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Es scheint mir ein Erbfehler der Deut-
schen, ihre Gemeinheiten immer ethisch
rechtfertigen zu wollen.
Otto Braun
Grzesinski ist gefallen, weil es Herr Grützner mit der Sittlichkeit
hatte. Die SPD hat sich ausnahmsweise einmal zu einem entscheidenden Schritt
aufgeschwungen und will den Denunzianten wegen ehrlosen Verhaltens aus
ihren Reihen ausstoßen, was hoffentlich geschehen wird. Aber Herr
Grützner ist nicht allein. Was ist vorgegangen –?
Der Minister war verheiratet und darf sich beim Zentrum bedanken, daß
eine Scheidung, wie sie unter sauber und anständig denkenden Menschen
mitunter nötig und nützlich ist, nicht durchzuführen war.
Die Katholiken terrorisieren das Land mit einer Auffassung vom Wesen der
Ehe, die die ihre ist und die uns nichts angeht. Die Frau des Ministers
verhinderte die Scheidung. Der Minister lebt mit einer Frau, der er nicht
angetraut ist. Gezischel. Klatsch. Hämische Blicke. Briefe. Radau.
Krach. Sturz.
Es ist eine gute Gelegenheit, einmal auf die maßlose Verlogenheit
des deutschen öffentlichen Lebens hinzuweisen. Bei uns verlangen die
Leute von ihren politischen Gegnern, die im öffentlichen Leben stehen
– und nur von ihren Gegnern – eine Lebensführung aus dem Bilderbuch.
Der Politiker hat ein braver Ehemann zu sein, er hat ein ›vorbildliches
Familienleben‹
zu führen, er hat um keinen Deut anders zu essen, zu trinken,
zu lieben und zu arbeiten als ein Buchbinder aus Eberswalde. Weicht er
von dieser Linie ab, dann geht es los. Die Sache ist um so verlogener,
als der brave Mittelbürger den ›großen Herren‹, bei deren Anblick
er in den hinteren Teilen in Erwartung vor einem kommenden Fußtritt
einen leichten Kitzel nicht los wird, alles, aber auch alles nachsieht.
Man erinnert sich an die widerwärtigen Saufereien in den früheren
Offizierskasinos und der jetzigen Studenten, an das, was das deutsche Offizierkorps
im Kriege getrieben hat … der Bürger bleibt still. Wenn aber ein sozialdemokratischer
Minister eine Portion Schlagsahne nachbestellt, dann können sie sich
nicht lassen.
Es ist mir ein Herzensbedürfnis, zu einem Sozialdemokraten zu
stehen, dessen Politik wir hier, besonders in der letzten Zeit, nicht gutgeheißen
haben. Herr Grzesinski ist zwar um tausend Teile besser als viele seiner
Parteigenossen … aber auf dem Kerbholz hat er neben Zörgiebeln noch
genug. Daß er in einer Koalitionsregierung gesessen hat, ist uns
bekannt; daß er seinen Herrn Klausener derart hat wirtschaften lassen,
ist unentschuldbar. Auch ihm ist es nicht gelungen, die Militarisierung
der Schutzpolizei zu verhindern, die heute nach Ausbildung und Organisation
ein zweites Heer ist. Gehts gegen die Arbeiter, ist diese Polizei eine
scharfe Waffe; ginge es eines Tages gegen die Nazis, so sind viele Mannschaften
durchaus
zuverlässig und die meisten Offiziere ebenso unzuverlässig.
Niemand, der den Betrieb auf den Polizeischulen kennt, wird sich darüber
wundern. Das alles geht auf Grzesinskis Konto. Aber sein Sturz ist ein
Skandal – der Skandal des muffigsten deutschen Spießertums.
