Johann-Wolfgang-Universität
Grundkurs: Geschichte
der Kinder- und Jugendliteratur: Weimarer Republik
Dozent: Prof.
Dr. Hans Ewers
Protokollantin: Sidar
Demirdögen
Thema der Sitzung: Großstadt-Kinderromane:
I. Wolf Durian,
Kai aus der Kiste
II. Erich
Kästner, Emil und die Detektive
1) Zum Autor:
Wolf Durian wurde 1892 in Stuttgart geboren. Im Alter von 13 Jahren versuchte er nach Amerika durchzubrennen – allerdings ohne Erfolg. Durian wurde entdeckt und zurück nach Hause geschickt. Nach dem Abitur sollte sein Traum in Erfüllung gehen. Durian ging nach Amerika. Zurück in Deutschland studierte er Germanistik und Zoololgie und wurde Chefredakteur der Berliner Kinderzeitschrift „Der heitere Fridolin“, in der 1924 auch „Kai aus der Kiste“ als Fortsetzungsroman erschien.
Es ist Durians erfolgreichstes Buch in seiner literarischen Laufbahn.
Wolf Durian starb 1969 in seiner Wahlheimat Berlin.
2) Zur Entstehungsgeschichte:
„Kai aus der Kiste“ entstand aus der Idee einer spannenden
Fortsetzungsgeschichte für die Jugendzeitschrift „Der heitere Fridolin“, für
die der Ullstein Verlag Wolf Durian als Autor beauftragte. „Es sollte etwas
Neues sein, so witzig und fesselnd geschrieben, dass Tausende von Kindern
darauf brennen würden, die nächste Nummer der Zeitschrift zu kaufen.“(Sybille
Durian, S.107 in: „Kai aus der Kiste“/Nachwort, dtv Verlag, 2002).
Jede Fortsetzung war er erst kurz vor Drucktermin fertig.
Zwischen der Zeitschriften- und Buchausgabe wurden
Änderungen vorgenommen. So wurde aus der Schokoladenfabrik die
Zigarettenfabrik, später zur Kaugummifabrik. Schließlich wurden die Zigarette
und das Kaugummi wieder durch die Schokolade ersetzt. Zu einem Abbruch der
Geschichte und der Handlungen kam es jedoch nicht.
3) Zum Text:
Wir befinden uns in der Zeit der 20er Jahre. Schauplatz: Das kulturell und wirtschaftlich aufblühende Berlin. Das Milieu ist subproletarisch.
Kai, ein 13 jähriger aufgeweckter und lausiger
Zeitungsjunge, lebt gemeinsam mit seiner kleinen Schwester Erika ohne Eltern in
der Großstadt auf. Als Anführer der über 100-köpfigen Bande „Die schwarze Hand“
ist Kai (Spitzname: „die große Klapperschlang“) ein ehrgeiziger und
aufstrebender Junge, der das Großstadtleben fest im Griff zu haben scheint.
Eines Tages setzt der aus Amerika angereiste Schokoladenkönig Joe Allen eine
Anzeige in die Zeitung, in der ein Reklamekönig für seine Schokoladenfabrik
gesucht wird. Kai und Herr Kobalski, ein Reklameagent, melden sich auf die
Annonce hin. Eine extravagante Reklameaktion für die imaginären
Schokoladenmarken „TUT“ und „TAT“ soll innerhalb von zwei Tagen den endgültigen
Reklamekönig stellen. Kai startet mit seiner Bande eine riesige Reklameaktion
in der ganzen Stadt, was zu einem totalen Werbeverbot in Berlin führt. Herr
Kobalski wird auf eine tragisch-ironischen Weise „Opfer“ dieses Verbots.
Wenngleich Kai den Wettbewerb doch nicht gewinnt, endet der Roman mit dem Bild
des rundum erfolgreichen erwachsenen Fabrikbesitzers Kai.
„Kai aus der Kiste“ ist
eine bürgerliche Aufstiegs- bzw. Unternehmergeschichte des Zeitungsjungen Kai
proletarischer Herkunft..
