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ZSCHOKKE -Ein sanfter Rebell. Budapest TAGES-ANZEIGER, Zürich, Mittwoch, 12. März 2003
Städtereisen

Ungarische Gruften, dampferfüllt

Budapest ist ist ein Ort voller Kuriositäten. Ein Besuch im Rudás-Bad mit seinen nackten Greisen und 500 Jahre alten Gewölben steht am Beginn unserer Folge von Stadttouren.

Von Matthias Zschokke


bad
Nackte Männer mit Schürzchen aus fadenscheinigen Leinen tapsen auf glitschigen Fliessen zu den Becken und tauchen ein. Man tut es ihnen nach.
 

Budapest macht einen verbrauchten Eindruck. Es wirkt schwarzweiss, riesig und schwerblütig. Auf den Fassaden liegt keine Patina, sondern Russ und Dreck. Neues, Modernes, Grelles perlt vorläufig noch ab. Mittendurch fliesst ein grauer, breiter Strom, die Donau. Rechts, auf einer Anhöhe, liegt Buda, ein museales Residenzstädtchen mit ein paar repräsentativen Bauten. Dahinter ziehen sich urbane Quartiere und vorstädtische Wohnsiedlungen über hügeliges Land bis an den Horizont. Auf der linken, topfebenen Uferseite breitet sich Pest aus, eine laute, geschäftige Metropole. Wer eine der Brücken, die Buda mit Pest verbinden, zu Fuss überquert, ist nachher müde.

Fussgänger werden hier oft an den Rand der Verzweiflung gebracht. Zwar gibt es genügend Busse, Strassen- und U-Bahnen. Auch fahren sie tagsüber in raschem Takt. Doch die Haltestellen liegen endlos weit auseinander, und will man umsteigen, hat man meist Hunderte von Metern zurückzulegen und muss grundsätzlich eine verpisste Unterführung benützen.

Kaum eine Strasse lässt sich in würdigem, senkrechtem Gang überqueren. Überall hindern einen eiserne Schranken daran. Überwindet man diese und traut sich auf die Strasse, wird man von den Autos gnadenlos verjagt. So trotten alle gottergeben, mit schweren Tüten beladen, hintereinander her, runter und rauf. Und nicht einer, der sich darüber aufzuregen scheint. Das ganze System erweckt den Eindruck, als sei es von einem rachsüchtigen Knaben im Sandkasten ersonnen worden, mit der Absicht, den Erwachsenen das Leben schwer zu machen.

Dabei sind die Nahverkehrsmittel ein Vergnügen. Man kann zufällig eine Strassenbahn erwischen, die infernalisch scheppert, wackelt und kracht. Oder in Busse steigen, an denen alles lose ist und abzufallen droht. Die Türen, die Scheiben, die Hupen und Klingeln, die Motoren und Bremsen, alles knirscht und röhrt, von der Zeit verstimmt und verzogen. Die Lederriemen, an denen man sich festhält, sind von fast schwarzer, geschmeidiger Glätte. Selbst die Mehrzahl der rund fünfhunderttausend Bäume ist überaltert. Sie beginnen zu sterben und stellen eine Unfallgefahr dar, wie in einer Zeitung zu lesen war. Doch die Einwohner lieben das alles mit einer Vitalität, die im Westen selten geworden ist. Sie empfinden zu ihrer Stadt eine Zuneigung wie zu einem schwerfälligen Tier, einem runzligen, halb blinden, lahmen Elefanten vielleicht.

Zurzeit ist es eher mühsam, nach Budapest zu gelangen. Die Züge brauchen eine Ewigkeit, komfortable Schlafwagen werden nicht angeboten, Billiglinien fliegen Budapest nicht an, und nimmt man trotzdem das Flugzeug, steht man am Flughafen Ferihegy verloren herum: Es gibt von da keine öffentlichen Verbindungen irgendwohin. Wer ankommt oder abfliegt, muss entweder ein Taxi nehmen, was verhältnismässig teuer ist, oder er benutzt den «Minibus»: An einem Schalter in der Ankunftshalle meldet man an, wohin man möchte, und wird dann mit anderen zusammen einem Kleinbus zugeteilt, der in diese Richtung fährt und jeden vor seiner Haustür abstellt. Man sollte deshalb aber keinen Bogen machen um Budapest. Die Chance, eine alteuropäische Stadt kennen zu lernen, wird es bald nicht mehr geben. Unaufhaltsam ist ja die Nivellierung.

Altes Europa - zum Beispiel das Rudás-Bad. Um die Atmosphäre dieses türkischen Männerbades in ihrer ganzer Wucht zu erleben, sollte man es frühmorgens aufsuchen (es öffnet um sechs). Von aussen erinnert es an ein bulliges, dieselbetriebenes Heizkraftwerk. Eine schummerige, abgestanden riechende Wartehalle empfängt einen. Auf langen Bänken sitzen obdachlose Trinker und rauchen. In einer Ecke hat sich eine Frau hinter einem Markttisch verschanzt. Sie verkauft Kräutertee, Heiligenbilder, Badeschlappen, Schnaps, Duschgel, Brillen und Zeitschriften. An der Stirnseite befindet sich eine Art Stehimbiss, an dem es Kaffee, Bier und belegte Brote gibt. Rechts steht ein Kassenhäuschen wie vor einem Wanderzirkus. Man muss sich zu einem kleinen Fenster hinunterbeugen und hineinrufen, was man möchte, worauf eine ältere Frau heranschlurft. Man sieht von ihr nur den Bauch. Sie beugt sich ebenfalls herunter. Auf die Frage, ob sie Englisch oder Deutsch verstehe, schüttelt sie den Kopf, notiert auf einen Zettel 1000 und hält ihn ins Fenster. Man gibt ihr tausend Forint, bekommt einen Kassenbon und einen vagen Fingerzeig Richtung hinten rechts.

Dort führt eine Treppe ein paar Stufen abwärts. Unten sitzt ein alter Mann. Er prüft den Kassenbon, reicht einem ein Schürzchen aus fadenscheinigem Leinen und weist hinter sich. Man geht an ihm vorbei und gelangt in Katakomben, in denen hölzerne, weiss angestrichene Badekabinen in langen Reihen stehen. Manchmal schlurft in der Ferne ein nackter Greis querdurch, man hört Plätschern, Gurgeln, Stöhnen; die funzeligen Glühbirnen sirren, Türen quietschen und schlagen, Stühle knarren, Fleisch klatscht auf Fleisch.

