein großes Problem sind Pilze. Wir verzehren sechsmal so viele davon wie die meisten Amerikaner. Die Stoffe in den Pilzen sind schädlicher als Cäsium 137 (und der Cäsium-Level in den Pilzen hat sich noch nicht einmal so weit reduziert wie die Halbwertszeit von Cäsium 137).
Sei es wie es ist, genug mit der Wissenschaft, wir fahren bei Tageslicht weiter.
Ein weißer Fleck auf der Landkarte
An der Grenze heißt uns ein Schild in allen fünfzehn Sprachen der früheren Republiken der Sowjetunion willkommen. Manchmal mache ich Ausflüge hierher, nach Weißrußland. Die Straßen sind besser, und der Treibstoff ist billiger. Dieses Land pflegt gute Beziehungen mit Rußland und ist isoliert vom Rest der Welt. Viele Jahre lang lebte Weißrußland unter dem autoritären Regime von Präsident Lukaschenko. Er ist wie Fidel Castro, der ewige Präsident, nur ohne Bart.
Auf jüngeren Karten erscheint das Land der Wölfe wie eine Lücke. Verlassene Städte und Dörfer sowie die Straßen sind von der Karte gelöscht.
Die Verwaltung will verhindern, daß irgendwelche Sonntagsfahrer auf Straßen auftauchen, die umwelttechnisch womöglich nicht sicher sind.
Die Grenze ist breit. Es lohnt sich nicht, um das Land zu kämpfen. Wenn man die Hauptstraße verläßt und an der Grenze entlangfährt, passiert man tote Dörfer und weiß nicht einmal, zu welchem Land sie gehören.
Wir fahren, so weit die Straßen gepflastert sind, verlassen dann das Fahrzeug und gehen zu Fuß weiter. Hier muß man sich keine Sorgen machen, das Auto oder Motorrad zurückzulassen; hier wird es keiner finden. Die Chancen, hier jemandem zu begegnen, sind etwa so hoch wie in der Antarktis.
Ein Straßenschild gibt die Entfernung zum nächsten Dorf an.
Das ist ein Nistkasten. Die Stare sind schon lange ausgeflogen.
Die weißrussische Sperrzone heißt heute „strahlungsökologisches Waldreservat“. Die meisten Dörfer darin sind sehr abgelegen. Viele haben keine Straßen, und die einzige Möglichkeit, dorthinzukommen, ist mit einem Traktor oder zu Fuß.
Für den müden Wanderer gibt es überall Ruhebänke...
Oder wir können hier stehen und das Tschernobyl- Equivalent der Niagara-Fälle bestaunen. Das Strahlungsniveau ist hier gleich hoch wie in Kiew. Auf dieser Brücke zu stehen ist genauso sicher, wie auf irgendeiner in Venedig zu stehen. Aber man soll niemals vergessen, dass das hier Tschernobyl ist, wo man ein paar Meter weitergehen und einer unglaublich hohen, gefährlichen Strahlung ausgesetzt sein kann. Es existieren mehrere hundert unmarkierte Grabstätten radioaktiv verseuchten Materials in der Zone, und niemand weiß wo genau sich diese befinden. Die Menschen, die diese „Grabstätten“ errichtet haben, sind nun selbst begraben – mögen wenigstens sie in Frieden ruhen, wenn wir es schon nicht können. Zur Sicherheit muss der Geigerzähler immer eingeschaltet bleiben.
Schließlich kommen wir zum Dorf. Es trägt keinen Namen.
Es ist schwierig für mich zu beschreiben, was ich fühle, wenn ich in so ein Dorf ohne Menschen komme, aber ich versuche es. Zunächst ist da ein Gefühl, als wäre ich taub geworden. Die Stille ist erschreckend. Kein Vogelgesang, kein Wind, nichts kann diese Stille durchbrechen. Dörfer sind malerischer als Städte, die Häuser und Stallungen sehen unwirklich aus. Alles wirkt wie gemalt, und ich habe das Gefühl, in einem Gemälde herumzulaufen.
Smirnowka
Das ist das Dorfgemeinschaftshaus. Es war der zentrale Ort für Feste; hier traf man sich und schaute Filme.
Jetzt ist das Fest vorbei. Die Türen stehen weit offen, aber keiner geht hinein. In so einem geschlossenen Raum einem Wildschwein zu begegnen, wäre gefährlich.
Auf dem Dorf sagt man: Wenn du dich nicht um dein Haus kümmerst, fällt es auseinander. Das ist offenbar korrekt.
An vielen Orten zeugt nur noch flüchtiges Gekritzel auf Holzkreuzen von dem blühenden Leben, das einmal hier war. Viele der Angehörigen, die für sie gebetet haben, liegen jetzt wahrscheinlich auch hier.
Ich habe dieses Dorf vor ein paar Jahren entdeckt; auf der Karte konnte ich es nicht finden, aber der Dorffriedhof berichtet, daß seit etwa 1800 bis 1986 alle Leute, die hier gelebt haben, Smirnow hießen.
Es muß eine Art religiöse Gemeinschaft gewesen sein, wo Brüder und Schwestern heiraten und alle denselben Familiennamen tragen.
Ich zeichnete das Dorf auf meiner Karte ein und nannte es Smirnowka. So ähnlich heißt ein berühmter Wodka. Wer weiß, ob es eine Verbindung gab zwischen den Leuten aus diesem Dorf und den Herstellern von Smirnoff-Wodka?
Ich werde es nicht erfahren; hier gibt es niemanden, der mir die Frage beantworten könnte.