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FACTS/ 28.08.1997
Zeitungs-Nummer: 35
Seite: 112

Die nebensächlichste Hauptstadt der Welt



Langsam, gemütlich, beschaulich. Das ist das Klischee. Doch Bern ist noch langweiliger. Sogar die Kultur, einst Stolz der Bundesstadt, hat ihre nationale Ausstrahlung verloren. Eine Stadt schlurft in die Bedeutungslosigkeit.

Autor: Von Bänz Friedli, Ralph Pöhner und Thomas Widmer

Hueresiech, diese Raver!» Dunkel ist es am Holztisch im «Café des Pyrénées», derweil draussen die Mittagssonne auf die Altstadt brennt. «Die wollen nur Fun. Die amüsieren sich noch zu Tode», schnödet der Altfreak im Jeanshemd. Sein bärtiger Kollege nickt. «Saufen den ganzen Tag Red Bull.»
«José, no nes Halbeli.»
Die Szene könnte aus einem Bernfilm von Clemens Klopfenstein stammen - doch sie trägt sich zu, während in Zürich eine halbe Million Raver Street Parade feiert. Im verqualmten «Pyrénées» treffen sich die Siebenschläfer wie jeden Samstag zum gemeinsamen Grummeln. Was anderswo läuft, wird mit abfälligen Worten bedacht. Draussen dämmert die Grossstadt mit dörflichem Charme.
Eine Stadt zelebriert den Stillstand. Langsam, gemütlich, behäbig: Bern.
Keiner ihrer Politiker ist eine nationale Figur; Warenhaus-Patron François Loeb spielt als FDP-Nationalrat höchstens die Rolle des kauzigen Exoten, SP-Kollege Alexander Tschäppät jene des urigen Berufsberners. Kein Unternehmen der Stadt hat Weltrang; der grösste Industriekonzern am Ort, die Telekommunikationsfirma Ascom, schrieb zuletzt rote Zahlen.
Berns ganzer Stolz ist die Kultur. Doch die zehrt von vergangenem Ruhm. Da ist nichts an Neuem, das über die Region hinaus wahrgenommen werden müsste. Junge Autoren fehlen ebenso wie neue Talente in der bildenden Kunst. Das Verlagswesen darbt. Der Berner Film döst. Den Theatern fehlt es vollends an nationaler Ausstrahlung. Das Design hat die siebziger und achtziger Jahre verschlafen. Und der Berner Rock müffelt auch schon.
«José, no nes Halbeli.» Die treuen Trinker im «Pyrénées» suckeln am Rotweinglas, als söffe LSD-Guru Timothy Leary am Nebentisch mit, als wäre überhaupt alles noch wie einst: Die Kellertheater irritieren international, Christo verpackt vor den Augen der Welt die Kunsthalle, Kurt Marti befreit das Berndeutsche aus dem bbluemete Trögli, Mani Matter revolutioniert das Schweizer Songschaffen, das erste Alternativkino der Schweiz, das «Kellerkino», öffnet in der Kramgasse, Rockgöttin Patti Smith spielt und spricht im Garten des Kunstmuseums. Und die Berner Young Boys werden unter dem Präsidium des Interdiscount-Gründers Ruedi Baer Schweizer Fussballmeister und Cupsieger.
Vorbei. Baers Interdiscount ist pleite, YB kickt in der Nationalliga B. In der Kunsthalle finden keine elektrisierenden Happenings mehr statt, die Kellertheater sind vergessen, Timothy Leary ist tot, Mani Matter auch. Das «Pyrénées» ist längst nicht mehr Nabel einer Avantgarde-Welt.
Bleibt nur noch Nabelschau. Berner Filme zeigen die Stadtoriginale Max Rüdlinger und Polo Hofer beim Palavern, handeln von Kräutern und Kräften im Emmental oder, wie das jüngste Projekt Norbert Wiedmers, vom Hornussen.
Man ehrt halt, was man hat: Der städtische Sisyphuspreis geht ans unlustige Theaterfestival «Aua wir leben», das die multimedialen Trends ignoriert. Den Buch-Förderpreis erhält diese Woche ein Raeto Meier, dessen Aussenseiter-Lebensbeichte Sympathie verdient, nicht aber eine literarische Auszeichnung. Vorbei die Zeiten, da einer wie Dürrenmatt prämiert werden konnte. Heute fehlt es an Autoren, um Jahr für Jahr die rund fünf Buchpreise loszuwerden. Da liegt für die lokale Feuilletonprominenz, Professoren oder Übersetzer schon mal ein Schnäppchen zwischen 5000 und 8000 Franken drin.
Eine Stadt kommt nicht mehr ganz mit. Bern ist die nebensächlichste Hauptstadt der Welt und jene Schweizer Grossstadt, deren Bevölkerung in den letzten fünfzehn Jahren am ärgsten schrumpfte; im März rutschte die Einwohnerzahl erstmals seit dem Zweiten Weltkrieg unter 130 000. Die jüngste Wirtschaftskrise traf kaum eine andere Gegend der Deutschschweiz so hart. Berns Steuersatz für natürliche Personen liegt weit über dem Landesdurchschnitt.
Viele Flaggschiffe des lokalen Business werden längst von fern gesteuert. Ovomaltine und Isostar gehören Novartis in Basel, die Toblerone den Amerikanern von Philip Morris. Die Volksbank-Filialen gingen im Credit-Suisse-Konzern auf, Von Roll giesst in Bern schon lange keinen Stahl mehr. Die «Berner Zeitung» ist zu 49, der marode «Bund» gar zu 90 Prozent in Zürcher Hand. Das Gurtenbier kommt seit Frühjahr aus Rheinfelden.
