Ein Dünkel, der auch das Kulturverständnis prägt. «Effizienz und Dynamik sind nicht gefragt, der Markt darf keine Rolle spielen», sagt ein Zürcher in Bern, der Filmproduzent Rolf Schmid. Erfolg ist anrüchig, wird gar bestraft. Christoph Schertenleibs Filmkomödie «Liebe Lügen», von Schmid produziert, erreichte 1995 über 100 000 Zuschauer - endlich ein Berner Film mit Signalwirkung im ganzen Land. Doch die kantonale Filmkommission misstraute der Popularität und verlieh den Filmpreis Felix Tissis blassem und vom Markt ignorierten Gauklerstück «Schlaraffenland».
Der Kult ums Kleine ist Programm. Was in jeder Hauptstadt der Welt eine nationale Prunkallee ist, heisst in Bern «Bundesgasse»; und sieht auch so aus. Es wimmelt von «Gässli» und «Brünnli». Seit die Young Boys in der Nationalliga B kicken, haben sie den höheren Zuschauerschnitt als seinerzeit bei den Grossen. Man hat das Halbeli gern.
Gewiss, das Kleine kann Feines hervorbringen. Die Minimalformation Stiller Has erfasste die skurrile Lebensart Berns, dieses Wiens der Voralpen, in dadaistischen Rockminiaturen. «Bern mag rückständig wirken. Doch das Publikum ist auch viel offener für «Kurliges» als im versnobten Zürich», sagt Theatermann Bircher. Und der Rest der Schweiz liebt Berns Hang zum Kuriosen, schwelgt in den morbiden Balladen seiner traurigen Clowns, schwärmt von der schönen Altstadt und ihren prägnanten Bewohnern.
Die Romantik von aussen wirkt innen fatal, sie zementiert das Klischee. Stiller Has sind auf den jüngsten Platten Geiseln der einst parodierten Behäbigkeit geworden. Ihre Bernkritik kippt in Berntümelei.
Dieselbe Versöhnlichkeit dominiert das politische Bern. Als der stadtbekannte Freak und bekennende Linke Peter Anliker vor einem Jahr Aufnahme in die Burgergemeinde begehrte, öffneten die Patrizier dem Sozi bereitwillig ihre Reihen. Es sind alle so nett. Während die grüne Stadtberner Finanzdirektorin Therese Frösch und der Könizer SP-Gemeindepräsident Henri Huber neulich ein besetztes Gebäude auf dem Hausberg Gurten räumen liessen, greinten sie unisono in die Lokal-TV-Kameras, wie Leid ihnen die jungen Leute täten: «Dir chöit sicher sy, mir hei nid guet gschlafe.»
Auch die Sozialpartner verstehen sich besser als andernorts. «Man redet miteinander», sagt Arbeitgeber-Sekretär Claude Thomann. «Gehässigkeiten haben wir in Bern nicht.» Eine Streitkultur fehlt.
Lieber noch ein Halbeli. Wer sich der Liebenswürdigkeit ergibt, bekommt dafür Familienanschluss. Das heisst: lebenslänglich. Rock-Outlaw Housi Wittlin spielt seinen Gassenhauer «I bi bir Polizei - aber nume ir Kartei» an der Hochzeit des Polizei-Pressesprechers. Künstler und Intellektuelle schmücken sich beim Besuch im Bronco-Klub mit dem Ruch von Freiheit und Abenteuer. «D Brönggle» nennt man liebevoll die Rockerbande, die ihn betreibt. Dass sie auch schon für den Spekulanten Jürg Stäubli Häuserbesetzer aus einer Liegenschaft prügelte, wird verdrängt. Henusode, man kann sich sowieso auf Dauer nicht aus dem Weg gehen. Zu eng die Winkel des Mattequartiers, zu klein die Stadt zwischen Wankdorf und Gäbelbach.
Die soziale Mitte dominiert, Bildungsbürgertum und Beamtenstand nivellieren Bern. Diese Verfilzung der Stände wird jährlich am Jazzfestival gefeiert, wo Bankprokurist und Althippie, Jusstudent und Grossrätin im «Kursaal» traut vereint mittelmässige Musik konsumieren mit einem Schuss schwarzer Exotik. Auch das sozialdemokratische Oberhaupt findet es «schampar glatt». Hier ist er jemand, der unbekannteste Stadtpräsident im Land. Er nennt sich selbst «der blonde Bär». Er heisst Klaus Baumgartner.