Die Erzählperspektive
des Romans ist auktorial. Allerdings bleibt die Gefühls- und Gedankenwelt der
Protagonisten, einschließlich Kai, dem Leser verschlossen. Kurze, knappe Sätze
und schnell aufeinanderfolgende Handlungen geben dem Roman eine besondere
dynamische Wirkung. Es sind vor allem kurze Bilder, die filmrissartig
erscheinen. Ein Stil, der sich einerseits aus der Tatsache ergibt, dass es sich
um einen Fortsetzungsroman handelt, andererseits aus der Absicht des Autors,
das rasante Großstadtleben literarisch-stilistisch wiederzugeben.
a) Kai und die „Schwarze Hand“ / Beziehung zwischen Individuum und Masse
Interessant und oftmals
thematisiert, ist die Beziehung zwischen dem Individuum und der Masse in den
Großstadtromanen. Die Großstadt als Ort der Anonymität und der Einsamkeit
(verbunden mit dem Ersticken des Individuums im fremden Kollektiv) wird als
literarisches Thema zunehmend behandelt und bearbeitet. Wolf Durian hebt seinen
Protagonisten Kai stark aus der Masse hervor. Kai ist dominant, er hat
individuelle Fähigkeiten, die zugleich die Grundlage der Geschichte bilden. Die
Bandenmitglieder als Angehörige eines Kollektivs sind demgegenüber ersetzbar.
b) Das Amerikabild
In der Literatur der
Weimarer Republik tritt als ein besonderes Merkmal das Amerika-Motiv häufig
auf. Sowohl in der bürgerlichen als auch in der proletarischen Literatur werden
verschiedene Bilder Amerikas festgehalten. So wie auch bei Wolf Durian. In „Kai
aus der Kiste“ manifestiert sich das Amerikabild in der Person Joe Allen. Joe
Allen ist ein erfolgreicher und gerechter Unternehmer, der dem proletarischen
Zeitungsjungen die Möglichkeit zur Karriere gibt. Joe Allen ist zugleich ein
Beweis dafür, dass Geld nicht zwanghaft zum schlechten Menschen führt. Dahinter
versteckt sich zweifellos die Idee des „American Dream“, nach dem ungeachtet
sozialer Herkunft jeder/m die Chance hat, vom Tellerwäscher zum Millionär aufzusteigen.
Auf Grund der vielen Superlative verkommt die Idee allerdings zu einem
unrealistischen Prinzip.
c) Der bürgerliche Aufstiegsmythos
In Kern der
Aufstiegsgeschichte des Jungen Kai verbirgt sich ein bürgerlicher
Aufstiegsmythos. Demnach ist jeder Mensch an einem Platz, welchen er sich
selbst durch Wissen und Fleiß erarbeitet und verdient hat. Diese Grundidee
setzt sich klar ab von klassentheoretischen Ansätzen. Ein Boss ist Boss, weil
er zum Boss geboren wurde. Individuelle Talente und Fähigkeiten sind der Kern
des sozialen und materiellen Aufstiegs – ungeachtet von Klassenzugehörigkeiten
(und somit kollektivem Schicksal). Der bürgerliche Aufstiegsmythos ist ein
populärer Mythos, den Durian aus Amerika nach Deutschland mitbringt. Die
Geschichten spiegeln die Phantasie der Bosse und werdender Bosse wider.
d) Kai – vom Zeitungsjungen zum Unternehmer
Wolf Durians “Kai aus
der Kiste” ist die Geschichte eines „Superboy“. Kai ist eine Vorform von
Superman in jeglicher Hinsicht. Sein außerordentlicher Grips verschafft ihm den
Sprung nach oben. Seine proletarische Herkunft ist dabei kein Hemmnis. Auch
fehlen ihm klassentypische Charakterzüge. Z.B. zerbricht sich Kai den Kopf
darüber, wie man Schokolade in den Mund reicher Jungen bekommt, anstatt darüber
Gedanken zu machen, wie er selbst und andere Leidesgenossen davon profitieren
und satt werden könnten. Es sind bürgerliche Gedanken, die in den Kopf eines
Proletarierjungen gelegt worden sind. Kais Armut ist hingegen lediglich eine
sentimentale Kulisse. Fazit: Kai ist ein verkleideter Unternehmer. Sein äußeres
Erscheinungsbild eine Maskerade – aufgesetzt von Wolf Durian. Der Grund, warum
Durian nicht von Anfang eine reine Unternehmergeschichte schrieb, liegt
wiederum in der Festigung des bürgerlichen Aufstiegsmythos’.
II. Erich Kästner, Emil und die Detektive
1) Zum Autor:
Erich Kästner ist 1899
Dresden geboren. Nach dem 1.Weltkrieg studierte er Germanistik, Geschichte und
Philosophie in Leipzig, Rostock und Berlin. Bereits während der Studienjahre
arbeitete er als Redakteur für Zeitungen und Zeitschriften. 1928 bzw. 1929
erschienen seine ersten beiden Bücher, die ihn weltberühmt gemacht haben: der
Gedichtband „Herz auf der Taille“ und das Kinderbuch „Emil und die Detektive“.
Erich Kästner gilt als einer Hauptvertreter der sog. „Neuen Sachlichkeit“.
2) Zum Text: (da
Erzählung sehr bekannt, wird auf eine detaillierte Inhaltsangabe verzichtet.)