«Henusode», sagt der Berner achselzuckend: Seis drum.
Dafür erhielt Bern soeben den Wakker-Preis - für die gelungene Umnutzung alter Fabrikbauten. Abgewirtschaftet haben auch die Verlage. Serienkonkursit John Erpf kassiert öffentliche Gelder für Bücher, die er nie publiziert. Der Zytglogge Verlag hält sich mit Zufallstreffern über Wasser, etwa den Memoiren der Bundeshaus-Prostituierten Susanne D. Berns literarisches Quartett - Kurt Marti, Lukas Hartmann, Christoph Geiser, E.Y. Meyer - publiziert auswärts.
Künstlich beatmet wird das serbelnde Literaturleben von zwei Grossbuchhandlungen, Jäggi und Stauffacher. Auf Kundenfang überbieten sie sich mit hochkarätigen Lesungen. Nur ist die Stadt zu klein dafür. Der deutsche Autor Uwe Timm lud, statt vorzutragen, kurzerhand das gesamte Publikum zum Essen ein: Drei Personen waren gekommen.
Henusode. Was bleibt, ist Gemütlichkeit. José bringt noch ein Halbeli. «Bern ist ein einprägsames Gefängnis», sagt Autor Paul Nizon, der vor zwanzig Jahren nach Paris ausbrach. «Spick mi furt vo hie!» ist zwar der meistbesungene Topos des Berner Rock. Doch wer sich mit dem Dableiben bescheidet, dem bietet die Aareschlaufe Geborgenheit.
Und wer nicht in der Sandsteinkulisse bequem werden will, muss gehen. Tanzstar Anna Huber lebt in Berlin, Matthias Zschokke schreibt ebenda. Christoph Schertenleib filmt in Wien. Karoline Schreiber zeichnet in Zürich. Stefan Kurt schauspielert in Hamburg. Bendicht Fivian malt in Winterthur. Philip Fankhauser bluest in den USA. Und Stephan Eicher singt überall, nur nicht in Bern.
Hier kommt hingegen gross heraus, wer von aussen kommt - und dort im Durchschnitt dümpeln würde. Stadttheater-Direktor Eike Gramss, dem in Krefeld-Mönchengladbach niemand nachweint, hält in Bern seit 1991 als Bühnenmonarch Hof. Für Sprüche wie «Theater muss nicht zeitgemäss sein» honorierte ihn das devote Verwaltungsgremium mit einer Vertragsverlängerung bis ins Jahr 2004.
Die Stadt will keine kecken Spielpläne mehr. Gefragt sind opulente Klassiker wie «Faust II» in der jüngsten Saison. «Das Berner Publikum ist viel kulinarischer geworden, weniger politisch», sagt der Dramaturg Urs Bircher, der das Stadttheater in den frühen achtziger Jahren zu einem letzten Höhepunkt führte. Undenkbar, dass dieses Publikum mit Risikofiguren in die Zukunft aufbrechen würde wie demnächst Basel mit dem frechen Jungregisseur Stefan Bachmann und Zürich mit dem innovativen Christoph Marthaler.
Auch Gramss hatte bei Amtsantritt noch Visionen. Er verspach ein externes Haus fürs Schauspiel und eine Bühne fürs Kindertheater. Stattdessen schloss er den einzigen Hort neuzeitlichen Theaters, die Stadttheater-Mansarde. Keiner erinnert ihn heute an seine Ankündigungen.
Geschliffene Grossmäuler beeindrucken eben im wortkargen Bern. Der Deutsche Norbert Klassen kassierte seit den siebziger Jahren eine runde Million Steuerfranken als Subvention für immer gleiche Performances. Design-Schnorrer Luigi Colani bluffte, er mache Bern zum Nabel der Welt; flugs organisierte ihm die Stadtregierung ein Atelier. Danach landete der windige Aerodynamiker von Zeit zu Zeit auf dem Belpmoos und kündigte bombastische Projekte an, die er nicht verwirklichte, bevor er 1991 auf Nimmerwiedersehen abdüste.
Bezeichnend auch, dass der Finanzhasardeur Werner K. Rey seine Omni Holding in Bern ansiedelte. Und dass nach dem Omni-Bankrott die Kantonalbank als drittgrösste Gläubigerin dastand: Das Debakel kostete jeden Berner, jede Bernerin via Staatsgarantie 140 Franken.
Henusode. Kapitalismus war nie eine Berner Spezialität. Pfründenwirtschaft, lukrative Staatsämter, Ausbeutung der Landschaft - dies reichte den Eliten im Alten Bern, einem mächtigen Stadtstaat mit eigener Flotte auf dem Genfersee. 1798 kam die Moderne als Katastrophe von aussen. Napoleons Truppen stürzten das Ancien Régime und entführten dessen Goldschatz.
Bis heute hadert Bern mit der Neuzeit, die mit dieser Demütigung begann. Eine bürgerliche Revolution von innen gab es nie, dynamische Unternehmer blieben rar. «Syt dir öpper, oder nähmet dir Lohn?» Der legendäre Spruch der 1980 verstorbenen Patrizierin Madame de Meuron dokumentiert den Dünkel gegenüber moderner Wirtschafterei.