Die Betulichkeit endet, wenn jemand das Mittelmass sprengt. Gret Haller, eine streitbare SP-Politikerin, brach als Schuldirektorin nach harten Polizei-Einsätzen gegen Demos mehrmals das Kollegialitätsprinzip und beherrschte obendrein als Zürcherin das örtliche Idiom nicht. Zu viel für Bern; Haller wurde 1988 abgewählt. Heute ist sie Ombudsfrau in Sarajewo.
Brave Aussenseiter dürfen auf die Unterstützung der patrizischen Oberschicht zählen. Die Untertanen schlugen ihren Herren nie die Köpfe ab, und die zeigen sich bis heute erkenntlich: Bernburger und Underground sind mannigfaltig verschlauft. Die Burgergemeinde, eine der mächtigsten Korporationen im Land, kompensiert als klassische Mäzenin die Absenz kapitalkräftiger Sponsoren. Selbst die Berner Tanztage erhielten den mit 100 000 Franken dotierten burgerlichen Kulturpreis - viel Geld für ein unabhängiges Festival, das als aufgeweckter Event mit schrillen Happenings wie einem Hubstapler-Ballett aus der Schläfrigkeit tanzt.
Doch, doch, es lebt sich komfortabel in Bern. Die Aare, von keinen Industrieabwässern verschmutzt, ladet zum Bade. Vom Rosengarten geht der Blick auf die Altstadt. Idyllisch wirkt sie von oben; dass sie zum urbanen Ballenberg ausgehöhlt ist, sieht man nicht. In den Beizen - vom rauchigen «Ringgenberg» bis zum Veteranentreff «Drei Eidgenossen», vom szenigen «Aarbergerhof» zur coolen «Lorenzini»-Bar - findet man ein Stück Heimat.
Die Schweiz restrukturiert sich im Schnellzugstempo, im schönen Bern aber sind die Bewohner kaum interessiert, in einer verschärften Moderne anzukommen. Den verslumten Bahnhof, wo ihnen Junkies und Bettler die Gegenwart aufdrängen, lassen die Berner am liebsten hinter sich und eilen unters Gewölbe der Altstadt. Dort stimmt das Tempo wieder, denn wer unter den Lauben eilt, der stört.
«José, no nes Halbeli.»
Über keine andere Schweizer Stadt werden so viele Bücher publiziert. Reine Binnenliteratur ist das, nicht gedacht für den Export. «Bernensia» heisst die Gattung, worin es ums Marzilibad geht oder um Berner Beizen, um Dialektausdrücke oder Sagen, um Brunnenfiguren oder die wilden Sixties in der Kunsthalle.
Noch immer dreht sich alles um jene Heroen, deren Kunst Mitte der sechziger Jahre Bürger und Burger schreckte: Markus Raetz, Ueli Berger, Franz Gertsch, Christian Megert. Das Architekten-Kollektiv Atelier 5 variiert seit 38 Jahren seine damals wegweisende «Halensiedlung». Neue Berner Design-Leistungen? «Seit der Toblerone wurde nichts mehr weltberühmt», sagt der Direktor des Design Center Langenthal, Christian Jaquet.
Junge Kunst fehlt weitgehend. «Eigentlich wäre hier Platz, um auf spektakuläre Berner Underground-Events einzugehen», klagt das Szeneheft «Soda» in seiner neusten Ausgabe. «Leider aber wurde uns in letzter Zeit nichts (gar nichts) zugeschickt.» Also empfiehlt «Soda» die Documenta in Kassel.
Der 68er Bruch war prägend. Aus dem Tränengasnebel der achtziger Unruhen jedoch gingen in Bern keine nationalen Leitfiguren wie Pipilotti Rist hervor. Wurden andernorts die Sammelplätze der bewegten Jugend - Usine Genf, Kaserne Basel, Rote Fabrik Zürich - zu urbanen Kulturzentren, schmort die Berner Reitschule im alten ideologischen Saft. Es gibt kein Coca-Cola, da imperialistisch, dafür sind die Wände voller Sprüche aus dem revolutionären Aktivdienst: «Fertig mit Diskriminierung», «Frauen wehrt euch», «Betongrau ist halb so schlau».
