María L. Barbero
Spring Semester 1999
Deutsche Literatur des Expressionismus
Prof. Sigrid Bauschinger
Mutterschreie:
Vergleich zweier Elegien von
Else Lasker-Schüler und Rosalía de Castro
1. Einführung
Die elegische Dichtung hat ihre erste Darstellungen
in der Antike[1] und wurde
danach von mehreren deutschen Autoren kultiviert[2].
Das Thema des Kindstodes erscheint oft in der Literatur aller Kulturen.
Ohne auf andere Beispiele der Weltliteratur
einzugehen, werde ich mich in meiner Arbeit auf zwei weibliche Stimmen
konzentrieren, die ihre Klage und ihren Schmerz über den Verlust eines Kindes
zum Ausdruck bringen. Es handelt sich hierbei um eine deutsche Dichterin, Else
Lasker-Schüler, und um eine spanische, Rosalía de Castro. Ich werde in meinem
Paper durch meine Analyse zeigen, wie das persönliche Erlebnis in die Dichtung
dieser beiden Autorinnen einfließt, und wie sie ihre dichterischen Fähigkeiten
dazu benutzen, den Schmerz zu einem künstlerischen Höhepunkt auszuarbeiten, der
beiden zu einer Art Beruhigung und innere Akzeptanz des Geschehens verhelfen
soll.
Außerdem möchte ich auch noch auf einige
bemerkenswerte Gemeinsamkeiten hinweisen, die diese zwei Dichterinnen teilen.
Trotz geographischer, zeitlicher und kultureller Entfernung sind diese
Gemeinsamkeiten dafür verantwortlich, daß die Dichtung der beiden Autorinnen
eine Ähnlichkeit ausweist, wie man sie nur von "verwandten Seelen"
erwarten würde.
2. Rosalía de Castro
a. Biographische
Zusammenfassung
Castro wurde am 21.2.1837 in Santiago de Compostela
geboren. Sie wird als bedeutendste spanische Lyrikerin des 19. Jahrhunderts
gefeiert. Sie schrieb ihre Gedichte —mit Ausnahme der Sammlung "An den
Ufern des Sar" (1884)— in galicischen Sprache. Andere Werke sind
"Cantares gallegos" (mit Volkslied-Töne), 1863, und "Follas
novas", 1880, ein viel intimeres Buch in dem ihre Angst vor dem Tod und
ihre Einsamkeit und Erbitterung wegen unerfüllter Wünsche zum Ausdruck gebracht
werden. In Versen voll
Schwermut und Trauer stellt sie die Armut und Not der Galicier sowie die
Schönheit der galicischen Landschaft der Dürre des zentralen Kastiliens
gegenüber. Ihre von Heine und Bécquer beeinflußte Lyrik bereitete die
Erneuerung des Modernismus vor. Castro verfaßte auch zum Teil autobiographisch
gefärbte Romane und Erzählungen ("La hija del mar", 1859;
"Flavio", 1861; "Ruinas", 1864) sowie den an E. T. A.
Hoffmann gemahnenden Roman "El caballero de las botas azules" (1867).
Sie starb in Padrón, Provinz La Coruña, am 15.7.1885 an Krebs.
Castro wurde als illegitime Tochter eines
katholischen Priesters und einer Frau niedrigen Adelstands geboren. Ihre
Herkunft und ihre Kindheit, getrennt von Mutter und Vater, haben sie sehr
geprägt. Sie wurde von zwei Schwestern ihres Vaters großgezogen. Erst mit
fünfzehn Jahren ist sie zu ihrer Mutter gezogen. Obwohl sie nur sechs Jahre
zusammen erlebten bis Rosalía 1858 heiratete, hat sie ihre Mutter abgöttisch
geliebt und nach ihrem frühen Tod sehr vermißt[3].
Das hat einige ihrer Kritiker und Biographen dazu veranlaßt zu denken, daß es
zwischen den beiden schon während ihrer Kindheit eine enge Beziehung gegeben
haben muß[4],
im Gegensatz zur allgemein akzeptierten Meinung, die Mutter habe sich
ihretwegen geschämt und sie anderen Menschen überlassen.
Rosalía de Castro heiratete Manuel Murguía, einen
Intellektuellen[5], der sie
dazu brachte, ihre Verse zu veröffentlichen. Aus dieser Ehe sind sieben Kinder
geboren. Das sechste Kind, Adriano, ist mit 18 Monaten bei einem Unfall zu
Hause ums Leben gekommen. Ihm hat sie das Gedicht gewidmet, das ich hier
analysieren möchte.