Ein Dünkel, der auch das Kulturverständnis prägt. «Effizienz und Dynamik sind nicht gefragt, der Markt darf keine Rolle spielen», sagt ein Zürcher in Bern, der Filmproduzent Rolf Schmid. Erfolg ist anrüchig, wird gar bestraft. Christoph Schertenleibs Filmkomödie «Liebe Lügen», von Schmid produziert, erreichte 1995 über 100 000 Zuschauer - endlich ein Berner Film mit Signalwirkung im ganzen Land. Doch die kantonale Filmkommission misstraute der Popularität und verlieh den Filmpreis Felix Tissis blassem und vom Markt ignorierten Gauklerstück «Schlaraffenland».

Der Kult ums Kleine ist Programm. Was in jeder Hauptstadt der Welt eine nationale Prunkallee ist, heisst in Bern «Bundesgasse»; und sieht auch so aus. Es wimmelt von «Gässli» und «Brünnli». Seit die Young Boys in der Nationalliga B kicken, haben sie den höheren Zuschauerschnitt als seinerzeit bei den Grossen. Man hat das Halbeli gern.

Gewiss, das Kleine kann Feines hervorbringen. Die Minimalformation Stiller Has erfasste die skurrile Lebensart Berns, dieses Wiens der Voralpen, in dadaistischen Rockminiaturen. «Bern mag rückständig wirken. Doch das Publikum ist auch viel offener für «Kurliges» als im versnobten Zürich», sagt Theatermann Bircher. Und der Rest der Schweiz liebt Berns Hang zum Kuriosen, schwelgt in den morbiden Balladen seiner traurigen Clowns, schwärmt von der schönen Altstadt und ihren prägnanten Bewohnern.

Die Romantik von aussen wirkt innen fatal, sie zementiert das Klischee. Stiller Has sind auf den jüngsten Platten Geiseln der einst parodierten Behäbigkeit geworden. Ihre Bernkritik kippt in Berntümelei.

Dieselbe Versöhnlichkeit dominiert das politische Bern. Als der stadtbekannte Freak und bekennende Linke Peter Anliker vor einem Jahr Aufnahme in die Burgergemeinde begehrte, öffneten die Patrizier dem Sozi bereitwillig ihre Reihen. Es sind alle so nett. Während die grüne Stadtberner Finanzdirektorin Therese Frösch und der Könizer SP-Gemeindepräsident Henri Huber neulich ein besetztes Gebäude auf dem Hausberg Gurten räumen liessen, greinten sie unisono in die Lokal-TV-Kameras, wie Leid ihnen die jungen Leute täten: «Dir chöit sicher sy, mir hei nid guet gschlafe.»