Man wählt eine freie Kabine, zieht sich aus, hängt die Kleider an Haken, schnürt sich das Schürzchen um, tritt auf den Flur und steht ratlos, mit nacktem Hintern, da. Unaufgefordert taucht ein anderer alter Mann auf. Er schreibt mit einer Kreide die Uhrzeit auf das Schiefertäfelchen an der Tür, schliesst sie ab, reicht einem den Schlüssel, schliesst ein zweites Mal ab, mit einem Generalschlüssel, den er behält, deutet auf die Nummer der Kabine, die man sich merken soll, murmelt auf Altösterreichisch-Ungarisch etwas von eineinhalb Stunden und schlurft davon.

Man folgt den Geräuschen, geht an weiteren Kabinen und rostigen, stillgelegten Duschen vorüber, entlang schwitzenden Wänden, über glitschige Fliesen, an kaputten Toiletten vorbei, unter zerschlagenen, mit aufgequollenen Zeitungen verstopften Oberlichtern durch und kommt in eine Waschküche. Da steht ein Bäckermeister und seift sich ein, also tut man das auch (Bäckermeister, weil er so mehlig bleich ist und ihm das Schürzchen so meisterlich unter seinem majestätisch gewölbten Bauch baumelt). Das Wasser pladdert angenehm heiss und weich aus den Rohren; es riecht zart nach faulen Eiern.

Man folgt dem Bäckermeister und betritt hinter ihm das Bad, ein fünfhundert Jahre altes, dunkles Gewölbe, von acht Säulen getragen, eine Mischung aus Schlachthof, Weinkeller und Moschee. Die Kuppel ist perforiert. Ein paar Löcher sind bunt verglast, andere sind offen gelassen, damit der Dampf abziehen kann. Durch die östlichen Luken fällt Morgenlicht in den aufsteigenden Nebel. Das Zentrum bildet ein grosses Becken, eine Art Teich, in dem etwa ein Dutzend Männer liegen, ganz ruhig, wie Wasserbüffel im Schlamm während der Mittagshitze.

Der Bäckermeister gleitet dort hinein. Langsam, ohne dass man die Stufen wahrnimmt, über die er schreitet, teilt er das Wasser. Dann lässt er sich nach vorne kippen, wobei er eine mächtige Bugwelle vor sich herschiebt, taucht unter, bleibt unten, kommt langsam wieder hoch, schnauft, wälzt sich auf den Rücken und rührt sich nicht mehr. Man tut es ihm nach. Das Wasser ist badewannenwarm. Die Stufen sind weich gerundet, roter Stein, immer wieder von nackten Füssen begangen, poliert, samten. Rund um das Hauptbecken sind kleinere zu erahnen. An den Wänden hängen Emailletafeln mit rätselhaften, ungarischen Hinweisen. Das Einzige, was man entziffern kann, sind Wärmegrade: insgesamt sechs Becken von 15 bis 42 Grad. In allen liegen Männer, und zu allen mag man sich gern dazulegen. Sie murmeln miteinander, Tropfen fallen von der Decke, frisches, heisses Wasser plätschert aus steinernen Öffnungen, die Becken laufen über, Männer steigen hinaus, verschwinden hinter einer Tür, aus der es dampft, andere tauchen aus dem Dampf auf, lassen sich in ein Becken sinken, jeder nach sei- nem eigenen System. Man folgt dem Bäckermeister in den dampfenden Raum. Schemenhaft ist da und dort jemand zu erkennen, aufrecht stehend, die Augen geschlossen, kaum atmend. Geht man nahe hin, sieht man krebsrote Haut. Zurück im Vorraum, tappt man benommen unter eine Dusche, kühlt sich ab, öffnet eine andere Tür, gerät in eine Trockensauna -

und überall sitzen und stehen alte, junge, dicke, dünne, grosse und kleine Männer in diesen Schürzen. Dazu die fremden Laute, das melodische Dröhnen - ein begeisternder, ganz und gar archaischer Eindruck.

Irgendwann entschliesst man sich zu gehen, zieht sein Schürzchen aus, bekommt ein Leintuch gereicht, wieder von einem uralten Mann, und gelangt in eine Art von gerichtsmedizinischem Obduktionsraum. Da stehen rostige Pritschen mit Matratzen, auf denen weiss eingewickelte Mumien liegen, die röcheln und schnarchen. Aus einem Nebenraum dringt Geächze und Stöhnen. Manchmal geht eine Tür auf, und man sieht einen Masseur hineingehen oder herauskommen.

Nachdem man geruht hat, geht man auf die Suche nach seiner Kabine und wartet davor. Der Alte mit dem Generalschlüssel taucht auf, öffnet. Man zieht sich an, gibt das Leintuch ab (sieht, dass ein anderer, der ebenfalls geht, Trinkgeld hinlegt, tut das auch). Neben dem Ausgang hängt an der Wand ein alter Föhn, man trocknet sich die Haare, steigt aus der Unterwelt, tritt vor die Tür und wird von der Sonne empfangen, die gerade über der Donau aufsteigt.

Frühmorgens sollte man hingehen, weil dann die Zusammensetzung der Badegäste besonders ist: übernächtigte Kellner, fahle Verlierer und strahlende Sieger aus dem benachbarten Spielcasino, Geschäftsleute, Beamte und Handwerker vor Arbeitsbeginn, Rentner nach schlaflos verbrachter Nacht - aus allen Richtungen und Milieus tauchen sie aus der Dunkelheit auf und finden hier zusammen, legen sich gemeinsam ins warme Heilwasser, dösen, schrecken hoch, verlassen die selige Geborgenheit, nehmen am Imbiss ein Frühstück zu sich, Bier, belegte Brote mit Hering, Eiern, Zwiebeln und Paprikamayonnaise drauf, Espresso, um so gestärkt, voller Fatalismus den neuen falschen Tag anzugehen.

Das ist eine der Besonderheiten Budapests: eine Grossstadt voller Thermalbäder der unterschiedlichsten Art. Man braucht sie nicht alle ausprobiert zu haben. Doch wer gern im heissen Wasser liegt, sollte wenigstens ein paar Grundtypen besuchen. Neben den historisch türkischen gibt es noch solche aus der Zeit der vorletzten Jahrhundertwende, zum Teil in prunkvollem Jugendstil, mit medizinischen Abteilungen, Trinkbrunnen und Therapieangeboten.




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Mittwoch, 26. März 2003

Die «Fledermaus» quasi im Originalzustand

Budapest
Die Sänger geben ihr Letztes, und nach dem Schlussapplaus gibts noch eine Kurzzusammenfassung. Doch dann: Wo essen?
 