Obwohl sie am Anfang ihrer Ehe sehr oft Murguía zu
seinen wechselnden Arbeitsstellen begleitete, hat Rosalía später lange Zeit in
Galicien bei ihren Kindern verbracht, während ihr Mann in Madrid arbeitete.
Castro wird als eine der wichtigsten literarischen
Stimmen in der Spanischen und Galicischen[6] Literatur gefeiert. Ihre Verse, in denen das
melancholische Bild ihrer Heimat vorherrscht (der Regen, die traurige Stimmung,
die Erinnerung an den Tod) gelten als Erneuerung in der Spanischen
dichterischen Landschaft ihres Jahrhunderts. Die romantischen Einflüsse sind
sehr wichtig und sie wird als erste große Dichterin Spaniens angesehen.
b. Das
Gedicht an Adriano[7]
Kurz nach dem Verlust ihres Sohnes schreibt Rosalía
de Castro folgendes Gedicht, das sich an der Tradition der Elegie orientiert,
auch wenn die Versmaße nicht mit den Elegien der Antike vergleichbar sind[8]:
Es war ein ruhiger Tag
lauwarm das Wetter,
und es regnete unaufhörlich,
schweigsam und sanft;
und während ich leise
weinte und schluchzte
mein Kind, zarte Rose,
schlafend starb.
Als es aus dieser Welt schied, was für eine
Ruhe auf seiner Stirn!
Als ich es gehen sah, was für ein Unwetter
auf meiner!
Erde über die unbegrabene Leiche
bevor sie sich zu zersetzen beginnt..., Erde!
Das Grab ist schon zu, beruhigt Euch,
sehr bald wird aus den frischen Brocken Erde
grün und kräftig das Gras wachsen.
Was
sucht ihr bei den Gräbern,
traurigen Blickes, Gedanken bewölkt?
Macht euch keine Sorgen um das, was wieder zu
Staub wird!
Nie wird derjenige, der im Grabe ruht
zurückkommen, um euch zu lieben oder zu
beleidigen.
Nie! Ist es war, daß alles
für immer endet?
Nein, das, was ewig ist kann nicht enden,
und auch die Unendlichkeit kann kein Ende
haben.
Du
bist für immer gegangen; aber meine Seele
wartet immer noch mit liebevollem Eifer,
und du wirst kommen, oder ich werde gehen,
Schatz meines Lebens
dahin, wo wir uns treffen werden.
Etwas von dir ist in meinem Inneren
geblieben,
das nie sterben wird
und Gott, gerecht und gut wie er ist,
wird dies nie von mir trennen.
Im Himmel, auf der Erde, im Unergründlichen
werde ich Dich finden und Du mich.
Nein, das, was ewig ist kann nicht enden,
und die Unendlichkeit kann kein Ende haben.
Aber...
es ist wahr, er ist weg
und wird nie wieder zurückkehren.
Es gibt nichts Ewiges für den Menschen, Gast
für einen Tag in dieser irdischen Welt
wo er geboren wird, lebt und dann stirbt,
genauso wie Alles hier geboren wird, lebt und
dann stirbt.
Es handelt sich hiermit um acht unregelmäßige
Strophen unterschiedlicher Länge und Reim (meine Übersetzung reimt sich
selbstverständlich nicht, aber die spanische Originalverse haben einen
weiblichen Reim). Es gibt Strophen mit zwei, vier, fünf, sechs und acht Versen.
Mehr Variationen sind kaum vorstellbar, und sie sprechen über die Verzweiflung
der Autorin, die ihren Schmerz nicht durch einen festen Reim zügeln kann. Die
zweite Strophe könnte man als elegisches Distichon in der alten griechischen
Tradition lesen. Die Abwechslung von kurzen und langen Strophen wird in der
Spanischen Literatur als Einfluß von romantischen Autoren des 19. Jahrhunderts
angesehen, darunter José de Espronceda und G. A. Bécquer[9].
Was das Thema angeht, haben wir hier zwei
poetologische Ebenen, die man ganz klar unterscheiden kann: die innere der
Autorin und die äußere, die das tägliche Leben und das Geschehen darstellt.