Auch die Sozialpartner verstehen sich besser als andernorts. «Man redet miteinander», sagt Arbeitgeber-Sekretär Claude Thomann. «Gehässigkeiten haben wir in Bern nicht.» Eine Streitkultur fehlt.

Lieber noch ein Halbeli. Wer sich der Liebenswürdigkeit ergibt, bekommt dafür Familienanschluss. Das heisst: lebenslänglich. Rock-Outlaw Housi Wittlin spielt seinen Gassenhauer «I bi bir Polizei - aber nume ir Kartei» an der Hochzeit des Polizei-Pressesprechers. Künstler und Intellektuelle schmücken sich beim Besuch im Bronco-Klub mit dem Ruch von Freiheit und Abenteuer. «D Brönggle» nennt man liebevoll die Rockerbande, die ihn betreibt. Dass sie auch schon für den Spekulanten Jürg Stäubli Häuserbesetzer aus einer Liegenschaft prügelte, wird verdrängt. Henusode, man kann sich sowieso auf Dauer nicht aus dem Weg gehen. Zu eng die Winkel des Mattequartiers, zu klein die Stadt zwischen Wankdorf und Gäbelbach.

Die soziale Mitte dominiert, Bildungsbürgertum und Beamtenstand nivellieren Bern. Diese Verfilzung der Stände wird jährlich am Jazzfestival gefeiert, wo Bankprokurist und Althippie, Jusstudent und Grossrätin im «Kursaal» traut vereint mittelmässige Musik konsumieren mit einem Schuss schwarzer Exotik. Auch das sozialdemokratische Oberhaupt findet es «schampar glatt». Hier ist er jemand, der unbekannteste Stadtpräsident im Land. Er nennt sich selbst «der blonde Bär». Er heisst Klaus Baumgartner.

Die Betulichkeit endet, wenn jemand das Mittelmass sprengt. Gret Haller, eine streitbare SP-Politikerin, brach als Schuldirektorin nach harten Polizei-Einsätzen gegen Demos mehrmals das Kollegialitätsprinzip und beherrschte obendrein als Zürcherin das örtliche Idiom nicht. Zu viel für Bern; Haller wurde 1988 abgewählt. Heute ist sie Ombudsfrau in Sarajewo.

Brave Aussenseiter dürfen auf die Unterstützung der patrizischen Oberschicht zählen. Die Untertanen schlugen ihren Herren nie die Köpfe ab, und die zeigen sich bis heute erkenntlich: Bernburger und Underground sind mannigfaltig verschlauft. Die Burgergemeinde, eine der mächtigsten Korporationen im Land, kompensiert als klassische Mäzenin die Absenz kapitalkräftiger Sponsoren. Selbst die Berner Tanztage erhielten den mit 100 000 Franken dotierten burgerlichen Kulturpreis - viel Geld für ein unabhängiges Festival, das als aufgeweckter Event mit schrillen Happenings wie einem Hubstapler-Ballett aus der Schläfrigkeit tanzt.

Doch, doch, es lebt sich komfortabel in Bern. Die Aare, von keinen Industrieabwässern verschmutzt, ladet zum Bade. Vom Rosengarten geht der Blick auf die Altstadt. Idyllisch wirkt sie von oben; dass sie zum urbanen Ballenberg ausgehöhlt ist, sieht man nicht. In den Beizen - vom rauchigen «Ringgenberg» bis zum Veteranentreff «Drei Eidgenossen», vom szenigen «Aarbergerhof» zur coolen «Lorenzini»-Bar - findet man ein Stück Heimat.

Die Schweiz restrukturiert sich im Schnellzugstempo, im schönen Bern aber sind die Bewohner kaum interessiert, in einer verschärften Moderne anzukommen. Den verslumten Bahnhof, wo ihnen Junkies und Bettler die Gegenwart aufdrängen, lassen die Berner am liebsten hinter sich und eilen unters Gewölbe der Altstadt. Dort stimmt das Tempo wieder, denn wer unter den Lauben eilt, der stört.

«José, no nes Halbeli.»

Über keine andere Schweizer Stadt werden so viele Bücher publiziert. Reine Binnenliteratur ist das, nicht gedacht für den Export. «Bernensia» heisst die Gattung, worin es ums Marzilibad geht oder um Berner Beizen, um Dialektausdrücke oder Sagen, um Brunnenfiguren oder die wilden Sixties in der Kunsthalle.