Operetten sind in Budapest noch Operetten. Und das ist gut so. Nur mit der Gastronomie danach haperts in der Stadt da und dort ein bisschen.

Von Matthias Zschokke

Wo der Zigeunerbaron und die Csárdasfürstin herkommen, muss man sich Operetten anschauen. Ein unvergesslicher Eindruck. Besonders im Erkel-Theater, einer riesigen, hundert Jahre alten Volksbühne, die zum letzten Mal wahrscheinlich in den Dreissigerjahren renoviert worden ist. Damals hat man tausend Plätze entfernt, wonach immer noch zweitausendvierhundert übrig geblieben sind - eine Zahl, die jedem westeuropäischen Theaterdirektor den kalten Schweiss auf die Stirn treiben würde, weil er nicht wüsste, wie er sie füllen soll.

Das Interieur ist zerschlissen, das Publikum ebenfalls. Die Musikbegeisterung ist um so grösser. Man kennt die Arien, die Tutti und die Vornamen sämtlicher Buffos und Soubretten. In den Pausen - angenehm langen Pausen - flaniert man die riesigen Foyers auf und ab, schaut sich die Fotos verblichener Stars an den Wänden an, trinkt ein Glas Tokajer, einen Wein, der, wenn er gut ist, schwer, tief und kräftig nach Sultaninen schmeckt und goldfarben ausschaut wie die Sonne, wenn sie morgens um vier über der Puszta aufgeht.

Ich habe «Die Fledermaus» gesehen. Das Dekor erinnerte in seiner Farbenpracht und Opulenz an chinesischen Staatszirkus. Im Graben sass ein komplettes Sinfonieorchester. Die Sänger, Mitglieder der Staatsoper, sangen aus voller Überzeugung, ohne feiges, rückversicherndes Augenzwinkern zum Publikum. Die Gattung wird hier nicht mit magensaurer Ironie herabgewürdigt. Die Beteiligten verlassen sich auf ihre Stand- und Spielbeine. Und haben sie sich erst einmal, leicht versetzt, vorne an der Rampe positioniert, schmettern sie los, was das Zeug hält. Der Dirigent holt den letzten Fagottwinsler aus dem Graben. Bis in die kleinsten Nebenrollen ist alles prachtvoll kostümiert und ausgestattet. Hier leidet der Bühnenprinz Orlofsky noch nicht unter Personalmangel. Die hübschesten Diener tanzen mit anmutigen Schritten durch seinen Palast, während rund um sie die geladenen Gäste des Maskenballs bestgelaunt und schwitzend die bis zum Anschlag aufgezogene Verwechslungsspieluhr, die dauernd durchzuknallen droht, abschnurren lassen. Jeder agiert, als habe er einen von Mozart vertonten Shakespeare zu meistern.

Man übertreibt zwar, stellt aus - aber wenn Rosalinde als ungarische Gräfin verkleidet ihren Csárdas singt, zu dem grau melierte Tänzer aus dem Hintergrund auftauchen und fussschonend, mit korsettiertem Bauch, einen Zigeunertanz vorführen, atmet der ganze Saal durch, denn dann wird eine nationale Angelegenheit verhandelt, und die Tränen steigen einem in die Augen vor lauter Ergriffenheit.

Im Westen verdient man mit Operette Geld und schämt sich gleichzeitig ihrer Einfalt und ihrer dicken Schminke. In Budapest geniesst man den Unfug und schmeckt ihn mit Hingabe ab. Erst beim Applaus verfliegt der Schmelz: Streng sozialistisch-einheitlich wird er auf die Haupt- und Nebenrollen verteilt, die alle bis zum letzten Vorhang ausharren (im Westen dürfen Kleindarsteller nach ihrem Auftritt nach Hause gehen). Das Riesenensemble verbeugt sich, einer nach dem anderen, zu gleich bleibendem, rhythmischem Beifall. Nach zweimaligem Reihumverbeugen gibt es eine Zugabe, die einem vierten Akt gleichkommt, musikalisch und choreografisch bis ins Detail ausgefeilt. Man leistet sich sogar einen weiteren Bühnenbildwechsel. In verwirrendem Tempo werden bravourös die schönsten Stellen noch einmal gesungen, von Verbeugungen kurz unterbrochen - das Publikum klatscht ein letztes Mal, und Schluss. Man geht zufrieden nach Hause und kann sich seine Gedanken machen über das Gesehene und Gehörte, ohne von einem dummen, dicken, hocherhobenen Regie- oder Interpretationszeigefinger dazu genötigt worden zu sein.

Oder man geht essen. In dieser Beziehung macht es einem die Stadt schwer. Wer es «typisch» haben will, dem sei das «Café Centrál» empfohlen. Hier bekommt man einen guten Eindruck von der Idee des Kaffeehauses, dieser legendären Einrichtung, die man aus Wiener und Budapester Nostalgieberichten kennt. Was serviert wird, ist ordentlich. Eine Alternative dazu, verwunschener und speckiger, wo man sich möglicherweise etwas verloren vorkommt und schwermütig wird, wo aber der trübselige Teller, der einem vorgesetzt wird, von der abgeschabten Eleganz des Interieurs aufgewogen wird, ist der «Fészek müvészklub». Sonst? Entweder verlangen die Gastronomen unverschämte Preise für so genannt internationale Küche - die Lokale sind zwar gähnend leer, aber schon ab vier Touristen pro Abend scheint die Rechnung aufzugehen -, oder sie werben mit ungarischer Küche und meinen damit viel Fleisch, das nach altem Fett riecht und nach den Sechzigerjahren, wenn nicht gar sechzigjährig, schmeckt. Die Weine, die dazu serviert werden, helfen noch nicht einmal beim Verdauen. Überall kann es ausserdem passieren, dass man mit Livemusik drangsaliert und davon vollends zermürbt wird. Ich erwog bereits, mich dann eben von Langos zu ernähren: frittierten Fladen aus Kartoffelmehl, die an Strassenbuden verkauft werden und die mit Knoblauchöl und Salz gut schmecken.

Doch nach und nach entdeckte ich Oasen gastronomischer Redlichkeit, allen voran das «Baraka», ein junges Lokal, das jeder europäischen Grossstadt zur Ehre gereichen würde. Kulinarisch auf höchstem Niveau, besticht es zudem durch eine ungarische Spezialität: die Freundlichkeit, ja Herzlichkeit des Personals, die auch das eingeführte, weltläufige «Vörös és Fehér» für jeden Gast zu einem Hort des Wohlbefindens macht. In beiden ist es angebracht, telefonisch einen Tisch zu bestellen.