In der ersten Strophe wird eine Lagebeschreibung
gegeben:
Es war
ein ruhiger Tag
lauwarm
das Wetter,
und es
regnete unaufhörlich,
schweigsam
und sanft;
und
während ich leise
weinte
und schluchzte
mein
Kind, zarte Rose,
schlafend
starb.
Die Umgebung wird als ruhig beschrieben; der
galicische Regen und die melancholische Stimmung werden dargestellt. Die
tragische Situation wird leidenschaftslos dargestellt: die Mutter weint und
schluchzt, das Kind stirbt "schlafend"[10].
Als es aus dieser Welt schied, was für eine
Ruhe auf seiner Stirn!
Als ich es gehen sah, was für ein Unwetter
auf meiner!
In diesem elegischen Distichen ist wieder ein
Vergleich zwischen den beiden Lagen zu erkennen: Ruhe bei dem Kind,
Verzweiflung ("Unwetter")
bei der Mutter.
Erde
über die unbegrabene Leiche
bevor
sie sich zu zersetzen beginnt..., Erde!
Das
Grab ist schon zu, beruhigt Euch,
sehr
bald wird aus den frischen Brocken Erde
grün
und kräftig das Gras wachsen.
Die dritte Strophe ist ein Versuch, die Wirklichkeit
objektiv darzustellen. Die Mutter entfernt sich so sehr vom Geschehen, daß sie
sogar die Kraft hat, externe Beobachter des Geschehens zur Ruhe zu berufen
("beruhigt Euch"). Die
Details, die präsentiert werden (die Leiche wird sich zersetzen, das Gras wird
auf dem Grab wachsen) scheinen von einem äußeren Ich der Dichterin zu kommen,
die versucht, Distanz zu bewahren. Die gleiche distanzierte Stimmung herrscht
in der nächsten Strophe:
Was sucht
ihr bei den Gräbern,
traurigen
Blickes, Gedanken bewölkt?
Macht
euch keine Sorgen um das, was wieder zu Staub wird!
Nie
wird derjenige, der im Grabe ruht
zurückkommen,
um euch zu lieben oder zu beleidigen.
Die Autorin scheint ironischerweise gegen diejenigen
zu rebellieren, die traurig und betroffen durch den Tod des Kindes sind ("Was sucht ihr..."). Sie benutzt
dafür Trostwörter, die sie vermutlich als Mutter von anderen hören mußte
("Nie wird derjenige,[...] zurückkommen"). Aber in der
nächsten Strophe wird sie dieses gleiche Argument mit einer rhetorischen Frage
("Nie! Ist es war, daß alles für
immer endet?") umdrehen:
Nie!
Ist es war, daß alles
für
immer endet?
Nein,
das, was ewig ist kann nicht enden,
und
auch die Unendlichkeit kann kein Ende haben.
Die Dichterin ist aus dem äußeren Ich in das innere
Ich zurückgekehrt. Ihre eigene Gedanken, ihre eigene Philosophie wird
dargestellt ("das, was ewig ist kann
nicht enden, und auch die Unendlichkeit kann kein Ende haben"), um
Hoffnung zu schaffen.
Du bist für immer weggegangen; aber
meine Seele
wartet
immer noch mit liebevollem Eifer,
und du
wirst kommen, oder ich werde gehen, Schatz meines Lebens
dahin,
wo wir uns treffen werden.
Die mütterlichen Gefühle kommen dann ans Licht,
zusammen mit der Hoffnung von einem Wiedersehen zwischen Mutter und Kind. Die
Wirklichkeit wird durch die geistige Empfindung ersetzt. Das Kind wird mit
Kosenamen genannt.
Etwas
von dir ist in meinem Inneren geblieben,
das nie sterben wird
und
Gott, gerecht und gut wie er ist,
wird
dies nie von mir trennen.
Im
Himmel, auf der Erde, im Unergründlichen
werde
ich Dich finden und Du mich.
Nein,
das, was ewig ist kann nicht enden,
und die Unendlichkeit kann kein Ende haben.
In der siebten Strophe kommt die klare religiöse Aussage:
etwas vom Kind wird bei der Mutter unsterblich sein ("Etwas von dir ist in meinem Inneren geblieben, das nie sterben wird"),
und Gott und der Himmel werden als Zeugen beschworen. Die Strophe endet mit dem
Leitmotiv, das in der fünften Strophe die Wendung der Stimmung im Gedicht
ankündigte:
Nein,
das, was ewig ist kann nicht enden,
und die Unendlichkeit kann kein Ende haben.
