Die hier aufgeführten Fragen und Antworten
stammen aus einem Artikel der Berliner Morgenpost vom 30. Mai '99.
Bei dem antwortenden Fachpersonal handelt
es sich um:
Prof. Volker Jahnke: | Direktor der HNO-Klinik der Charité |
Dr. Birgit Mazurek: | Leiterin der Tinnitussprechstunde an der Charité |
Dr. Claus Fleck: | Medizinredakteur der Berliner Morgenpost |
Dr. Almut Tempka: | Unfallchirurgin an der Charité |
Lutz Hock: | Leiter der Instituts für Hyperbare Sauerstofftherapie im Oskar-Helene-Heim |
Priv.-Doz. Dr. Hartmut Berndt: | HNO-Arzt aus Berlin |
Inhalt:
Ist Tinnitus ein Symptom oder eine Krankheit?
Prof. Jahnke: In den meisten Fällen ist Tinnitus ein Symptom dafür,
daß im Funktionsablauf des
Hörsystems etwas nicht in Ordnung ist, was verschiedene Ursachen
haben kann. Der akute Tinnitus tritt zum Beispiel typischerweise als Begleitsymptom
des Hörsturzes auf. Chronischen Tinnitus finden wir bei der Schwerhörigkeit
im Alter, und man rechnet, daß bei fast einem Drittel aller Tinnitus-Patienten
Industrie- oder Freizeitlärm die Ursache ist.
Man bezeichnet einen Tinnitus bis zum Ablauf von drei Monaten als akut,
danach spricht man von
chronischem Tinnitus. Letzterer ist entweder kompensiert, dann haben
die Menschen gelernt,
damit zu leben. Oder er ist dekompensiert, dann handelt es sich im
Grunde genommen schon um
eine eigenständige Krankheit: Der Patient leidet sehr stark darunter
und empfindet den Tinnitus als
bedrohlich. Das kann mit Schlaf- und Konzentrationsstörungen und
Depressionen verbunden sein.
Wann nennt man ein Ohrgeräusch Tinnitus?
Dr. Berndt: Ein kurzzeitiges Ohrgeräusch wie z.B. ein Pfeifen über wenige Sekunden oder Minuten ist als normal anzusehen. Ohrgeräusche sind erst dann als Krankheitssymptom bzw. als Tinnitus zu bezeichnen, wenn sie über mehrere Tage und Wochen existieren.
Treten Hörsturz und Tinnitus immer gemeinsam auf?
Prof. Jahnke: Ein Hörsturz bedeutet einen akuten Hörverlust,
bei dem Sinneszellen im Innenohr nicht
mehr richtig funktionieren. Dies ist meist von einem Tinnitus begleitet.
Hörsturz und Tinnitus können - seltener - jedoch auch unabhängig
voneinander auftreten. Man nimmt an, daß sowohl beim Hörsturz
als auch beim akuten Tinnitus eine Minderdurchblutung des Innenohrs vorliegt.
Welche Rolle spielen seelische Ursachen und Streß?
Dr. Weber: Bei der Mehrzahl der Tinnitus-Patienten scheint es Zusammenhänge mit seelischen oder psychosomatischen Problemen zu geben. Dies bedeutet jedoch nicht, daß Streß als Hauptursache für Tinnitus anzusehen ist, denn dafür gibt es bisher keine sicheren Beweise. Menschen, die streßbelastet sind, nehmen ihren Tinnitus stärker wahr. Deswegen ist es gut, Patienten mit akutem Tinnitus zunächst aus dem streßbelasteten Umfeld herauszunehmen bzw. sie krank zu schreiben. Oft wird auch beobachtet, daß im Urlaub die Ohrgeräusche weniger störend oder besser verdrängbar sind.
Welche Untersuchungen sind bei Tinnitus-Patienten wichtig?
Dr. Berndt: Der HNO-Arzt muß feststellen, wo genau im Hörsystem die vermutete Störung sitzt. Beim akuten Tinnitus sollte dies möglichst schnell erfolgen. Neben der Prüfung des Hörvermögens gilt es herauszufinden, welcher Art und wie intensiv das Ohrgeräusch ist und bei welchen Tonhöhen es empfunden wird. Beim chronischen Tinnitus liegt die Störung in 90 Prozent der Fälle im Innenohr. Um die dafür verantwortlichen Ursachen herauszufinden, müssen gegebenenfalls auch orthopädische, neurologische, internistische oder psychosomatische Untersuchungen stattfinden.
Warum kann die Halswirbelsäule eine Tinnitusursache sein?