Daß die Bürgerfrau der mittlern Provinzstadt einen tödlichen
Haß gegen unverheiratete Frauen hat, die dennoch einen Mann gefunden
haben, ist bekannt. Es ist die Verachtung des pensionierten Beamten gegenüber
den freien Berufen, Angst um die eigene Position, die klare Erkenntnis,
daß die langweilige Versorgung durch eine graue Ehe nicht immer den
Verzicht auf ein buntes Leben lohnt. Unterstützt werden solche Frauen
von den Pfaffen beider christlicher Religionen, von Naturen, wie Herr Grützner
eine ist, und von Sittlichkeitsonkeln aller Richtungen. Und dem gegenüber
ist zu sagen:
Warum hat kein bedeutender Politiker den Mut, einmal gegen diesen Muff
aufzustehen? Das geht nicht? Das geht schon; es gehört Mut dazu. Warum
sagt keiner, wie es wirklich ist?
»Ich habe keine Zeit, mich jeden Abend zu besaufen, weil das
meine Gesundheit schädigt und weil ich das nicht mag. Aber alle zwei,
drei Monate bin ich bei mir mit Freunden zusammen, und da kann es denn
vorkommen, daß ich ein Glas zu viel trinke und einen kleinen sitzen
habe. Und ihr –?
Ich bin verheiratet, und ich bin meiner Frau natürlich nicht treu.
Ihr seids auch nicht. Fast niemand von euch, der ein bewegtes Leben führt,
ist es. Ich treibe keine übeln Schweinereien, ich halte mir keinen
Stall von Mätressen, und ich beschäftige keine Kupplerin. Aber
denkt nur: es ist vorgekommen, daß ich auf Reisen oder nach einem
Ball mit einer Frau geschlafen
habe, die nicht die meine war. Und das geht euch einen Schmarren an.
Und wenns euch nicht paßt, dann seht nicht hin. Und kümmert
euch um eure eignen Angelegenheiten.
Ich führe ein Leben, das von Besprechungen, Vorträgen, Aktenbearbeitung,
Reden, Versammlungen, Repräsentation bis an den Rand gefüllt
ist – ich bin kein Fresser, aber ich verachte keinen guten Happenpappen.
Und ihr –?
Ich bin wie ihr, wie die Mehrzahl von euch – nicht besser, nicht schlechter.
Lügt nicht, Pharisäer, lügt nicht.«
Warum sagt das keiner –?
Weil das öffentliche Deutschland ein Fibelland ist, ein Land ohne
Humor, ein Land für Kinder, für die Dummen, angefüllt mit
Unwahrheit bis oben hin. Ein Blick nach Frankreich wird uns darüber
belehren, daß es auch anders geht.
Das öffentliche Leben Frankreichs ist keineswegs hehrer als das
deutsche. Die französischen Politiker sind korrumpierter, aber wenigstens
im weitaus größern Stil als bei uns, wo sie für eine Einladung
zum Abendbrot manches, für eine Pelzjacke vieles und für eine
geklopfte Schulter alles tun. Wenn die Franzosen Schweinehunde sind, dann
haben sie wenigstens etwas davon. Und von Zeit zu Zeit platzt dann eine
Bombe, es gibt ein großes Geschrei, die Zeitungen der Gegenseite
›enthüllen‹ … und wenn es nicht sehr bösartige Finanzskandale
sind, die natürlich hauptsächlich den kleinen Politiker treffen,
weil der die Zeitungen nicht kaufen kann, wenn es nicht bedeutende Vergehen
gegen das Strafgesetz sind – dann fällt der Mann nicht! Und wenn eine
ganze Presse aufheult –: er fällt nicht! Bei uns fällt er, denn
sie lassen ihn fallen. Und der Denunziant, die saure Ehefrau, der Pfaffe
und der sittlich entrüstete Stammtisch – sie haben ihr Ziel erreicht.
Und nur darauf kommt es an.
Einmal habe ich hier davon berichtet, was Léon Daudet mit einem
französischen Minister getrieben hat. Der ließ sich in einem
kleinen Häuschen von kleinen Mädchen prügeln, ein Vergnügen,
das schließlich das seine (und nicht nur das seine) ist. Daudet wußte
das, wie er durch seine Spezialpolizei so ziemlich von allen Schmutzereien,
mit Ausnahme der eignen, unter-
richtet wird … er wußte es, und weil er ein Gemütsmensch
ist, so veröffentlichte er das auch. Es war eine beispiellose Sauerei.