Vorher war das Versprechen eines Wiedersehens
ausgesprochen worden ("werde ich
Dich finden und Du mich").
In der letzten Strophe kehren Vernunft ("es ist wahr, er ist weg und wird nie wieder
zurückkehren") und philosophische, rationale Gedanken in die Autorin
zurück. Am Ende hat man das Gefühl, daß sie sich vom Geschehen distanziert hat,
vielleicht durch ihre vorher ausgedruckte Überzeugung, daß die Trennung von
ihren Kind nur zeitlich ist:
Aber... es ist wahr, er ist weg
und
wird nie wieder zurückkehren.
Es
gibt nichts Ewiges für den Menschen, Gast
für
einen Tag in dieser irdischen Welt
wo er
geboren wird, lebt und dann stirbt,
genauso
wie Alles hier geboren wird, lebt und dann stirbt.
3. Else Lasker-Schüler
a. Biographische
Zusammenfassung
Else Lasker-Schüler wurde am 11. Februar 1869 als
Tochter eines Bankiers in Wuppertal-Elberfeld geboren. Sie hatte eine sehr enge
Beziehung zu ihrer Mutter, deren Tod 1890 ein großer Verlust für Lasker-Schüler
war[11].
Ihre ersten Gedichte erschienen 1899. Sie lebte lange Jahre in Berlin (wo ihr
Sohn Paul am 24.8.1899 geboren wurde) und war in den literarischen Cafés zu
Hause. Sie traf mit vielen Künstlern und Schriftstellern ihrer Zeit zusammen.
Sie war zweimal verheiratet. Sie lebte von ihren literarischen Produktionen und
ihren Zeichnungen; aber immer mit Geldsorgen. Der Sohn war ein begabter
Zeichner und sie liebte ihn abgöttisch. M. Schmid-Ospach [12]
behauptet, "Die grenzenlose Liebe zur Mutter und zum Bruder Paul übertrug
sich und vereinte sich auf den Sohn Paul". Er starb 28jährig am 14
Dezember 1927 in Berlin.
Über den Tod des Sohnes schreibt sie: "Am
Abend, bevor er starb, empfand ich ihn wieder zweijährig. Ich hätte ihn tragen
können, einsingen können in den Todesschlaf... Wenn ein Kind stirbt, weiß man,
daß Raum und Zeit Zustand ist, und man vermag nur zu knien, sein Kind im
Sterben zu erreichen."
Das Gedicht "An mein Kind" erschien in drei
Bücher der Autorin: "Konzert" (1932), "Hebräerland" (1937)
und "Mein blaues Klavier" (1943).
1933 hatte sie emigrieren müssen, zuerst in die
Schweiz, dann nach Israel. Am 22. Januar 1945 starb sie in Jerusalem.
b. Das
Gedicht an Paul
Dieses Gedicht ist in elegischen Distichen
geschrieben. Der Reim ist frei, einige Verse sind kürzer, andere lang.
An mein Kind
Immer wieder wirst du mir
Im scheidenden Jahre sterben, mein Kind,
Wenn das Laub zerfließt
Und die Zweige schmal werden.
Mit den roten Rose
Hast du den Tod bitter gekostet,
Nicht ein einziges welkendes Pochen
Blieb dir erspart.
Darum weine ich sehr, ewiglich.....
In der Nacht meines Herzens.
Noch seufzen aus mir die Schlummerlieder,
Die dich in den Todesschlaf schluchzten,
Und meine Augen wenden sich nicht mehr
Der Welt zu;
Das Grün des Laubes tut ihnen weh.
— Aber der Ewige wohnt in mir.
Die Liebe zu dir ist das Bildnis,
Das man sich von Gott machen darf.
Ich sah auch die Engel im Weinen,
Im Wind und im Schneeregen.
Lasker-Schülers Gedicht ist thematisch in Paaren
organisiert. Die erste zwei Distichen beinhalten eine Aussage darüber, daß der
Schmerz über den Verlust des Sohnes die Dichterin immer begleiten wird:
Immer
wieder wirst du mir
Im scheidenden Jahre sterben, mein Kind,
Wenn
das Laub zerfließt
Und
die Zweige schmal werden.
In den nächsten zwei wird die Erinnerung an das
Leiden deutlich, das der Sohn ertragen mußte:
Mit
den roten Rose
Hast
du den Tod bitter gekostet,
Nicht
ein einziges welkendes Pochen
Blieb
dir erspart.