Noch immer dreht sich alles um jene Heroen, deren Kunst Mitte der sechziger Jahre Bürger und Burger schreckte: Markus Raetz, Ueli Berger, Franz Gertsch, Christian Megert. Das Architekten-Kollektiv Atelier 5 variiert seit 38 Jahren seine damals wegweisende «Halensiedlung». Neue Berner Design-Leistungen? «Seit der Toblerone wurde nichts mehr weltberühmt», sagt der Direktor des Design Center Langenthal, Christian Jaquet.

Junge Kunst fehlt weitgehend. «Eigentlich wäre hier Platz, um auf spektakuläre Berner Underground-Events einzugehen», klagt das Szeneheft «Soda» in seiner neusten Ausgabe. «Leider aber wurde uns in letzter Zeit nichts (gar nichts) zugeschickt.» Also empfiehlt «Soda» die Documenta in Kassel.

Der 68er Bruch war prägend. Aus dem Tränengasnebel der achtziger Unruhen jedoch gingen in Bern keine nationalen Leitfiguren wie Pipilotti Rist hervor. Wurden andernorts die Sammelplätze der bewegten Jugend - Usine Genf, Kaserne Basel, Rote Fabrik Zürich - zu urbanen Kulturzentren, schmort die Berner Reitschule im alten ideologischen Saft. Es gibt kein Coca-Cola, da imperialistisch, dafür sind die Wände voller Sprüche aus dem revolutionären Aktivdienst: «Fertig mit Diskriminierung», «Frauen wehrt euch», «Betongrau ist halb so schlau».

Nüchterne Bilanz des Berner Filmemachers und Kulturjournalisten Bernhard Giger: «Entscheidende kulturelle Impulse gingen von den in den achtziger Jahren erkämpften, von der Polizei niedergewalzten und wieder besetzten alternativen Freiräumen nicht aus.»

Zwischen Gegenwart und Zukunft entscheidet sich Bern immer wieder für die Vergangenheit. Der Zytglogge Verlag strich 1996 sein Rocklabel mit progressiven Bands aus Basel und Zürich und besann sich auf «traditionelle Stärken»: auf dröge Liedermacher. Auch Berns andere Plattenfirma, Sound Service, will das Geschäft künftig auf die alten Kämpen konzentrieren: Polo Hofer, Züri West, Stiller Has.

Das ist wenig visionär und wirtschaftlich gefährlich. Berns Mundartrock hat seinen Zenit schon vor fünf Jahren überschritten: 1992 belegten Hofer, Span, Patent Ochsner, der Sampler «MatterRock», Stephan Eicher und Züri West vorderste Hitparaden-Plätze und verkauften insgesamt gegen 400000 Berner Platten. Das Rekordjahr wird sich nicht wiederholen, da das Genre an Ort tritt. Selbst die Nachwuchs-Rapper Merfen Orange und G-Punkt bedienen sich der Muster, die Übervater Matter vorgab.

Echt junge Musik verschafft sich andernorts Gehör. Berns erster Techno-Sampler, «Berne Electronic», erscheint dieser Tage bei einer Zürcher Firma. Übers Wochenende flüchtet die Jugend aus der Stadt: In Thun pulsieren auf dem ehemaligen Selve-Industrie-Areal Techno-Discos. In Biel blühen House und Hip Hop. Die Kantonshauptstadt selber verfehlt es, Zeichen zu setzen. Die Einrichtung eines Paul-Klee-Museums verschlafen Behörden und Kunstmuseum seit Jahren. Berns Kulturbeamte erarbeiteten zwar ein wegweisendes Kulturkonzept für die Region, vergassen ob der Fleissarbeit jedoch dessen politische Umsetzung: Die Gemeinden um Bern weigern sich, jene Beträge in ihre Budgets aufzunehmen, welche sie ans kulturelle Leben der Zentrumsstadt entrichten sollten.

Henusode. Auf der Kirchenfeldbrücke, mit Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau, bleibt das Tram plötzlich stehen. «Luegit jitz emal die Bärge», sagt der Fahrer über Lautsprecher. «Isch das nid schön?»

Berns ganzer Stolz ist die Kultur. Doch die zehrt nur von vergangenem Ruhm.

Wer nicht in der Sandsteinkulisse bequem werden will, muss gehen.

Die Betulichkeit endet, wenn jemand das Mittelmass zu sprengen droht.