Viele gute Freunde des Ministers schickten der Frau Minister die Zeitungsnummer,
hübsch rot angestrichen, zu; da fanden sich die Adresse des Hauses
und auch sonst allerlei appetitanregende Einzelheiten. Ich hätte in
jenen Tagen nicht der Minister sein mögen. Aber der Mann blieb! Er
blieb Minister, er blieb Mitglied der Académie Française
… er blieb. Sie haben es nicht geschafft.
Und das ist richtig so.
Denn solange der Mann diese seine Neigung, die ja viel, viel verbreiteter
ist, als man glaubt, nicht in sein Amt hineinspielen läßt, was
er nie getan hat, solange besteht auch nicht der leiseste Grund, ihn gehen
zu heißen. Wie! Nur, weil einer Minister ist, was heute nicht mehr
dasselbe bedeutet wie früher, deshalb soll man an ihn sittliche Forderungen
stellen, die auch
nicht einer der Schreier erfüllt? Denn es kommt doch nicht auf
das Ausmaß dessen an, was da geschieht, sondern auf die Gesinnung.
Die lautesten Brüller kneifen ihrerseits der Kellnerin ins Bein, und
wenn sie es erlaubt, schlafen sie auch einmal mit ihr (aber so, daß
Mutter es nicht merkt); sie saufen sich auf den Vereinsfestlichkeiten voll
wie die Radehacken; sie
nehmen gern eine Einladung an, bei der sie ein Stück vom Tisch
fortrücken, damit sie sich nachher wieder heranfressen können
… und dann gehen sie hin und können sich vor sittlicher Entrüstung
nicht lassen. »Der Minister! Haben Sie das gehört! Der Minister
lebt mit einer Frau, und es ist nicht seine Frau! Hat man je so etwas …!«
Man hat je so etwas gehört. Die tiefe Lüge, die durch diese
Proteste geht, sollte man den Herren ins Gesicht sagen. Die Bekleidung
eines öffentlichen Amtes legt dem Beamten gewisse Schranken seiner
Lebensführung auf, die wir nur bei einem Alkibiades nicht vermissen,
und - ach! – wir haben keinen Alkibiades unter unsern Politikern, wenigstens
sieht keiner so aus. Ein Staatssekretär soll sich nicht besoffen in
Kaschemmen herumtreiben, nicht mit betrunkenen Frauen die Straßen
heruntertoben, nicht den Kaviar schmatzend mit Eßlöffeln fressen
… davon ist nicht die Rede.
Jeder dieser Männer aber hat das volle Recht, so zu leben, wie
es jeder seines Standes tut!
Wenn er sich einmal im kleinen Kreise betrinkt, so fällt davon
die Welt nicht um; wenn er einmal mit einer fremden Frau schläft,
so wünschen wir ihm viel Vergnügen, und wenn er gar mit zweien
schläft, so kann man ihm nur gratulieren. Geschlechtsneid ist noch
keine Moral.
Die sittlichen Begriffe, die besonders in der deutschen Provinz von
ältern Ehefrauen, Pastören und – last and least – von den Richtern
aufgestellt werden, sind nicht maßgebend und nicht jene, nach denen
sich das Volk richtet. Das Bürgertum mag dergleichen für seine
Kaste fordern und für die Zugehörigkeit zum Klub »Harmonie
1898«. Ein Minister aber gehört allen. Er hat so zu leben, daß
er die Gesetze nicht verletzt, die einzuhalten moralische Pflicht ist;
er hat in seiner Lebensführung daran zu denken, daß Deutschland
drei Millionen Arbeitslose hat – wenn aber die Welt des Herrn Grützner
an ihn herantritt, dann drehe er ihr seine ganze, volle Kehrseite zu und
blase ihr etwas.
(Ignaz Wrobel, in: Die Weltbühne, 11.03.1930, Nr. 11, S. 388; Nachdruck:
GW [8] 66-69)
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