Mittwoch, 9. April 2003

Über allem liegt unangestrengte Gelassenheit

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Losziehen, ohne Erwartungen, und auf Überraschendes stossen: Auf Salami, Jugendstilfassaden und abenteuerliche Hinterhöfe.
 
Auf dem Spaziergang durch Budapest trifft man auf Krimskrams, Poesie, heftig schaukelnde Pferde und Leute von wohltuender Geschäftsuntüchtigkeit.

Von Matthias Zschokke

Der Frühling ist in Budapest ein Ereignis. Er fegt über die Ungarische Tiefebene heran wie Dschingis Khan, bricht in die Stadt ein, kippt schwere, warme Luft durch die Fenster in die Wohnungen und spült Stühle und Tische nach draussen. Der Putz an den Fassaden wirft Blasen und bröckelt ab. Die Passanten verlangsamen ihre Schritte, bleiben vor verstaubten Schaufenstern stehen, betrachten seltsam verzogene, ausgebleichte Schuhe aus alten Lagerbeständen, selbst gefertigte Rasierapparate, absonderliche Plastikmonster aus der Volksrepublik China, Zinnsoldaten, vergilbte, orthopädische Ersatzgelenke - und denken an ihre Geliebten.

Gezieltes Shopping fällt in so einer Atmosphäre schwer. Verlangt ist eher das Talent, loszuziehen ohne Erwartungen, ohne Hoffnung; das Talent zu spazieren. Den Falten der Stadt entströmt ein zarter Duft von Balkan. Zwar gibt es da und dort auch luxuriöse Boutiquen, doch bestimmen sie nicht das Strassenbild. Die Aussicht, etwas Exquisites zu finden, das man nicht überall sonst mindestens ebenso gut finden könnte, ist gering, grösser schon die Chance, auf etwas Überraschendes zu stossen. Man entdeckt auf seinen Streifzügen begeisternde Jugendstilfassaden, abenteuerliche Hinterhöfe, koschere Konditoreien, die grösste Synagoge Europas, verrammelte Läden und solche, bei denen die Türen offen stehen und den Blick frei geben in dämmrige Labyrinthe. Traut man sich hinein, kann man Sachen auf die Spur kommen, von denen man längst vergessen hat, dass man sie sucht. Über allem liegt eine unangestrengte Gelassenheit; kaum jemand leidet unter dem Zwang, Geschäfte zu machen. Die Waren wirken wie liegen gelassen. Reklamen hängen nicht in Schaufenstern, um zum Kauf zu animieren, sondern weil sie einmal jemandem gefallen haben und man sich seither an sie gewöhnt hat - manche Produkte, für die sie werben, gibt es gar nicht mehr.

In der Nähe von U-Bahn-Stationen wird es belebter. Männer, Frauen und Kinder stehen da und strecken einem Socken, Blumen, russische Feldstecher, Gasanzünder, Peperoni oder Trainingshosen entgegen. Die einen murmeln dazu einen Preis, die anderen sagen gar nichts. So richtig überzeugt von der Notwendigkeit, Umsatz zu machen, scheint niemand zu sein.

Auch vor den Markthallen trifft man auf diese angewehten Gestalten, die ihren Krimskrams feilbieten oder bloss ein wenig im Dunst der Warenwelt ihre Stunden verdösen wollen. Die Markthallen sind sehenswert. Nicht nur die zentrale, besonders prächtige am Vámház körút, sondern auch die kleineren, versteckt liegenden (es gibt insgesamt fünf).

Verglichen mit einem überquellend lauten, prallen, mediterranen Markt sind dies hier eher raunende, schattig feuchte, wabernde Basare mit Frittierbuden und schummerigen Ecken. Angeboten wird alles, was gerade wächst, dazu Geflügel, Gänseleber, Putenschenkel, Enteneier, Salami in allen Ausführungen, Speck und Schmalz. Ausserdem gibt es jeweils einen abgegrenzten Bereich, in dem alte Bauern und Bäuerinnen mit Kopftüchern und schwarzen oder sehr bunten Kleidern ihre selbst gemachten Erzeugnisse anbieten: Zwetschgenmus, Blut-, Leber- und geräucherte Würste, dicke Bohnen, von Hand geschöpfter, fetter Rahm, Frischkäse.

Auffallend ist das viele Personal überall. Selbst in kleinsten Kiosken drängen sich zwei, drei Verkäuferinnen von meist überwältigender Liebenswürdigkeit und gleichzeitig wohltuender Geschäftsuntüchtigkeit. Man kann unbehelligt herumstöbern, kaufen oder nicht, weitergehen, an einem klebrigen Imbiss stehen bleiben, einen Espresso aus einem Plastikbecher trinken, seinen Gedanken nachhängen. Nicht dass die Stimmung orientalisch wäre, in die man verfällt, eher lässt sie sich mit einem Vers erklären, der hier an der Wand in der Zentralbibliothek zu lesen ist: «Ach, welch anstrengendes Leben / jeden Morgen und Abend / muss man sich an- und ausziehen!» (János Arany)

Wer ein Ziel braucht, um losgehen zu können: Unter den ungarischen Dichtern gibt es ein paar wunderbar träge, schwermütige Herzensmenschen. Einer davon ist der 1952 gestorbene Franz Molnár, den man im deutschsprachigen Raum vor allem wegen seines Stücks «Liliom» noch kennt. Das spielt im zentralen Park, dem Stadtwäldchen, auf dem Rummelplatz. Dieser existiert beinahe unverändert. Das Karussell, auf welchem Liliom als Ausrufer arbeitet, dreht sich nach wie vor. Es ist wunderschön; die Pferde tragen echte Ledersättel und schaukeln beglückend heftig. Auch die hölzerne Achterbahn ist noch in Betrieb, und sie ist so alt und gebrechlich, dass man sich ihr nur mit Bedenken anvertraut und jede Fahrt als existenzielles Abenteuer erlebt.

E in anderes Ziel könnte der Flohmarkt «Ecseri» sein. Von Gerümpel über nationalsozialistische, stalinistische, widerständische und andere Reliquien bis zu bäurischen und aristokratischen Antiquitäten aus der Donaumonarchie kann man alles finden. Kein Geheimtipp zwar, ist er doch echt und vermag jeden in Schatzsucherfieber zu versetzen - und dazu zu verführen, zwischendurch an den Buffets einen Teller Kuttelragout zu probieren.