Bern entscheidet sich zwischen Gegenwart und Zukunft für die Vergangenheit.

bbluemetS trögli

Es wimmelt von Gässli und Brünnli und Blumen. Kein Wunder, wird Bern als romantisches Städtchen wahrgenommen. Und die Berner tun alles, um das ländliche Klischee zu zementieren.

lauben

Die heimeligen, auch beengenden Gewölbe der Altstadt bestimmen das Tempo. Wer unter den Lauben eilt, stört.

marzilibad

Beamtenordnung - selbst im Aarebad mit Blick aufs Bundeshaus.

reithalle

Das autonome Relikt der achtziger Jahre schmort im alten ideologischen Saft.

münster

Der Kult ums Kleine ist Programm. Selbst der Münsterturm ist zu klein geraten.

rathaus

Hier tagen das Kantons- und das Stadtparlament. Eine Streitkultur fehlt, Versöhnlichkeit dominiert.

ALTSTADT

Der schöne Schein trügt: Historisch sind nur die Fassaden - die meisten Häuser der Berner Altstadt sind ausgehöhlt.

Das waren noch Zeiten - als von Bern Impulse ausgingen

1942.

Seine Studentenbude im Berner Laubegg-Quartier verziert der junge Friedrich Dürrenmatt mit dem «Antlitz der Medusa».

1953.

An der Kramgasse 6 öffnet Berns erstes Kellertheater, wo später Ionescos «Cantatrice chauve» deutsch uraufgeführt wird.

1955.

Mitte der fünfziger Jahre begründet Reformpädagoge Fritz Jean Begert (links) den subkulturellen Zirkel «Kerzenkreis».

1960.

Bern entdeckt für Europa den US- Abstraktionismus. Der Maler Sam Francis (Mitte) hat Vernissage in der Kunsthalle.

1968.

Eine Generation junger Künstler wie Bendicht Fivian (Bild) macht unter Kunsthalledirektor Harald Szeemann Furore.

1968.

Wieder die Kunsthalle: Künstler Christo macht im Rahmen von «12 environments» seine erste grosse Verpackung.

1969.