Nüchterne Bilanz des Berner Filmemachers und Kulturjournalisten Bernhard Giger: «Entscheidende kulturelle Impulse gingen von den in den achtziger Jahren erkämpften, von der Polizei niedergewalzten und wieder besetzten alternativen Freiräumen nicht aus.»
Zwischen Gegenwart und Zukunft entscheidet sich Bern immer wieder für die Vergangenheit. Der Zytglogge Verlag strich 1996 sein Rocklabel mit progressiven Bands aus Basel und Zürich und besann sich auf «traditionelle Stärken»: auf dröge Liedermacher. Auch Berns andere Plattenfirma, Sound Service, will das Geschäft künftig auf die alten Kämpen konzentrieren: Polo Hofer, Züri West, Stiller Has.
Das ist wenig visionär und wirtschaftlich gefährlich. Berns Mundartrock hat seinen Zenit schon vor fünf Jahren überschritten: 1992 belegten Hofer, Span, Patent Ochsner, der Sampler «MatterRock», Stephan Eicher und Züri West vorderste Hitparaden-Plätze und verkauften insgesamt gegen 400000 Berner Platten. Das Rekordjahr wird sich nicht wiederholen, da das Genre an Ort tritt. Selbst die Nachwuchs-Rapper Merfen Orange und G-Punkt bedienen sich der Muster, die Übervater Matter vorgab.
Echt junge Musik verschafft sich andernorts Gehör. Berns erster Techno-Sampler, «Berne Electronic», erscheint dieser Tage bei einer Zürcher Firma. Übers Wochenende flüchtet die Jugend aus der Stadt: In Thun pulsieren auf dem ehemaligen Selve-Industrie-Areal Techno-Discos. In Biel blühen House und Hip Hop. Die Kantonshauptstadt selber verfehlt es, Zeichen zu setzen. Die Einrichtung eines Paul-Klee-Museums verschlafen Behörden und Kunstmuseum seit Jahren. Berns Kulturbeamte erarbeiteten zwar ein wegweisendes Kulturkonzept für die Region, vergassen ob der Fleissarbeit jedoch dessen politische Umsetzung: Die Gemeinden um Bern weigern sich, jene Beträge in ihre Budgets aufzunehmen, welche sie ans kulturelle Leben der Zentrumsstadt entrichten sollten.
Henusode. Auf der Kirchenfeldbrücke, mit Sicht auf Eiger, Mönch und Jungfrau, bleibt das Tram plötzlich stehen. «Luegit jitz emal die Bärge», sagt der Fahrer über Lautsprecher. «Isch das nid schön?»
Berns ganzer Stolz ist die Kultur. Doch die zehrt nur von vergangenem Ruhm.
Wer nicht in der Sandsteinkulisse bequem werden will, muss gehen.
Die Betulichkeit endet, wenn jemand das Mittelmass zu sprengen droht.
Bern entscheidet sich zwischen Gegenwart und Zukunft für die Vergangenheit.
bbluemetS trögli
Es wimmelt von Gässli und Brünnli und Blumen. Kein Wunder, wird Bern als romantisches Städtchen wahrgenommen. Und die Berner tun alles, um das ländliche Klischee zu zementieren.
lauben
Die heimeligen, auch beengenden Gewölbe der Altstadt bestimmen das Tempo. Wer unter den Lauben eilt, stört.
marzilibad
Beamtenordnung - selbst im Aarebad mit Blick aufs Bundeshaus.
reithalle
Das autonome Relikt der achtziger Jahre schmort im alten ideologischen Saft.
münster
Der Kult ums Kleine ist Programm. Selbst der Münsterturm ist zu klein geraten.
rathaus
Hier tagen das Kantons- und das Stadtparlament. Eine Streitkultur fehlt, Versöhnlichkeit dominiert.
ALTSTADT
Der schöne Schein trügt: Historisch sind nur die Fassaden - die meisten Häuser der Berner Altstadt sind ausgehöhlt.
Das waren noch Zeiten - als von Bern Impulse ausgingen
1942.
Seine Studentenbude im Berner Laubegg-Quartier verziert der junge Friedrich Dürrenmatt mit dem «Antlitz der Medusa».