Exotisch ist der riesige «Józsefvárosi piac», ein eingezäuntes Gelände, wo auf engstem Raum Hunderte von Chinesen Kleidung zu Schleuderpreisen anbieten. In winzigen Bretterbuden hausend, kochend, essend, Karten und Go spielend, Garküchen betreibend und eben: wuselnd und handelnd. Die Wege der Marktwirtschaft sind verschlungen: Direktimportware aus China wird hier an Privatleute, vor allem aber an serbokroatische, rumänische und russische Zwischenhändler weiterverkauft, die sie über die Grenzen in die ärmeren Nachbarstaaten schaffen.

Allzu langes Flanieren kann bewirken, dass man sich abends nicht mehr den starren Regeln eines offiziellen Kulturprogramms unterziehen mag. Planen, Eintrittskarten organisieren, feste Anfangszeiten, nummerierte Plätze - alles empfindet man plötzlich als Zumutung. Mit etwas Glück erfährt man in so einem Moment vielleicht, dass irgendwo eine Zigeunerkapelle auftritt.

Wer Angst hat, in eine Touristenfalle zu tappen: Veranstaltungen, die unter dem Patronat des Roma-Parlaments stattfinden, sind in der Regel authentisch. Ausserdem gibt es eine Bewegung, die sich «Táncház» (Tanzhaus) nennt, was für traditionelle, zum Teil uralte, spannend synkopische Volksmusik mit Geigen und Celli steht. Sowohl Zigeuner- wie auch Táncház-Musik erfreuen sich grosser Beliebtheit. Veranstaltungsorte und -termine herauszubekommen, ist nicht ganz einfach. Das meiste läuft über Mundpropaganda, neuerdings auch übers Internet. Es lohnt sich jedoch, danach zu suchen. Die Konzerte dauern meist bis tief in die Nacht. Man kann kommen und gehen, wann man will. Das vorwiegend junge Publikum ist bunt gemischt und tanzt nicht selten zu den betäubend langen, stark rhythmisierten Stücken; die Stimmung ist hypnotisierend.



Mittwoch, 30. April 2003
Gebäck, Gerümpel, Goyas und Gellértbad

Budapest
In einigen Budapester Museen dösen nur zweifelhafte Ausstellungsstücke vor sich hin – da sind Leckerein doch eine lockende Alternative.
 
Wenn das Wetter in Budapest unwirtlich ist, setzt man sich in die Konditorei oder schweift durch die Museen und erlebt dabei einige Überraschungen.
Von Matthias Zschokke

 

Die berühmteste, meistbesuchte und prächtigste Konditorei Budapests ist «Gerbeaud». Sie aufzusuchen, bereitet Lust. Sich vorzustellen, wie die Torten schmecken könnten, wenn sie schmecken würden, ebenfalls. Besser lässt man die Schaumstoffattrappen aber stehen, trinkt einen Kaffee und geht weiter. Wer Kuchen essen möchte, sollte sich zurückhalten, bis er die in einem Innenhof versteckte «Cukrászda Auguszt» findet, eine verrumpelte, alteingesessene Café-Konditorei, wie sie in Erinnerungen manchmal auftaucht. Eine ihrer Spezialitäten sind Crèmeschnitten: schwere, satt-zarte Vanillecrème mit einem Hauch von Blätterteig. Viele Kunden kommen nur dieser «Krémes» wegen hierher und trinken dazu ein Glas Wasser. Oder man geht ins «Lukács», ein angenehm ruhiges, herrschaftliches Café mit kleiner, guter Patisserieauswahl. Eine verlässliche Adresse ist auch das täglich geöffnete «Ruszwurm», eine winzige Biedermeierkonditorei direkt neben der Matthiaskirche, seit jeh von Touristen okkupiert und trotzdem vorzüglich.

Wenn das Wetter schlecht ist und man beim besten Willen keinen weiteren Kaffee mehr hinunterbekommt, kann man Museen besuchen. Zum Beispiel die Ungarische Nationalgalerie im Schloss auf dem Burghügel.

Ungarn hat eine leidvolle Geschichte. Es wurde von Mongolen, Türken, Habsburgern besetzt, stand in der jüngeren Vergangenheit politisch meist auf der verkehrten Seite und verlor 1920 sogar, zu seiner bis heute nicht verwundenen Schmach, zwei Drittel seines Territoriums. So vom Pech verfolgt, entwickelte es einen unbändigen Selbstbehauptungswillen. Ein Monument dafür ist das Budapester Schloss: Immer wieder zerstört und restauriert, wurde es kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs von den deutschen Besatzern endgültig in Schutt und Asche gelegt, um unverzüglich ein weiteres Mal aufgebaut zu werden, grösser denn je, heillos im Stil und mittlerweile ohne jede Funktion.

Über drei Etagen sind hier - in dafür völlig ungeeigneten Räumen - Gemälde und Plastiken von den ungarischen Anfängen bis zur Gegenwart ausgestellt. Man schleppt sich durch endlose Flure, Hallen, Vorhallen, über plumpe Treppen, an speckig glänzenden Darstellungen von Schlachten, Landschaften, Fürsten und Würsten vorbei. Bei allem Verständnis für das Bedürfnis nach nationaler Identität: Ausser ein paar gotischen Flügelaltären, einigen Skulpturen und mehreren Gemälden aus dem frühen 20. Jahrhundert, die jede Aufmerksamkeit verdienen, gehören die Exponate zum grossen Teil ins Depot eines Heimatmuseums.

Unlustig und erschöpft verlässt man die öden Fluchten, um in einem anderen Flügel des Schlossmonstrums auf das Ludwig-Museum zu stossen und sich die Laune davon endgültig verderben zu lassen. Der Raum ist interessant: ganz in rotem Stein, eine streng geometrisch aufgeteilte Halle mit einer imperialen Freitreppe. Hier war früher das Museum der Arbeiterbewegung untergebracht, das wahrscheinlich heute noch sehenswert wäre. Doch das Sammlerehepaar Ludwig aus Aachen, das der Stadt Köln mit millionenschweren Kunstschenkungen (Schwerpunkt Pop Art) vor ein paar Jahren den Bau eines Museums abpresste - das zu besuchen sich unbedingt lohnt -, hatte offenbar in seinem Keller noch ein paar übrig gebliebene Leinwände, die es, nachdem der Ostblock zusammengebrochen war, hier entsorgte, nicht ohne seine eigenwilligen Bedingungen auch an diese Schenkungen zu knüpfen und sich prominent gelegene Ausstellungsräume zu ertrotzen.