Joseph Beuys installiert in der Kunsthalle eine «Fettecke». Die Presse schreibt: «Stumpfsinn!» Das waren noch Zeiten - als von Bern Impulse ausgingen 1969. Beitrag zur Ausstellung «Leben im Kopf»: Vor der Kunsthalle brennen Militärkleider. Die Feuerwehr löscht. 1969. Die Bürger schlagen zurück: ein Misthaufen vor der Kunsthalle als Protest gegen die Ausstellung «When Attitudes Become Form». 1969. Der Troubadour Mani Matter revolutioniert das Schweizer Songschaffen. 1971. Nackt aufs Wahlplakat: «Härdlütli»-Spontis mit Polo Hofer (oben rechts). 1972. Sergius Golowin, Esoterik-Pionier und lokaler Szene-Guru (links), empfängt in Bern sein amerikanisches Vorbild, den LSD-Ideologen Timothy Leary. Das waren noch Zeiten - als von Bern Impulse ausgingen 1976. Rumpelstilz erfinden den Mundartrock und popularisieren das Kiffen. 1977. Love, Peace & Happiness auf dem Berner Hausberg: Das erste internationale Folk-Festival zaubert Hippie-Romantik auf den Gurten. 1977. Der letzte Schauspiel-Star am Berner Stadttheater: Charakterdarsteller Hans-Heinz Moser. 1979. Kurt Marti, Begründer der «modern mundart»-Literatur, erhält den Buchpreis der Stadt. 1979. Nationaler Skandal - Tinu Heiniger hämt gegen Trio Eugster: «Unterhaltigsbrunz». 1979. Rockgöttin Patti Smith gastiert im Garten des Kunstmuseums. Den Berner Fotorealisten Franz Gertsch inspiriert sie zu überlebensgrossen Porträts. Das waren noch Zeiten - als von Bern Impulse ausgingen 1980. Züri brännt, und der heisse Sommer greift auf Bern über. «AJZ subito!» Bewegte Jugendliche besetzen zum ersten Mal die Reitschule. Später rocken hier Züri West. 1983. Der Brunnen der Bernerin Meret Oppenheim wird zum Politikum. 1983. Eines der letzten Highlights des Berner Filmschaffens: Mathias Gnädinger ist «Der Gemeindepräsident» in Bernhard Gigers Politfarce. 1987. Stadtkrieg: Die polizeiliche Räumung des Hüttendorfs «Zaffaraya» setzt Berns letztem Aufbruch ein Ende. Kunstschaffen Traurige Gestalten im letzten Tram Melancholisch und morbid. In Liedern, Filmen und Büchern aus Bern wimmelt es von Toten und Scheintoten. «General-Guisan-Platz, Mili-tärgarten, Schützengarten, Viktoriaplatz, Henkerbrünnli, Galgefäld, Friedhof, Chindlifrässer - und überhoupt», fragt Polo Hofer in seinem Song «Im letschte Tram», «wieso hei alli Haltstelle söttigi Näme?» Moder, Morbidität, Mordgeruch wächst aus Berns Melancholie. Altmeister Mani Matter pointierte das lähmende Lebensgefühl einer Stadt, «wo d Züg geng scho abgfahre sy oder no nid sy cho», schon vor drei Jahrzehnten: «Warum syt dir so trurig?», fragte er und stellte in einem anderen Lied lakonisch fest, dass er an einer Sackgasse wohne, die zum Friedhof führt. Keine Schweizer Stadt zählt so viele Literaturtote. Dass der TV-Krimi «Tatort» in Bern spielt, scheint selbstverständlich. Patent Ochsner besingen Bern als «scheintotenstill».
Es «tötelet» in der grauen Berner Altstadt. Wenn, wie Züri West singen, die halbe Stadt vor dem Fernseher einschläft, schlägt die Gemütlichkeit in Langeweile um, die Langeweile in Leere, und die Leere in gespenstische Stille. Dicht hängen die Nebel im Herbst über der Aareschwelle. Die Münsterplattform ist der berüchtigste Suizid-Schauplatz des Landes.
Berns Kulturschaffende beschreiben mit Vorliebe Depression. «Winterstadt» hiess Bernhard Gigers Bernfilm, Züri West besingen Stimmungen, die einen frösteln: «I dire Loge isch es chalt, d Mieti isch nid zahlt, es rägnet oder schneit, es isch zähni, du ligsch gäng no im Bett, du hesch Chopfweh u bisch müed.»
Die Trutzburg aus Sandstein treibt ihre sensiblen Insassen nicht selten in die Verzweiflung und in den Irrsinn. Oft besungen und verfilmt, warf Berns berühmteste Legende, der traurige Spassmacher Dällebach Kari, seine Nähmaschine von einer Aare-Brücke und sich selbst hinterher.
Berns Helden sind tragische. Sie landen in der Psychiatrischen Klinik Waldau am Stadtrand, «zwüsche Lideschaft u Oschtermundige», wie Bluespianist Chlöisu Friedli den Ort besang, und am Ende steht der Freitod. Friedli nahm sich 1981 das Leben. «Wohäre geisch, i chume jitz grad mit dir, Meitli», hatte er wenige Wochen zuvor noch in einer Sehnsuchtballade gesungen.
Vom Weggehen zu träumen und dann doch nicht loslassen zu können, das ist der bernische Eskapismus. Das Berner Rockschaffen ist gespickt mit Ausbruchs-Fantasien. «Spick mi furt vo hie», flehen Patent Ochsner, Stiller Has wünschen: «Intercity, nimm mich mit.» Züri West sehnten sich 1985 nach Weite: «U wenn i z Bärn am Fänster stah u d Sunne grad im Meer versinkt...» Und Polo Hofer beschwört sein «Zigünerhärz»: «Was i hie so vermisse, das chani hie ja doch nie ha. Überhoupt i gspüre nes Riisse, bi mir faht ds Fernweh wieder aa.»