Die nächsten zwei sind eine Aussage über den
grenzenlosen Schmerz der Mutter, und über die Ewigkeit, die sie für diesen
Schmerz voraussagt:
Darum
weine ich sehr, ewiglich.....
In der
Nacht meines Herzens.
Noch
seufzen aus mir die Schlummerlieder,
Die
dich in den Todesschlaf schluchzten,
Das siebte Distichon druckt die Beziehung der
Dichterin zur restlichen Welt aus; der Tod des Sohnes bedeutet für sie
Isolierung und Erlöschen des Interesses an anderen Sachen:
Und
meine Augen wenden sich nicht mehr
Der
Welt zu;
Und dann spricht sie über den Gegensatz zwischen dem
Irdischen, dem Zeitlichen (Das Grün des
Laubes, das ihren Augen weh tut) und dem Ewigen, dem Göttlichen, das sie
tröstet und in ihr wohnt:
Das
Grün des Laubes tut ihnen weh.
— Aber der Ewige wohnt in mir.
Und diese Erwähnung des Ewigen ist die Einführung zu
dem, was ich als Hauptaussage des Gedichtes sehe:
Die
Liebe zu dir ist das Bildnis,
Das man sich von Gott machen darf.
Man kann behaupten, daß für Lasker-Schüler die Liebe
der Mutter zum Kinde mit der himmlischen Liebe gleichgestellt ist[13].
Diese Liebe vermittelt eine geistige Kraft, die zur Wiedergeburt führt und die
das ewige Leben ankündigt. Und hiermit wird auch die Verbindung zum letzten
Distichon gebildet, in dem das Himmlische (der Engel) mit dem Menschlichen
verbunden wird (der Engel weint) und in dem die Natur als Kulisse des Ganzen
vorherrscht:
Ich
sah auch die Engel im Weinen,
Im Wind und im Schneeregen.
4. Ähnlichkeiten und Parallelen zwischen
beider Autorinnen
Rosalía de Castro und Else Lasker-Schüler verfügen
über gewisse biographische Erfahrungen, die ähnliche Auswirkungen auf beide
Dichterinnen gehabt haben. Beide haben ihre literarische Karriere als
Dichterinnen angefangen (Rosalía in 1857, zwanzigjährig; Lasker-Schüler in
1899, mit dreißig Jahren).
Man sollte die Tatsache beachten, daß sowohl
Lasker-Schüler als auch Castro als "dichtende Frauen" einen
besonderen Minderheits-Status in ihren Gesellschaften genossen. Während
Lasker-Schüler aus einer jüdischen Familie stammte, stammte Castro aus einer
Region Spaniens (Galicia), die eine eigene Geschichte und Mythologie hat und
deren Einwohnern eine sehr ausgeprägte melancholische Empfindsamkeit
zugesprochen wird.
Was den sozialen Status angeht, war die Entwicklung
beider Frauen umgekehrt: Else Lasker-Schüler, die in einer wohlhabenden
Bourgeois Familie geboren wurde, hat sich absichtlich vom bürgerlichen Dasein
distanziert; Rosalía de Castro, uneheliche Tochter eines katholischen
Priesters, hat sich in mit Mühe die Anerkennung der bürgerlichen Gesellschaft
"eingearbeitet".
Der Einfluß der Liebe zur Mutter war in beiden
Autorinnen sehr groß.
Bezüglich der thematischen und ästhetischen
Ähnlichkeiten beider Gedichte, möchte ich auf folgende Punkte aufmerksam
machen:
1.
Die Autorinnen schreiben elegische Gedichte an den verlorenen Sohn.
Obwohl Paul Lasker schon erwachsen war, als er gestorben ist, präsentiert ihn
Else Lasker-Schüler in ihrem Gedicht wie ein Kind. Beide Dichterinnen erleben den
Tod des Kindes wie ein Schlaf, für den sie ein leises Lied singen:
Lasker-Schüler |
Rosalía |
Noch seufzen aus mir die
Schlummerlieder, Die dich in den
Todesschlaf schluchzten, |
während ich leise weinte und schluchzte mein Kind, zarte Rose, schlafend starb. |
2.
Sie beschreiben der Zustand der Natur, als das Kind starb:
Lasker-Schüler |
Rosalía |
a) Wenn das Laub zerfließt Und die Zweige schmal werden b) Im Wind und im Schneeregen. |
Es war ein ruhiger Tag lauwarm das Wetter, und es regnete
unaufhörlich, schweigsam und sanft; |
3.