Abgesehen davon, dass jede bildende Kunst sich in der roten Halle verlieren würde, war Ludwigs Keller wohl nicht allzu gross. Die Werke, die in Budapest hängen, sind Krümel: Zwei Picassos aus dessen flauer Periode, eine blasse Miniatur von Roy Lichtenstein, ein müdes Selbstzitat Andy Warhols, ein Häuflein Beuys, zwei halbstarke Baselitze, ein Jasper Jones fürs Dekorationsgeschäft - dazu hat Budapest ein paar ungarische Arbeiten beigesteuert, über die zu urteilen ein delikates Thema wäre, weil die politischen Bedingungen, unter denen sie entstanden sind, die künstlerischen Kriterien in den Hintergrund drängen.

Die Schäbigkeit der Schenkung ist beschämend. Dem Osten fehlen nun einmal fünfzig Jahre Westkunst. Will er die Lücke füllen, muss er nehmen, was er bekommt. Diese Situation auszunützen und hier Ladenhüter zu parken, mit der Absicht, auf solche Weise im «Who’s who» der grossen europäischen Kunstsammler einen Platz zwischen Guggenheim und den Medici ergattern zu können, zeugt nicht von besonders feinem Gespür.

Wer Museen mag, sollte sich mehr auf die Ränder konzentrieren. Da gibt es zum Beispiel das Kunstgewerbemuseum, ein Märchenschloss mit einem Dach ganz aus bunter Keramik, innen drin ein weisser, filigraner Maharadschapalast von unvergleichlicher Luftigkeit. Weiterhin: die Wohnung Franz Liszts, das Haus der ungarischen Fotografie, das Postmuseum, untergebracht in einer grossbürgerlichen Wohnung aus dem neunzehnten Jahrhundert (schon nur des Treppenaufgangs wegen sollte man sich das nicht entgehen lassen: ein pompejanisch ausgemalter Dom, der sich bis in die dritte Etage hinaufzieht). Ebenfalls sehenswert sind die Universitätskirche, ein barocker Traum, und die Matthiaskirche, von Kunsthistorikern geschmäht, weil sie - wie das Schloss - nur ein Nachbau und also nicht echt ist, von Flaneuren geliebt, weil sie sich nicht um Kunsthistorie schert, sondern ausschliesslich um grösstmögliche sinnliche Wirkung bemüht ist. Lauter faszinierend fremde Welten, die man im Vorbeigehen besuchen und anstaunen kann.

Oder aber das Museum der Bildenden Künste: Ob einer an Malerei interessiert ist oder nicht, es zwingt jeden in die Knie. Ein Tempel mit turnhallengrossen, dreistöckigen Lichthöfen, Nebensälen, Galerien, jeder Raum anders ausgemalt und verziert, zum Teil ganz zart, zum Teil ägyptisch bunt. Man wird erschlagen von der Fülle und gerät in einen Rausch, stopft die in mehreren Reihen übereinander gehängten Rubens, Raphaels, Goyas und El Grecos in sich hinein, bis einem schwindlig wird und man erschöpft aufgibt. Am besten lässt man sich dann in ein Taxi fallen und ins Gellértbad fahren, um dort, in lichtem Jugendstil, neue Kräfte zu sammeln und Lust darauf zu bekommen, sich den Rest des Museums am nächsten Tag auch noch anzuschauen.



Mittwoch, 14. Mai 2003

Ein Republikaner verbeugt sich unwillentlich

budapest
Übermässig selbstsichere Solisten geben dem Opernabend eine gewisse Sattheit – ein schöner Kontrast zu den infernalisch singenden Kellnern.
 
Edle Damen reissen Opernkarten ab, Hotels verstecken sich in Amtsstuben: eine Abschiedstour durchs skurrile und vom Autor heiss geliebte Budapest.

Von Matthias Zschokke

Meine Nachbarn kommen aus Moskau. Sie haben eine neun Monate alte Tochter, Polina. Jeden Tag stellen sie sie mindestens dreimal für eine Stunde auf den Flur hinaus, welcher eine Art Balkon ist, über den man zu den einzelnen Wohnungen gelangt. Dort liegt dann das Mädchen, winzig klein, und schläft. Selbst im Januar lag sie da, im wildesten Schneetreiben, tief eingepackt. Die Eltern finden, sie dürfe nicht verweichlichen und müsse sich an russische Bedingungen gewöhnen. Ich bin jedes Mal begeistert, wenn ich Polina sehe. Sie ist von japanischer Blässe und schaut puderig zart aus wie das himmlische Kind. Einmal begann sie im Schlaf zu lachen, als ich mich über sie beugte.

Neulich musste ich sie hüten, weil die Eltern in die «Zauberflöte» wollten. Ich hatte ihnen zuvor vom Budapester Opernhaus erzählt, einem der schönsten und grössten Europas, einer wahrhaft erhabenen Kathedrale für Gesangskunst. Was und wie gespielt wird, ist unerheblich. Der Genuss, in den Glanz einzutreten, die geschwungenen Marmortreppen hinaufzuschreiten, links und rechts von deckenhohen Spiegeln flankiert, über dicke Teppiche und altes Parkett, eine Kaisergalerie entlang, im Sommer sogar hinaus auf eine grosse Terrasse über dem Andrassy-Boulevard, dann einen der Krönungssäle abendländischer Musik zu betreten, der so märchenhaft bunt und prachtvoll leuchtet - das ist das eigentliche Ereignis.

Das Publikum rekrutiert sich erwartungsgemäss aus dem gehobenen Bürgertum, das hier aber glücklicherweise erst im Begriff ist, sich neu zu organisieren. Es wirkt noch durchlässig, jung und verspielt - oder dann uralt, überholt, exzentrisch, wie verarmter Hochadel. Während der Pausen kann man in den Wandelhallen an den Fingern einzelner Herren ererbte Siegelringe und Rubine funkeln sehen. Greisinnen tragen Diademe aus Sisis Epoche. Alte Damen, die mit Sicherheit noch ein «Edle von» vor ihrem Namen führen und nur auf Grund widriger Umstände heute dazu genötigt sind, ihr Leben mit Kartenabreissen zu finanzieren, bieten Programmhefte an auf so noble und gleichzeitig gebieterische Art, dass man sich selbst als eingefleischter Republikaner unweigerlich verbeugt, nachdem man eins in Empfang genommen und Ihrer Hoheit dafür - vor Scham errötend - ein Trinkgeld zugesteckt hat.