Dr. Tempka: Hier ist an Verschleißerkrankungen oder eine Fehlstellung
der Halswirbelsäule zu
denken, die eventuell durch muskuläre Verspannungen ausgelöst
werden. So kann Streß die Muskulatur verkürzen und aus dem Gleichgewicht
bringen. Man stellt sich vor, daß Muskelverspannungen auf verschiedene
Weise zum Tinnitus führen können. Möglicherweise stören
sie die Durchblutung des Innenohrs. Werden solche Verspannungen erfolgreich
behandelt - zum Beispiel durch Massagen, eine Lymphdrainage im Kopf-Hals-Bereich
und Krankengymnastik - , dann bessert sich meist auch das Ohrgeräusch.
Kann zu niedriger oder zu hoher Blutdruck Ohrgeräusche verursachen?
L. Hock: Man weiß, daß Patienten, die eine Narkose erhalten, oft mit einer Blutdrucksenkung reagieren und es dabei manchmal auch zu einem Tinnitus kommt. Es ist deshalb vorstellbar, daß auch ein niedriger Blutdruck über längere Zeit Tinnitus auslöst.
Prof. Jahnke: Hoher Blutdruck ist auf jeden Fall ein Risikofaktor für Tinnitus. Sowohl zu hoher als auch zu niedriger Blutdruck können wahrscheinlich eine gleichmäßige Durchblutung im Innenohr stören.
Wie beeinflußt Tinnitus das Hörempfinden?
Dr. Berndt: Sehr viele Tinnitus-Patienten reagieren gegenüber lauten Geräuschen überempfindlich. Je nachdem, welche Tonhöhe der Tinnitus hat, ist natürlich auch die Wahrnehmungsfähigkeit im betroffenen Frequenzbereich beeinträchtigt. Oft wird dann schnell Gesprochenes schlechter unterscheidbar oder die akustische Orientierung im Raum fällt schwer. Der Tinnitus selbst schädigt das Gehör jedoch nicht.
In welchem Zeitraum kann ein Tinnitus von selbst wieder verschwinden?
Prof. Jahnke: Dies gibt es in der Akutphase eines Tinnitus bei bis zu 70 Prozent der Patienten, nach einem halben Jahr aber nur noch äußerst selten.
Kann ein Tinnitus auch mit den Zähnen oder dem Kiefergelenk zusammenhängen?
Dr. Tempka: Die Muskulatur von Gesicht, Kiefer, Schlund, Nacken und
Hals steht in enger
Verbindung zueinander. Insofern kommen auch Fehlstellungen oder Fehlbelastungen
im Mund-
und Kieferbereich, die zu einem muskulären Ungleichgewicht führen,
als Tinnitusursache in
Frage.
Worauf kommt es beim akuten Tinnitus mit Hörverlust an?
Prof. Jahnke: Akuter Tinnitus und Hörsturz werden in gleicher Weise behandelt: In Deutschland gibt man meist zehn Tage lang Infusionen, die das Blut verdünnen, um die Durchblutung zu verbessern und dadurch mehr Sauerstoff an die Hörsinneszellen des Innenohrs zu bringen. Eine solche Therapie ist bei etwa drei Viertel der Patienten erfolgreich. Sie kann in der Klinik oder in der Arztpraxis erfolgen. Daneben ist Streßvermeidung wichtig. Falls keine Besserung eintritt, kann im Anschluß an die Infusionsbehandlung der Versuch einer hyperbaren Sauerstofftherapie gemacht werden.
Was bedeutet die hyperbare Sauerstofftherapie?
L. Hock: Dabei sitzt der Patient in einem großen Stahlzylinder,
in dem der Luftdruck auf 1,5 atü
erhöht wird, und atmet über eine Maske reinen Sauerstoff
ein. Der Überdruck bewirkt, daß sich der Sauerstoff im Blut
besser löst und so mehr davon auch das Innenohr erreicht. Die hyperbare
Sauerstofftherapie (HBO) macht beim Tinnitus allerdings nur Sinn, wenn
dessen Ursache tatsächlich eine Sauerstoffmangelversorgung im Innenohr
ist. Sie sollte möglichst frühzeitig und nicht später als
drei Monate nach Beginn des Tinnitus angewandt werden.
Welche Erfolgschancen hat die HBO?
L. Hock: Diese werden leider oft überschätzt. Sie liegen beim akuten Tinnitus nach unseren Erfahrungen bei höchstens 20 Prozent. Bessere Erfolge gibt es allerdings bei einem Tinnitus, der durch einen akuten Lärmschaden verursacht wurde. Ein chronischer Tinnitus läßt sich durch eine hyperbare Sauerstofftherapie praktisch nicht mehr beeinflussen.
Kann man nach 35 Jahren Dauerpfeifen im Ohr noch
etwas tun, um eine Besserung zu
erreichen?