Sie präsentieren eine lebendige und kräftige Natur im Gegensatz zum
toten Kind:
Lasker-Schüler |
Rosalía |
Das Grün des Laubes tut ihnen (meinen Augen) weh |
sehr bald wird aus den
frischen Brocken Erde grün und kräftig das Gras wachsen |
4.
In ihrem Schmerz distanzieren sie sich von den anderen Menschen und vom
Rest der Welt:
Lasker-Schüler |
Rosalía |
Und meine Augen wenden
sich nicht mehr Der Welt zu |
Was sucht ihr bei den
Gräbern, traurigen Blickes,
Gedanken bewölkt? Macht euch keine Sorgen um das, was wieder zu
Staub wird! |
5.
Sie behaupten, etwas vom Kind lebt ewig in ihnen:
Lasker-Schüler |
Rosalía |
a) — Aber der Ewige wohnt in mir. b) Darum weine ich sehr, ewiglich..... |
a) Du bist für immer weggegangen; aber meine Seele wartet immer noch mit liebevollem Eifer, und du wirst kommen, b) Etwas von dir ist in meinem
Inneren geblieben, das nie sterben wird c) Nein, das, was ewig ist kann nicht enden, und auch die Unendlichkeit
kann kein Ende haben. |
6.
Sie präsentieren religiöse Bilder:
Lasker-Schüler |
Rosalía |
a) Die Liebe zu dir ist das
Bildnis, Das man sich von Gott machen darf. b) Ich sah auch die Engel im Weinen |
a) und Gott, gerecht und gut wie er ist, wird dies nie von mir
trennen. c) Im Himmel, auf der
Erde, im Unergründlichen werde ich Dich finden und Du mich. |
7.
Sie rufen das Kind mit Kosenamen:
Lasker-Schüler |
Rosalía |
mein Kind. |
Schatz meines Lebens ("bien de mi vida") |
8.
Zum Schluß drücken beide Autorinnen ihre Zuversicht aus, daß sie sich mit
ihren Kinder wieder treffen werden, auch wenn dieser Gedanke bei Lasker-Schüler
nicht so positiv geladen ist wie bei Rosalía de Castro.
Lasker-Schüler |
Rosalía |
Immer wieder wirst du mir Im scheidenden Jahre sterben, mein Kind, |
Im Himmel, auf der Erde,
im Unergründlichen werde ich Dich finden und
Du mich. |
Es ist fraglich, ob Else Lasker-Schüler das Werk
Rosalías gekannt hat und somit ein Einfluß Castros auf Lasker-Schüler zu
begründen wäre.
Wenn kein Einfluß nachzuweisen ist, kann man davon
ausgehen, daß ihre schmerzhafte Erfahrung beide Dichterinnen dazu veranlaßt
hat, ihrem Schmerz Ausdruck zu verleihen. Daß sie ähnliche Bilder und Ausdrücke
benutzen, könnte in der Tatsache liegen, daß gewisse Lebenserfahrungen in
beiden Autorinnen eine ähnliche Empfindsamkeit bewirkt haben.
Verzeichnis der verwendeten
Literatur
Bücher
Über Rosalía de
Castro
-
Castro, Rosalía, En las orillas
del Sar. Castalia: Madrid, 1976 (Edición de Marina Mayoral).
-
Girgado, Luis Alonso, Rosalía de
Castro, rosa de sombra. Torremozas: Madrid, 1994.
-
Kirkpatrick, Susan (Hg.), Antología
poética de escritoras del Siglo XIX. Castalia: Madrid, 1992.
-
Montero, Eugenia, Rosalía de
Castro. La luz de la negra sombra. Silex: Madrid, 1985.
-
Vázquez Rey, Antonio, Esbozo para
unha Biografía de Rosalía. Edicios do Castro: A Coruña, 1995.
Über Else
Lasker-Schüler
-
Else Lasker-Schüler, Gedichte
1902-1943. DTV: München, 1986.
-
Else Lasker-Schüler, Gesammelte Werke in drei Bänden (Erster Band,
Gedichte). Suhrkamp: Frankfurt am Main, 1996.
-
Cohn, Hans W., Else
Lasker-Schüler. The Broken World. Cambridge University Press: Cambridge,
1974.
-
Guder, Gotthard, Else
Lasker-Schüler. Deutung ihrer Lyrik. Vorländer: Siegen, 1966.