Für ungarische Musiker und Sänger ist es zweifellos die Erfüllung ihrer Jugendträume, hier aufzutreten. Erreichen sie das Ziel, lehnen sie sich zurück und atmen aus. So kommt es, dass beim Zuhören nicht selten der Eindruck entsteht, die Sänger hätten auf den Stimmbändern ein wenig Fett angesetzt, sie sängen gewissermassen unkündbar. Am liebsten möchte man ihnen, um ihren Ehrgeiz anzustacheln, hin und wieder zuzischeln, draussen vor der Tür stehe ein nachdrängender Orpheus und beabsichtige, sie zu Vorgängern zu machen. Ein Problem, das wohl die freie Marktwirtschaft mit sich gebracht hat: Der Etat reicht nicht aus, um Spitzensänger ans Haus zu binden. Trotzdem ist ein Abend in der Budapester Oper ein unvergessliches Erlebnis, und dementsprechend schwierig ist es, Karten zu bekommen, egal wofür (wobei es tatsächlich egal ist, wofür man sie bekommt: Die Inszenierungen und das Repertoire sind eher altbacken und bieten wenig Herausragendes). Der Chor und das Orchester wären ausgezeichnet - wenn sich nur die Solisten nicht so sicher wähnten!

Hinterher, heisst es, soll man das benachbarte Restaurant «Belcanto» aufsuchen. Die warm gemachten Lebensmittelhaufen, die auf den Tisch kommen, werden von Kellnern serviert, die sich zwischen den Gängen zu holzschnittartig choreografierten Arrangements zusammenstellen und bekannte Arien zum Besten geben (zum Beispiel die passende von Graf Zsupan aus dem «Zigeunerbaron»: «Mein idealer Lebenszweck ist Borstenvieh, ist Schweinespeck», oder aber, bevor sie auftragen: «Auf in den Kampf, Torero», in Ungarisch, brüllend laut). Die Stimmung ist ohne Frage ungewöhnlich, geradezu infernalisch, als würde Fellini einem Amerikaner Ungarn erklären wollen.

Obwohl die Stadt nicht am anderen Ende der Welt liegt, vermag sie immer mal wieder mit solch fremdartigen Situationen zu überraschen. Zum Beispiel entschliesst man sich, ins Kino zu gehen (das Kinoangebot ist reichhaltig und verführerisch; ausländische Filme laufen meist im Original mit ungarischen Untertiteln; die Projektionen sind vorbildlich, die Eintrittspreise moderat). Zufällig läuft der Film im Urania. Man geht hin - und findet sich in einem orientalischen Palast aus den frühen Zwanzigerjahren wieder. Aus der ersten Etage, einer Galerie mit Balustrade, erklingen leise alte Tangoschlager. Neben der Kasse gibt es eine grosse Garderobe mit Garderobier, dem man abgeben kann, was man zum Filmgenuss nicht braucht. Befreit geht man die Treppen nach oben - und steht zwischen tanzenden Paaren. Zwei Lehrerinnen, denen die Knie weh tun, versuchen, diesem und jener eine neue Beinverschlaufung beizubringen. Entspannt, ohne Ehrgeiz, fast ohne Rhythmus auch, müde und leise schleifen die Paare übers Parkett. Kaffeehaustische stehen herum, man trinkt, isst, sitzt, redet leise miteinander oder tanzt. Niemand stört sich am anderen, keine Anzüglichkeiten, keine Eitelkeit, jeder kümmert sich um sich selbst. Dann geht man ins Kino, sieht den Film, kommt wieder heraus - und immer noch tanzen sie.

Oder man besucht die altmodisch hohe, weite Konditorei «Hauer». Irritiert über die wenigen Gäste, die sich in den Sälen verlieren, erfährt man auf Nachfrage, dass «Hauer» zwar ein Traditionshaus, jedoch jahrzehntelang geschlossen gewesen sei. Seine Renovation und Wiedereröffnung hätten sich noch nicht herumgesprochen, doch sei man zuversichtlich: In der neu erlangten Freiheit werde Budapest bestimmt wieder solch ausladende Kaffeehäuser brauchen, wie früher, als Ungarn noch bis an die Adria gereicht und seine eigene Marine gehabt habe. Am nächsten Tag geht man aus Solidarität wieder hin - und steht vor verschlossener Tür, weil die ganze Pracht von den Handwerkern, die sie wiedererschaffen haben, über Nacht zerstört worden ist (angeblich seien deren Rechnungen nicht beglichen worden). Glücklicherweise lösen solche Rückschläge hier ein vehementes «Jetzt erst recht» aus: Noch am gleichen Tag wurde mit der erneuten Instandsetzung begonnen, und nun ist «Hauer» endgültig auferstanden.

Oder man steht vor einem Baudenkmal, dem ehemaligen Finanzministerium, und entdeckt am gusseisernen Portal ein Pappschild, auf dem «Hotel» steht, Man folgt dem gemalten Pfeil, durchquert eine neogotische Halle, steigt Treppen hinauf, schreitet durch zwielichtige Säle und Flure und steht zuletzt tatsächlich vor einer Réception: Einige der Amtsstuben sind zu Zimmern umfunktioniert worden - Kafkas Schloss als Fremdenpension. Vielleicht der geeignete Einstieg, um von hier aus diese Stadt mit ihren eigensinnigen Abweichungen von jedem lackierten Ansichtskartenideal kennen zu lernen.









"Den Tagesgeschäften nachfliegen"

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Von Wilhelm Droste

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Ein merkwürdiger Anblick, die kleine Bühne, auf der Matthias Zschokke, der Schweizer aus Berlin, in Budapest zu lesen hatte. Das noch ganz frische Mitteleuropainstitut im verkehrsgequälten Herzen der Stadt feiert derzeit mit einer Serie imposanter Bilder das Leben und Schaffen von Thomas Bernhard, und die Überkreuzung zweier Inszenierungen wollte es so, daß ein riesiger, reifer Bernhardschädel den Hintergrund zu dem Tischchen abgab, an dem sein Kollege Zschokke lesen sollte und las. Es blieb der Hörerschaft, vornehmlich deren Augen, die freie Wahl des Sehens: Küßt der tote Meister den jüngeren Autor, der sich nah seinen Lippen niederließ, oder speit er ihn aus mit dieser wunderbar penetrierenden Wut, für die wir seine Sprache lieben.