Dr. Mazurek: Auch bei störenden Ohrgeräuschen, die seit langer
Zeit bestehen, sollte man den
Versuch einer Behandlung unternehmen. Dabei ist zunächst wieder
eine gute Diagnostik wichtig, und
der Patient sollte über die möglichen Ursachen seines Ohrgeräuschs
aufgeklärt werden. Es gibt einige einfache Maßnahmen gegen Ohrgeräusche,
z. B. sie durch Umgebungsgeräusche (etwa durch Musik, einen Zimmerventilator
oder einen tickenden Wecker) zu überdecken. Und auch nach 35 Jahren
ist es noch möglich, hilfreiche Entspannungstechniken zu erlernen
oder ggf. eine Tinnitus-Retraining-Therapie zu versuchen. Medikamente lassen
beim chronischen Tinnitus keinen Nutzen mehr erwarten.
Wie kann die Tinnitus-Retraining-Therapie (TRT) helfen?
Dr. Mazurek: Hierbei werden die Patienten nach der ausführlichen Beratung mit einem sogenannten Noiser-Gerät ausgestattet, das einem Hörgerät ähnelt. Man nimmt an, daß beim Tinnitus die störenden Geräusche nicht ausreichend vom Innenohr weggefiltert werden. Der Noiser gibt ein feines Geräusch von sich, das die Filterfunktion der zentralen Nervenbahnen offenbar wieder verbessert. Er sollte ein bis zwei Jahre lang täglich dreimal zwei Stunden getragen werden.
Bei mehr als drei Viertel der Patienten bewirkt die TRT, daß das
Ohrgeräusch abnimmt und die Betroffenen besser mit ihm umgehen können.
Bei sieben bis acht Prozent verschwindet es sogar
vollständig. Der Patient lernt, den Tinnitus nicht mehr als störend
wahrzunehmen. Bei Bedarf kann
begleitend auch eine psychosomatische oder psychotherapeutische Behandlung
erfolgen. Die Erfolgschancen der Retraining-Therapie sind um so höher,
je jünger der Patient ist und je aktiver er
mitarbeitet. Erste Erfolge gibt es zum Teil schon nach drei Monaten.
Wann ist eine Behandlung in einer Spezialklinik zu erwägen?
Dr. Mazurek: Ich würde empfehlen, die Therapie eines chronischen
Tinnitus zunächst ambulant
durchzuführen. Ein Klinikaufenthalt ist sicher bei Patienten sinnvoll,
die einen schweren dekompensierten Tinnitus haben und deshalb sehr verzweifelt
sind. Ein solcher Kuraufenthalt dauert
in der Regel sechs Wochen. Eine dort begonnene Retraining-Therapie
muß allerdings anschließend
immer fortgesetzt werden.
Werden die Kosten der Retraining-Therapie von den Kassen übernommen?
Dr. Berndt: Die verschiedenen Maßnahmen der Behandlung wie die Verordnung des Noiser-Geräts oder eine Psychotherapie müssen einzeln beantragt werden. Dann tragen die Kassen meist auch die Kosten dafür.
Welche Entspannungstechniken sind zu empfehlen?
Dr. Weber: Bewährt hat sich nach unseren Erfahrungen die progressive Muskelrelaxation nach Jacobson. Hierzu führen wir zur Zeit auch eine Studie. Das Verfahren basiert auf der bewußten Anspannung und Entspannung bestimmter Muskelgruppen. Entsprechende Kurse werden z. B. auch in der Volkshochschule oder durch Psychologen angeboten. Andere Patienten erzielen durch autogenes Training eine gute Entspannung und damit Linderung derTinnitus-Beschwerden.
Dr. Tempka: Es gibt leider jedoch auch viele Patienten, die aufgrund ihres Krankheitszustandes nicht in der Lage sind, Maßnahmen wie diese allein durchzuführen. Hier ist professionelle Hilfe vor der Selbsthilfe besonders wichtig.
Für wen ist Psychotherapie sinnvoll?
Dr. Weber: Für die Mehrzahl der Tinnitus-Patienten reicht ein ausführliches Gespräch, das auch psychosomatische Aspekte berücksichtigen sollte. Eine Psychotherapie kann erwogen werden, wenn gemeinsam mit dem Tinnitus belastende Konflikte im beruflichen oder privaten Leben bestehen.
Welche Erfahrungen gibt es mit Akupunktur?
Dr. Tempka: Akupunktur kann helfen, ein im Organismus des Patienten aufgetretenes Ungleichgewicht zu korrigieren. Ähnliches gilt zum Beispiel auch für Massagen, Neuraltherapie, Elektrotherapie und Akupressur. Es läßt sich aber dabei nicht vorhersagen, was im individuellen Fall wirklich hilft.