Emil kommt zu Besuch
nach Berlin und wird dort in eine Kriminalgeschichte verwickelt. Da es um die
Ersparnisse seiner Mutter geht, nimmt er unverzüglich die Jagd nach dem
Spitzbuben auf. Eine Schar gleichaltriger Jungen steht im bei dem schwierigen
Unternehmen kameradschaftlich bei – der „Professor“, der pfiffige kleine
Dienstag, Krummbiegel, die Gebrüder Mittenzwey, ... Ein großartiges Abenteuer
mit gutem Ausgang. Emil, die Hauptfigur ist die Verkörperung eines
„Klasse-Jungen“.
3) Auktoriales Vorwort – als literarisches Mittel
Unverkennbar und typisch
für Erich Kästner ist, dass er sich in seinen Büchern sowohl als Autor auch als
Figur zu Wort meldet.
Das Vorwort ist dabei dem Autor Erich Kästner vorbehalten. Das auktoriale Vorwort dient der einführenden Wirkung und der Respektzuweisung. (Es gibt jmdn., der diese Geschichte geschrieben hat. Käsnter bedient sich hierbei eines eigentümlichen Stiles. Immer wieder betont er, dass er nicht aktiv an der Entstehung der Geschichte beteiligt gewesen ist. Diese Übertreibung der Bescheidenheit ruft sodann die Umkehrwirkung hervor (Respekt). „Eine literarische Koketterie“, so Ewers. Innerhalb der Geschichte ist Kästner eine der Figuren. Man kann von einer auktorialen und einer aktional Selbstinszenierung sprechen.
III. Vergleich: Kai - Emil
Was spricht für, was gegen einen Großstadtroman / Bandenroman?
-Darstellung von
Indviduen. .Bande bleibt im
Hintergrund -Bande austauschbar
mit anderen Kindern: spricht gegen Großstadtroman -Handlungsort: Berlin - eine Art von Bande - Bande als Hilfsstütze für Abenteuer - außerfamiliärer Schauplatz - keine Straßenkinder, sondern bürgerl.Kinder, die
draußen spielen. Emil und die Detektive Kai aus der Kiste - Handlungsort: Berlin -„Die schwarze Hand“ - große Gemeinschaft - keine Eltern - Erwachsene nicht als Autoritäts- und Erziehungspersonen Dagegen Dafür Kai
Familienstruktur
a) Kai aus der Kiste:
Es gibt dafür wenige
Anhaltspunkte. Kai hat eine kleine Schwester. Gegenüber ihr nimmt Kai die Rolle
des Ersatzvaters ein. Man kann somit von einer kleinen Familiengeschichte
reden. Kai und seine Schwester erleiden keine Not. Kai ist ein selbständiger
Superboy, der ohne Eltern das Leben zu meistern versteht, was ihm auch gelingt.
Als symbolischer Vater könnte Herr Kobalski angesehen werden. Doch dieser wird
von Kai vertrieben, symbolhaft für Kais Ablösungsprozess.
b) Emil und die Detektive
Die Geschichte beginnt
in der Familie / Mutter. Die Familie kommt häufig in der Erzählung vor. Emil
wehrt sich aber gegen das Bild des unselbständigen Muttersöhnchens. „Ich bin
aber kein Muttersöhnchen, und wenn das jemand behauptet, den schmeiß ich gegen
die Wand.“ (Emil). Die Geschichte endet in der Familie. Emil ist der krasse
Gegensatz zu Kai. Symbolischer Vater: Herr Jeschke / Wachtmeister. Er steht für
den strafenden Vater.
Emil – Erich / Emil – Kästners biographische Erzählung
„Emil und die Detektive“ liegt Kästners
eigenes Familienbild zugrunde. Die Geschichte gilt als Liebeserklärung Kästners
an seine Mutter. Nach Ewers, kommen hier zwei Schichten zusammen bzw. greifen
ineinander.:
1)
Die
Verwandtschaftskonstellation (Verwandtschaft mütterlicherseits)
2)
Ablösung von
der Mutter
Wenn wir in Emil eine
Familiengeschichte finden, dann die von Mutter und Sohn. Folglich handelt es
sich um eine Ablösungsgeschichte des Sohnes von der Mutter. Kästner handelt von
diesen doppelten Ablösungen. Doch gelingen diese ihm nicht.
Die Bande ist für
Emil/Erich eine vorübergehende Zeit der Selbständigkeit. Doch die Ablösung
erfolgt nicht, denn die Mutter folgt ihm nach Berlin. Emil/Erich ist
Quasi-Ehemann der Mutter, so dass er auch von ihr festgehalten wird.