Es spricht viel für den Kuß, wenn [es] auch nicht unbedingt die Texte und Buchauszüge [sind], die Zschokke an diesem glühend heißen Sommerabend las. Wer aber das auszugsweise vorgetragene Buch Der dicke Dichter ganz studiert, der findet tobende Passagen, die sich auch bei Bernhard unterbringen ließen. Ganz sicher aber bleibt festzuhalten: Auch Zschokke geht es bei seinem Schreiben um die Benennung und Rettung des Leidenschaftlichen, auch Zschokke ist ein Autor, der sich nur in Sichtweite vom eigenen Ich entfernt, auch seine Texte sind beste, eigenste Handarbeit, keine postmodernen Trickprodukte, sie sind unmittelbar und drängend, das Ich ist der Held, auch wenn er anders genannt wird. Alle Ruhe und Distanz sind nur vorgetäuscht, jeder Realismus geht vom Herzen aus.

Thomas Bernhard Matthias Zschokke

Der Autor des dicken Dichters ist ein dünner Dichter, ein auffällig schöner Mann, und das liegt nicht nur an seiner Haut und seinem Wuchs, sondern ganz entschieden an seiner Kleidung. Die Disziplin, mit der er seine Sprache formt und ausnüchtert, ist die gleiche Handschrift, mit der er Hosen, Hemden, Gürtel und Mäntel wählt und trägt. Fast zu schade, diese textile Kunst am eigenen Körper, für die Gelegenheitsarbeit als Aktmodell, von der im einleitenden Vorspann seiner Budapester Gastgeber berichtet wurde. Aber vielleicht ist es ja so, daß die Kunst seines heutigen Gekleidetseins auf seiner alten Erfahrung als Nackter basiert: das Hemd zu tragen wie die eigene Haut. Kein Ungar –das ist sicher- könnte sich in seiner Heimat gegenwärtig derartig kleiden und bewegen. Zu unsouverän ist die Verfassung dieses geschichtlich für seinen Stolz so berühmten Landes. So gleicht seine körperliche Präsenz, seine schlichte Eleganz in dieser auf Europa zurasenden Stadt einem Mann, der längst schon angekommen ist, wo alle vor Ort hin wollen, und er bemüht sich so höflich wie redlich, nichts davon durchscheinen zu lassen, wie wenig faszinierend er das Ziel des rasenden Fetisch findet.

Zschokke hat sich in Ungarn und vor allem auch bei den Exilungarn in der Schweiz durch Zeitungsartikel dort über das Land und die Hauptstadt der Magyaren einen Namen gemacht. Einen unguten, denn er meckert angeblich zu viel und zu intensiv. Auch an diesem Abend liest er ein Beispiel aus dieser Artikelserie, er spricht über das Rudas, das wohl berühmteste türkische Dampfbad der Stadt. Nach Ende der Lesung schimpfte jemand so heimlich wie entschieden, das sei doch oberflächliches Touristeneinmaleins gewesen. War es nicht. Mit traumwandlerischer Sicherheit hat der Halbjahresstipendiat Zschokke den Ort im Mittelpunkt des Landes gefunden, dessen fünfhundert Quadratmeter magisch heilsam, weil absolut souverän sind, ganz egal, was draußen in der Welt passiert oder blockiert, ob Stalin herrscht oder der Papst kommt, und Zschokke, sichtlich zum Jünger dieses türkisch inspirierten Heilwasserkultes  geworden, beschreibt die tägliche Ordnung des Bades so minutiös, daß ein Tourist gar nicht merkt, wie liebevoll das ist. Wo er meckernd und verachtend klingt, etwa im Beschreiben der dicken, alten Ungarn, seiner Badegenossen, ist äußerste Vorsicht geboten, denn wo Zschokke meckert, da steht meistens etwas, was er ganz besonders schätzt und mag: Unverschämtheit ist sein ganz persönliches Eingeständnis der Schüchternheit. Das gilt übrigens auch für seine Kunstprosa. Der dünne Dichter Matthias Zschokke liebt den dicken Dichter seines Romans, er liebt ihn in christlicher Radikalität wie sich selbst. Der Buchheld bleibt namenlos, um so unendlich viele Namen annehmen zu können. Der dicke Dichter selbst sagt dazu: Manchmal gerät der Schreibende selbst ins Zentrum, ins Visier des Lesers, deckt sich mit dem Buchhelden, der ich bin, der jeder ist, erbarmungslos.

So müssen große Helden der Literatur gemacht sein, mit einem Eingang für jeden, der Eingang verdient. Zschokke jubelt seinen Figuren, die hoffnungslos spießig zu sein scheinen, die kühnsten und eigensten Schwächen und Sehnsüchte unter, und so spießen diese Spießer wie Speere in die Trägheit der Welt. Das ist nicht nur anregend, es ist amüsant und herzerfrischend. Sprachliche Akupunktur. Dazu ist es ein erotischer Vorgang. Sprache ist ein Medium des Vorspiels, und nicht zufällig tauchen im Roman immer wieder sexuelle Obsessionen und und schwellende Glieder wie aus heiterem Himmel auf. Zschokke fixiert das Eigene und Nahe im Spiel mit der Ferne und der Negation: Willst du A sagen, so mußt du Z schreiben, so dürfte ein Satz seiner Poetik heißen, mit der er in Ungarn ganz gut aufgehoben scheint, denn hier ist immer noch eine Region im aufgewühlten Osten, die an das Gegenteil der Realität glauben muß, um das Grundvertrauen in diese nicht völlig zu verlieren. Wer hier im Moment keine Gegenwelt hat, der baut sich keine mehr und wird sich lange suchen.

Auch Rilke bekommt von Zschokke sein Fett ab: Bald schreiben wir das neue Jahr, die Haltbarkeitsdaten in den Läden werden überklebt und durch andere ersetzt, die Rilkes schreiben ihre kostbaren Briefe an die theueren Fürstinnen, andere schreiben ihre Jahresbilanzen. Wieder hat die oben bereits beschriebene, äußerste Vorsicht zu gelten: Bei Zschokke ist Spott die Sprache des Flirts. Vorliebe für abgelaufene Lebensmittel soll ihm hier nicht unbedingt unterstellt werden, Nähe zu Rilke aber unbedingt, auch wenn er nichts davon weiß: Wenn es schon einen Rilke im Plural gibt, so gehört Zschokke selbst gewiß in die Reihe seiner nachlaßverwaltenden Engel. Malte Laurids Brigge ist wie Zschokke selbst ganz entschieden vom Schlage des dicken Dichters. [...]

"Pester Lloyd", Budapest, 9. Juli 2oo3, Nr.28