1953.
An der Kramgasse 6 öffnet Berns erstes Kellertheater, wo später Ionescos «Cantatrice chauve» deutsch uraufgeführt wird.
1955.
Mitte der fünfziger Jahre begründet Reformpädagoge Fritz Jean Begert (links) den subkulturellen Zirkel «Kerzenkreis».
1960.
Bern entdeckt für Europa den US- Abstraktionismus. Der Maler Sam Francis (Mitte) hat Vernissage in der Kunsthalle.
1968.
Eine Generation junger Künstler wie Bendicht Fivian (Bild) macht unter Kunsthalledirektor Harald Szeemann Furore.
1968.
Wieder die Kunsthalle: Künstler Christo macht im Rahmen von «12 environments» seine erste grosse Verpackung.
1969.
Joseph Beuys installiert in der Kunsthalle eine «Fettecke». Die Presse schreibt:
«Stumpfsinn!»
Das waren noch Zeiten - als von Bern Impulse ausgingen
1969.
Beitrag zur Ausstellung «Leben im Kopf»: Vor der Kunsthalle brennen
Militärkleider. Die Feuerwehr löscht.
1969.
Die Bürger schlagen zurück: ein Misthaufen vor der Kunsthalle als Protest
gegen die Ausstellung «When Attitudes Become Form».
1969.
Der Troubadour Mani Matter revolutioniert das Schweizer Songschaffen.
1971.
Nackt aufs Wahlplakat: «Härdlütli»-Spontis mit Polo Hofer (oben rechts).
1972.
Sergius Golowin, Esoterik-Pionier und lokaler Szene-Guru (links), empfängt in
Bern sein amerikanisches Vorbild, den LSD-Ideologen Timothy Leary.
Das waren noch Zeiten - als von Bern Impulse ausgingen
1976.
Rumpelstilz erfinden den Mundartrock und popularisieren das Kiffen.
1977.
Love, Peace & Happiness auf dem Berner Hausberg: Das erste internationale
Folk-Festival zaubert Hippie-Romantik auf den Gurten.
1977.
Der letzte Schauspiel-Star am Berner Stadttheater: Charakterdarsteller
Hans-Heinz Moser.
1979.
Kurt Marti, Begründer der «modern mundart»-Literatur, erhält den Buchpreis
der Stadt.
1979.
Nationaler Skandal - Tinu Heiniger hämt gegen Trio Eugster:
«Unterhaltigsbrunz».
1979.
Rockgöttin Patti Smith gastiert im Garten des Kunstmuseums. Den Berner
Fotorealisten Franz Gertsch inspiriert sie zu überlebensgrossen Porträts.
Das waren noch Zeiten - als von Bern Impulse ausgingen
1980.
Züri brännt, und der heisse Sommer greift auf Bern über. «AJZ subito!»
Bewegte Jugendliche besetzen zum ersten Mal die Reitschule. Später rocken
hier Züri West.
1983.
Der Brunnen der Bernerin Meret Oppenheim wird zum Politikum.
1983.
Eines der letzten Highlights des Berner Filmschaffens: Mathias Gnädinger ist
«Der Gemeindepräsident» in Bernhard Gigers Politfarce.
1987.
Stadtkrieg: Die polizeiliche Räumung des Hüttendorfs «Zaffaraya» setzt Berns
letztem Aufbruch ein Ende.
Kunstschaffen
Traurige Gestalten im letzten Tram
Melancholisch und morbid. In Liedern, Filmen und Büchern aus Bern
wimmelt es von Toten und Scheintoten.
«General-Guisan-Platz, Mili-tärgarten, Schützengarten, Viktoriaplatz,
Henkerbrünnli, Galgefäld, Friedhof, Chindlifrässer - und überhoupt», fragt Polo
Hofer in seinem Song «Im letschte Tram», «wieso hei alli Haltstelle söttigi
Näme?» Moder, Morbidität, Mordgeruch wächst aus Berns Melancholie.
Altmeister Mani Matter pointierte das lähmende Lebensgefühl einer Stadt, «wo
d Züg geng scho abgfahre sy oder no nid sy cho», schon vor drei Jahrzehnten:
«Warum syt dir so trurig?», fragte er und stellte in einem anderen Lied
lakonisch fest, dass er an einer Sackgasse wohne, die zum Friedhof führt.