Doch das Fernweh ist zugleich Heimsucht, der Berner, wehleidig und larmoyant, bleibt hocken. «Mir wäre fasch ggange», umriss Züri-West-Texter Kuno Lauener das Gefühl präzis, «aber du oder i ha plötzlech gseit: Es schiisst mi aa.»
Der einzige Mundartrocker, der wirklich ging, Dänu ExTrem, versicherte später aus dem dänischen Exil: «Bärn, i ha di geng no gärn.» Dänu Siegrist lebt zwar in Basel, stellt im Titel «Wieder daheim» aber beruhigt fest, dass bei seinen Bern-Besuchen immer alles noch beim Alten ist.
MIT VORLIEBE DEPRESSIV: Film «Winterstadt». TRAGISCHE HELDEN: Blueser Chlöisu Friedli. Wirtschaft Dynamik fehlt auf der Bernerplatte Sogar hier stimmt das Vorurteil: Berns Wirtschaftswachstum ist langsamer als der Landesschnitt. Ein Strukturproblem.
Als die Wirtschaft in der Schweiz den Schnupfen bekam, kriegte Berns Wirtschaft die Grippe: Bern zählt zu den fünf Kantonen, die von der Flaute der letzten Jahre am härtesten getroffen wurden. Seit 1990 fiel sein Wirtschaftswachstum regelmässig tiefer aus als im Landesschnitt. Jetzt strebt die Schweizer Konjunktur wieder sachte nach oben - Berns Kantonswirtschaft humpelt weiter hinterher.
1997 werde das Bruttoinlandprodukt im Bernbiet knapp halb so steil steigen wie im gesamten Land, prognostiziert die BAK Konjunkturforschung AG, Basel; und die geringere Dynamik werde bis weit übers Jahr 2000 anhalten.
So etwas hat Folgen. Noch zu Beginn der achtziger Jahre wies Bern das zehnthöchste Pro-Kopf-Einkommen der Schweiz aus - inzwischen ist der Kanton auf Rang 16 abgesackt. Das Einkommen liegt bei 39 000 Franken, 47 Prozent tiefer als im Spitzenkanton Zug und 12 Prozent tiefer als im Landesschnitt.
Berns Wachstumsschwäche fusst in der Struktur. Dynamische Branchen sind dünner gesät als im helvetischen Schnitt: Chemie oder Elektronik, Banken oder Versicherungen sind keine Spezialitäten der Bernerplatte. Präsenter wirken dagegen Zweige ohne viel Schwung - so etwa Bau, Nahrungs- und Genussmittel oder Tourismus. Und nicht zuletzt die immer noch sehr bedeutende Landwirtschaft.
Kurz: Berns Wirtschaft ist vergleichsweise weniger produktiv, weniger wettbewerbsfähig - und eher arbeitsintensiv. Was immerhin dazu beiträgt, dass Bern bei der Beschäftigung gut dasteht: Die Arbeitslosenrate liegt momentan bei 4,3 Prozent, verglichen mit 5,0 im Landesschnitt. Stützend wirkt dabei, dass die Staatsquote - Bundesverwaltung sei Dank - besonders hoch ist. In Zahlen: Fast ein Drittel des Volkseinkommens kommt von der öffentlichen Hand.
Doch Bern war noch nie ein Industriekanton, und die Stadt war nie ein pulsierendes Businesszentrum. Selbst Traditionsfirmen der städtischen und kantonalen Wirtschaftsgeschichte - wie Tobler oder Wander - sind industriehistorische Spätzünder. Gemessen am Umsatz ist die Fenaco-Gruppe das grösste Privatunternehmen der Stadt - ein Zusammenschluss von 555 landwirtschaftlichen Genossenschaften, der 3 Milliarden Franken umsetzt. Die wichtigste Industriefirma, der Telekommunikationskonzern Ascom, bucht 2,9 Milliarden Umsatz; das ist gut halb so viel wie Sulzer in Winterthur. Auf Rang drei folgt Valora, ein traditioneller Mischkonzern mit Standbeinen im Kiosk-, Detailhandels- und Matratzenbereich.
Dringend gesucht werden in Bern die Zukunftsindustrien. Im November 1996 zündete die Kantonsregierung ein Aktionsprogramm. Zuvor hatte der Kanton den «Espace Mittelland» lanciert, worin sich Bern weltweit als idealer Standort für Informatik und Medizinaltechnik vermarkten will - gemeinsam mit Freiburg, Solothurn, Neuenburg und dem Jura. In der Informatik ist «Espace» bereits die zweitstärkste Region im Land.
Die Stadt Bern setzt zudem auf Telekommunikation (bereits Ascom und Telecom); die Beamtenstadt will Kommunikationsstadt werden. Derzeit entfallen von ihren 144 000 Arbeitsplätzen 12 000 auf Telekommunikation und Informatik. Zum Vergleich: Die öffentliche Verwaltung bietet in der Stadt Bern 18 000 Jobs.
WIRTSCHAFTSWACHSTUM IM VERGLEICH: Bern hinkt der Schweiz hinterher.
Paul Nizon «Eine in sich selber zirkulierende Stadt» Ungemütlich gemütlich. Schriftsteller Paul Nizon hat Bern vor Jahren den Rücken gekehrt. Den Entscheid bereut er nicht. FACTS: Sie leben in Paris. Wie empfinden Sie Bern, wenn Sie es besuchen? PAUL NIZON: Bern ist für mich zum einen die intakte Insel meiner Kindheit, eine Art inneres Museum. Zum anderen ist diese Stadt ein einprägsames Gefängnis. Bern kann bedrücken. Ich möchte dort nicht mehr leben. Die Stadt hat so eine Gemütlichkeit.