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Angst

Die Risse im schmutzig weissen Gemäuer verleihen den Häusern den Schein von Pracht. Einen Moment lang erinnern sie mich an Marmor. Eine erbärmliche, kurze Täuschung. Und sie erregt Mitleid in mir. Ein Mitleid, wie man es mit Frauen hat, die alt geworden sind und sich verzweifelt an ihre längst vergangene Jugend klammern. Die in ihrer Hilflosigkeit und Angst vor dem Nutzlossein, vor dem Nichtmehrbegehrtwerden ihre tief in die Wangen eingegrabenen Falten, ihre blassen Lippen und rot geränderten Augen hinter Schminke und Rouge verstecken wollen. Viel zu grelle Farben in viel zu verlebten Gesichtern. Und die dann beim Anblick ihrer Reflexion nicht erkennen, dass sie nur noch ein Zerrbild einstiger Schönheit sind und ihre letzte Würde durch den Versuch, die Jugend zurückzuholen, verloren haben. Ein Gespött für Kinder, die in unerfahrener Grausamkeit den wahren Spiegel vorhalten.
Die Häusefronten ziehen an mir vorbei als wäre ich ihr Herrscher. Sie machen mir ihre Aufwartung und scheinen sich zu verbeugen, wenn ich den Blick erhebe.
Armselige Untertanen. Abblätternder Putz, graue Fassaden. Sprühparolen an den Wänden verkünden, dass es keine Zukunft gibt. Sie erinnern an atomare Damoklesschwerter. Aber viel bedrohlicher empfinde ich die düsteren Wolken, die meine Gedanken aufhalten und niederdrücken. Seit Ewigkeiten hängen sie über der Stadt. Sie sind tyrannische Regenten über menschlichen Geist. Sie beobachten jeden bei Tag und Nacht. Sie entziehen uns die Nahrung für unsere fröhlichen, unbeschwerten Gefühle, denn sie schlucken die hellen, wärmenden Strahlen der Sonne und tauchen alles in ein kaltes Dämmerlicht. Ich verfluche diese Wolken heimlich. Sie sind mächtig und zwingen meine Gedanken in die immer gleichen Kreise.
Der Wind, der wie ein Raubtier unerwartet und stark mich anspringt, treibt Zeitungen von Gestern um Strassenecken und verschwindet so schnell und spurlos wie er kam. Fortgeworfene Dosen und Taschentücher liegen überall auf meinem Weg. Sie wollen mich daran erinnern, was man zu erwarten hat wenn man nicht mehr gebraucht wird. Ich glaube grinsende Gesichter in ihnen zu erkennen. Sie scheinen sich zu freuen, dass auch ich so enden werde. Mir fallen all die gebrochenen Dinge, Gefühle und Menschen ein, die ich in meinem Leben wegwarf und es ist gerecht, dass auch ich so ende.
Mir ist kalt
Ich schlage den Kragen meiner Jacke hoch und blicke hinüber auf die andere Strassenseite. Vor einer Reklametafel mit einem höhnisch lachenden Gesicht steht zwischen Tonnen und Müllsäcken ein Kind. Es sieht auf seine Schuhspitzen und weint lautlos.
Ich will weitergehen, aber meine Beine gehorchen nicht. Sie führen mich über die Strasse zu dem Kind. Ich stehe da und blicke es an. Es hebt langsam den Kopf und glänzend feuchte Spuren auf den Wangen verraten es. Ich hocke mich hin und fasse einen Arm des Kindes.
"Warum weinst du?" frage ich.
"Ich habe Angst," sagt es und wischt mit kleinen, ungeschickten Fingern Tränen von den Wimpern.
"Wovor hast du Angst?"
Es sieht mich an mit kindlicher Verzweifelung.
"Ich weiss es nicht," sagt es und schluchzt.
Ich schaue es lange an und nicke.
"Ja, ich verstehe. Ich verstehe dich," sage ich.
Ich stehe auf und lasse den kleinen Arm los.
Dann gehe ich schnell davon und der schneidende Wind in meinem Gesicht treibt mir Tränen in die Augen

Sankt Petersburg, 1988