Keine Schweizer Stadt zählt so viele Literaturtote. Dass der TV-Krimi
«Tatort» in Bern spielt, scheint selbstverständlich. Patent Ochsner besingen
Bern als «scheintotenstill».
Es «tötelet» in der grauen Berner Altstadt. Wenn, wie Züri West singen, die
halbe Stadt vor dem Fernseher einschläft, schlägt die Gemütlichkeit in
Langeweile um, die Langeweile in Leere, und die Leere in gespenstische Stille.
Dicht hängen die Nebel im Herbst über der Aareschwelle. Die
Münsterplattform ist der berüchtigste Suizid-Schauplatz des Landes.
Berns Kulturschaffende beschreiben mit Vorliebe Depression. «Winterstadt»
hiess Bernhard Gigers Bernfilm, Züri West besingen Stimmungen, die einen
frösteln: «I dire Loge isch es chalt, d Mieti isch nid zahlt, es rägnet oder schneit,
es isch zähni, du ligsch gäng no im Bett, du hesch Chopfweh u bisch müed.»
Die Trutzburg aus Sandstein treibt ihre sensiblen Insassen nicht selten in die
Verzweiflung und in den Irrsinn. Oft besungen und verfilmt, warf Berns
berühmteste Legende, der traurige Spassmacher Dällebach Kari, seine
Nähmaschine von einer Aare-Brücke und sich selbst hinterher.
Berns Helden sind tragische. Sie landen in der Psychiatrischen Klinik Waldau
am Stadtrand, «zwüsche Lideschaft u Oschtermundige», wie Bluespianist
Chlöisu Friedli den Ort besang, und am Ende steht der Freitod. Friedli nahm
sich 1981 das Leben. «Wohäre geisch, i chume jitz grad mit dir, Meitli», hatte
er wenige Wochen zuvor noch in einer Sehnsuchtballade gesungen.
Vom Weggehen zu träumen und dann doch nicht loslassen zu können, das ist
der bernische Eskapismus. Das Berner Rockschaffen ist gespickt mit
Ausbruchs-Fantasien. «Spick mi furt vo hie», flehen Patent Ochsner, Stiller
Has wünschen: «Intercity, nimm mich mit.» Züri West sehnten sich 1985 nach
Weite: «U wenn i z Bärn am Fänster stah u d Sunne grad im Meer versinkt...»
Und Polo Hofer beschwört sein «Zigünerhärz»: «Was i hie so vermisse, das
chani hie ja doch nie ha. Überhoupt i gspüre nes Riisse, bi mir faht ds Fernweh
wieder aa.»
Doch das Fernweh ist zugleich Heimsucht, der Berner, wehleidig und
larmoyant, bleibt hocken. «Mir wäre fasch ggange», umriss Züri-West-Texter
Kuno Lauener das Gefühl präzis, «aber du oder i ha plötzlech gseit: Es schiisst
mi aa.»
Der einzige Mundartrocker, der wirklich ging, Dänu ExTrem, versicherte
später aus dem dänischen Exil: «Bärn, i ha di geng no gärn.» Dänu Siegrist lebt
zwar in Basel, stellt im Titel «Wieder daheim» aber beruhigt fest, dass bei
seinen Bern-Besuchen immer alles noch beim Alten ist.
MIT VORLIEBE DEPRESSIV: Film «Winterstadt».
TRAGISCHE HELDEN: Blueser Chlöisu Friedli.
Wirtschaft
Dynamik fehlt auf der Bernerplatte
Sogar hier stimmt das Vorurteil: Berns Wirtschaftswachstum ist
langsamer als der Landesschnitt. Ein Strukturproblem.
Als die Wirtschaft in der Schweiz den Schnupfen bekam, kriegte Berns
Wirtschaft die Grippe: Bern zählt zu den fünf Kantonen, die von der Flaute der
letzten Jahre am härtesten getroffen wurden. Seit 1990 fiel sein
Wirtschaftswachstum regelmässig tiefer aus als im Landesschnitt. Jetzt strebt
die Schweizer Konjunktur wieder sachte nach oben - Berns Kantonswirtschaft
humpelt weiter hinterher.