-
Klüssener, Erika und Friedrich Pfäffin, Else Lasker-Schüler 1869-1945. Mit einer Auswahl aus den Tagebüchern
von Werner Kraft. Marbacher Magazin 71/1995: Marbach am Neckar, 1995.
-
Schmidt-Ospach, Michael, Elisabeth
Lasker-Schüler. Eine Biographie. In Mein
Herz, Niemandem. Ein Else Lasker-Schüler-Almanach. Herausgegeben von Michael
Schmidt-Ospach. Peter Hammer Verlag: Wuppertal, 1993.
Audiovisuelle
Media
Encarta 97 Enzykloplädie (Microsoft Corporation) (Zu
Versmaße)
Internet-Seiten
Auf Deutsch
Lasker-Schüler
http://members.aol.com/woheisch/linksd1.htm#inhalt
http://www.els.gesellschaft.wtal.de/
Rosalía de Castro und Galicien
http://homepages.uni-tuebingen.de/kabatek/normen.htm
http://www.fu-berlin.de/fun/10-98/w1.htm
Auf Englisch
Lasker-Schüler
http://www.igc.apc.org/ddickerson/lasker-schueler.html
http://www.userpage.fu-berlin.de/~markhall/elsch.html
http://www.boydell.co.uk/1838.HTM
Rosalía de Castro und Galicien
http://inferno.asap.um.maine.edu/faculty/march/Rosalia.html
Auf Spanisch
Lasker-Schüler
http://www.escuela-interlet.com/critico/critico4/4crit4.htm
http://www.geocities.com/Athens/Acropolis/7894/alefem.html
Rosalía de Castro und Galicien
http://www.ctv.es/USERS/mforca/prolcantares.htm (Auf
Galicisch)
Anmerkungen
[1] Die Elegie (aus dem Griechischen élegos: Klagelied) ist unter formalen
Aspekten ein Gedicht jedweder Thematik in elegischen Distichen, unter
inhaltlichen Aspekten ein wehmütig-resignatives Klagegedicht. In der
griechischen Antike, wo die Elegie im 7. Jahrhundert v. Chr.
in Ionien entstand, war zumeist die erstere Form vorherrschend (nur das Epigramm wurde nicht der
Elegie zugerechnet), während sich bereits im antiken Rom (etwa bei Catull und Kallimachos) der Kanon
immer mehr auf das Klagemoment hin verengte.
[2] In Deutschland führte Martin Opitz die lyrische Gattung ein und
versah sie mit einem persönlich-melancholischen Ton, der das Vergangene
betrauern sollte. Friedrich
Gottlieb Klopstock etablierte
dann die Elegie unter Rückgriff auf das elegische Distichon der Antike.
Bedeutende Elegien der Klassik schufen Goethe (Römische Elegien) und Schiller (Das Ideal und
das Leben), doch wurde die Form erst von Friedrich Hölderlin mit Menons
Klage um Diotima, Heimkunft oder Der
Wanderer vollendet. Weitere Elegien stammen etwa von Paul Fleming, Friedrich Freiherr von Logau (1604-1655), Johann Christoph Gottsched, Matthias Claudius, Eduard Möricke, Franz Grillparzer, Rainer Maria Rilke (Duineser
Elegien), Franz Werfel, Georg Trakl, Bertolt Brecht (Buckower Elegien), Karl Krolow, Gottfried Benn, Paul Celan, Ingeborg Bachmann, Nelly Sachs und anderen.
[3] In "A mi
madre" ("Meiner Mutter"), ein kleiner Gedichtband, der nach dem
Tod der Mutter veröffentlicht wurde, sagt sie:
¡Ay, que profunda tristeza!
¡Ay, qué terrible dolor!
Ella ha muerto y yo estoy
viva.
Ella ha muerto y vivo yo.
(So ein tiefer Trauer,
so ein schrecklicher
Schmerz.
Sie ist tot und ich lebe.
Sie ist tot und lebendig bin
ich.)
[4] Marina Mayoral,
Introducción a «En las orillas del Sar», en Clásicos Castalia, Madrid, 1978.
Pág. 12.