Dr. Berndt: Akupunktur scheint den Tinnitus selbst kaum zu beeinflussen, sie kann jedoch eine sehr große Hilfe sein, indem sie den Biorhythmus stabilisiert und Schlafstörungen entgegenwirkt.
Wie läßt sich Streß besser bewältigen?
Dr. Berndt: Man kann etwa durch psychologisches Training lernen, «streßfester» zu werden. Vor allem Sport eignet sich sehr gut dazu, Streß abzubauen.
Wie muß ich meine Lebensgewohnheiten bei Tinnitus ändern?
Prof. Jahnke: Man sollte sich gesund ernähren, nicht rauchen, einen regelmäßigen Tagesablauf haben, Sport treiben und versuchen, sich möglichst wenig stressen zu lassen.
Wie kann man bei störenden Ohrgeräuschen besser ein- und durchschlafen?
Dr. Mazurek: Neben leiser Musik zum Einschlafen gibt es auch kleine
Apparate, die z. B.
Meeresrauschen und andere beruhigende Geräusche erzeugen und die
man neben das Bett
stellt. Genauso helfen Entspannungsübungen oder ein Spaziergang
vor dem Zubettgehen.
Was ist als Partner eines Tinnitus-Patienten zu beachten?
Prof. Jahnke: Für Außenstehende ist es oftmals schwer, die
Schilderungen eines stark unter
Tinnitus leidenden Menschen nachzuvollziehen.Wenn es jedoch gelingt,
für dessen Situation
Verständnis aufzubringen und ihn ernst zu nehmen, dann ist das
eine große Hilfe für den
Patienten.
Warum ist es so schwer, einen für Tinnitus kompetenten Arzt zu finden?
Prof. Jahnke: Lange Zeit gab es kaum wirksame Behandlungsmöglichkeiten
bei dieser Erkrankung.
Das hat sich mit der Retraining-Therapie zwar geändert, dies wiederum
hat sich jedoch noch nicht bei allen HNO-Ärzten herumgesprochen. Hier
bestehen eindeutig Defizite. Ein weiteres Problem ist sicher auch, daß
die Betreuung von Tinnitus-Patienten viel Zeit benötigt, die in der
kassenärztlichen Praxis oft fehlt.
Dr. Berndt: Nicht selten wissen die Patienten besser über Tinnitus Bescheid als die Ärzte. Das liegt auch an der guten Information durch ihre Selbsthilfeorganisation.
Prof. Jahnke: Sport ist bei Tinnitus empfehlenswert, weil er Spaß macht, die Selbstbeobachtung (die einen Tinnitus verstärken kann) weniger zur Geltung kommen läßt und damit das Symptom Tinnitus verdrängt.
Dr. Berndt: Sport hilft, die vielfältigen Probleme von Fehlbelastungen
zu beseitigen, die zum Teil
Ursache für den Tinnitus sind. Ganz besonders wichtig ist der
Streßabbau, der mit Sport möglich
ist.
Kann ich mit Tinnitus fliegen?
Sandra über e-mail (die Info stammt von ihrem HNO-Arzt):
3-4-stündige Flüge sind relativ unbedenklich.
Grundsetzlich bestehen folgende Risikofaktoren für ein negative
Beeinträchtigung des Tinnitus:
1. langes Sitzen -> Thrombosegefahr, dagegen ASF 500 prophylaktisch
2. Dauerlärmbelastung -> auf ruhigen Sitzplatz achten und Ohrenstöpsel
benutzen
3. Streßfaktor als negative Einwirkgröße
4. Schlafen während des Fluges nur mit Nackenkrause, um zur Seite
Neigen des
Kopfes und somit Durchblutungsstörungen zu vermeiden
Jedoch selbst wenn diese Vorsorgemaßnahmen getroffen würden,
ist auf jeden
Fall noch ein Restrisiko vorhanden.
Es gibt Patienten, die ohne nachteilige Auswirkungen fliegen und andere,
bei denen sich dadurch dauerhafte Verschlechterungen ergeben.
Ist es normal, daß ich meinen Tinnitus bei einer Erkätung lauter empfinde?
Die Autorin: Ja, der Tinnitus wird für gewöhnlich während einer Erkältung als lauter empfunden. Also keine Panikmache, das ist völlig normal und gibt sich auch wieder.
Ist Tinnitus endgültig heilbar?
Prof. Jahnke: Tinnitus kann verschwinden, wenn die Ursache behandelt
ist oder wenn ihn der
Patient zum Beispiel mit der Retraining-Therapie erfolgreich aus seinem
Bewußtsein verdrängt hat.
Dann ist vorstellbar, daß ein Patient endgültig vom Tinnitus
geheilt ist und dieser nicht wiederkommt.