1997 werde das Bruttoinlandprodukt im Bernbiet knapp halb so steil steigen
wie im gesamten Land, prognostiziert die BAK Konjunkturforschung AG,
Basel; und die geringere Dynamik werde bis weit übers Jahr 2000 anhalten.
So etwas hat Folgen. Noch zu Beginn der achtziger Jahre wies Bern das
zehnthöchste Pro-Kopf-Einkommen der Schweiz aus - inzwischen ist der
Kanton auf Rang 16 abgesackt. Das Einkommen liegt bei 39 000 Franken, 47
Prozent tiefer als im Spitzenkanton Zug und 12 Prozent tiefer als im
Landesschnitt.
Berns Wachstumsschwäche fusst in der Struktur. Dynamische Branchen sind
dünner gesät als im helvetischen Schnitt: Chemie oder Elektronik, Banken oder
Versicherungen sind keine Spezialitäten der Bernerplatte. Präsenter wirken
dagegen Zweige ohne viel Schwung - so etwa Bau, Nahrungs- und
Genussmittel oder Tourismus. Und nicht zuletzt die immer noch sehr
bedeutende Landwirtschaft.
Kurz: Berns Wirtschaft ist vergleichsweise weniger produktiv, weniger
wettbewerbsfähig - und eher arbeitsintensiv. Was immerhin dazu beiträgt, dass
Bern bei der Beschäftigung gut dasteht: Die Arbeitslosenrate liegt momentan
bei 4,3 Prozent, verglichen mit 5,0 im Landesschnitt. Stützend wirkt dabei,
dass die Staatsquote - Bundesverwaltung sei Dank - besonders hoch ist. In
Zahlen: Fast ein Drittel des Volkseinkommens kommt von der öffentlichen
Hand.
Doch Bern war noch nie ein Industriekanton, und die Stadt war nie ein
pulsierendes Businesszentrum. Selbst Traditionsfirmen der städtischen und
kantonalen Wirtschaftsgeschichte - wie Tobler oder Wander - sind
industriehistorische Spätzünder. Gemessen am Umsatz ist die Fenaco-Gruppe
das grösste Privatunternehmen der Stadt - ein Zusammenschluss von 555
landwirtschaftlichen Genossenschaften, der 3 Milliarden Franken umsetzt. Die
wichtigste Industriefirma, der Telekommunikationskonzern Ascom, bucht 2,9
Milliarden Umsatz; das ist gut halb so viel wie Sulzer in Winterthur. Auf Rang
drei folgt Valora, ein traditioneller Mischkonzern mit Standbeinen im Kiosk-,
Detailhandels- und Matratzenbereich.
Dringend gesucht werden in Bern die Zukunftsindustrien. Im November 1996
zündete die Kantonsregierung ein Aktionsprogramm. Zuvor hatte der Kanton
den «Espace Mittelland» lanciert, worin sich Bern weltweit als idealer Standort
für Informatik und Medizinaltechnik vermarkten will - gemeinsam mit Freiburg,
Solothurn, Neuenburg und dem Jura. In der Informatik ist «Espace» bereits die
zweitstärkste Region im Land.
Die Stadt Bern setzt zudem auf Telekommunikation (bereits Ascom und
Telecom); die Beamtenstadt will Kommunikationsstadt werden. Derzeit
entfallen von ihren 144 000 Arbeitsplätzen 12 000 auf Telekommunikation und
Informatik. Zum Vergleich: Die öffentliche Verwaltung bietet in der Stadt Bern
18 000 Jobs.
WIRTSCHAFTSWACHSTUM IM VERGLEICH: Bern hinkt der
Schweiz hinterher.
Paul Nizon
«Eine in sich selber zirkulierende Stadt»
Ungemütlich gemütlich. Schriftsteller Paul Nizon hat Bern vor Jahren den
Rücken gekehrt. Den Entscheid bereut er nicht.
FACTS: Sie leben in Paris. Wie empfinden Sie Bern, wenn Sie es besuchen?
PAUL NIZON: Bern ist für mich zum einen die intakte Insel meiner Kindheit,
eine Art inneres Museum. Zum anderen ist diese Stadt ein einprägsames
Gefängnis. Bern kann bedrücken. Ich möchte dort nicht mehr leben. Die Stadt
hat so eine Gemütlichkeit.