[5] "
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts bezeichnete Manuel Murguía, eine der
wichtigsten Persönlichkeiten des galicischen Rexurdimento, der
sprachlich-literarischen Wiedergeburt, Autor eines monumentalen galicischen
Geschichtswerks, Ehemann Rosalía de Castros und erster Präsident der Real Academia Gallega, die Ähnlichkeit
mit dem Portugiesischen als Maßstab für die Reinheit des Galicischen" (Aus
http://homepages.uni-tuebingen.de/kabatek/normen.htm)
[6] "
Sprachwissenschaftlich gesehen ist das Galicische in erster Linie mit dem
Portugiesischen verwandt. Beide haben sich aus dem ,,Galego-Portugués"
(Galicisch-Portugiesisch) entwickelt, einem Dialekt des Lateins, der sich in
der nordwestlichen Region der iberischen Halbinsel herausgebildet hatte.
Während das Portugiesische sich weit verbreitete, ist Galicisch immer eine ,,kleine"
unter den romanischen Sprachen geblieben." (Aus
http://www.fu-berlin.de/fun/10-98/w1.htm)
[7] Dies ist meine
Übersetzung vom Original Gedicht, das lautet
Era
apacible el día
y templado el ambiente,
y llovía, llovía,
callada y mansamente
y mientras silenciosa
lloraba yo y gemía,
mi niño, tierna rosa,
durmiendo se moría.
Al huir de este mundo, ¡qué sosiego en su
frente!
Al verle yo alejarse, ¡qué borrasca en la
mía!
Tierra sobre el cadáver insepulto
antes que empiece a corromperse..., ¡tierra!
Ya el hoyo se ha cubierto, sosegaos,
bien pronto en los terrones removidos
verde y pujante crecerá la hierba.
¿Qué
andáis buscando en torno de las tumbas,
torvo el mirar, nublado el pensamiento?
¡No os ocupéis de lo que al polvo vuelve!
Jamás el que descansa en el sepulcro
ha de tornar a amaros ni a ofenderos.
¡Jamás!
¿Es verdad que todo
para siempre acabó ya?
No, no puede acabar lo que es eterno,
ni puede tener fin la inmensidad.
Tú
te fuiste por siempre; mas mi alma
te espera aún con amoroso afán,
y vendrás o iré yo, bien de mi vida,
allí donde nos hemos de encontrar.
Algo
ha quedado tuyo en mis entrañas
que no morirá jamás,
y que Dios, porque es justo y porque es
bueno,
a desunir ya nunca volverá.
En el cielo, en la tierra, en lo insondable
yo te hallaré y me hallarás.
No, no puede acabar lo que es eterno,
ni puede tener fin la inmensidad.
Mas... es verdad, ha partido
para nunca más tornar.
Nada hay eterno para el hombre, huésped
de un día en este mundo terrenal,
en donde nace, vive y al fin muere,
cual todo nace, vive y muere acá.
[8] Die romanischen Sprachen wie
etwa Französisch, Italienisch, Spanisch und Portugiesisch verwenden ein anderes
System der Verslehre, das sich möglicherweise teilweise aus spät- oder
vulgärlateinischen Vorbildern entwickelt hat. Man nennt dieses System
alternierend, weil innerhalb einer Zeile die Anzahl der Silben und nicht
Betonung oder Länge der wichtigste Faktor ist.
[9] In Madrid hat
Rosalía nicht weit von Bécquer gelebt und sie haben sich persönlich gekannt.
[10] In Wirklichkeit ist
Adriano nicht im Schlaf gestorben, sondern als Folge eines Falls zu Hause. Das
Kind hat sich den Kopf geschlagen und war sofort tot (E. Montero, Rosalía de
Castro. La luz de la negra sombra. Silex: Madrid 1985. Seiten 151-152).
[11] Sie hat einige
Gedichte für ihre Mutter geschrieben:
Mutter
Ein weisser Stern
singt ein Totenlied
In der Julinacht,
Wie Sterbegeläut in
der Julinacht.
Und auf dem Dach die
Wolkenhand,
Die streifende,
feuchte Schattenhand
Sucht nach meiner
Mutter.
In fühle mein nacktes
Leben,
Es stösst sich ab vom
Mutterland,
So nackt war nie mein
Leben,
So in die Zeit
gegeben,
Als ob ich abgeblüht
Hinter des Tages Ende,
Versunken
Zwischen weiten
Nächten stände,
Von Einsamkeiten
gefangen.
Ach Gott! Mein wildes
Kindesweh!
...Meine Mutter ist
heimgegangen.
(GW I. S. 13)
[12] Schmid-Ospach, op.
cit. S. 16.
[13] Gotthard Gudert,
op. cit. S. 59.