Die Theorie
des systemischen Gleichgewichts
Marie-Luise Friedemann, RN, PhD
ÜBERSICHT
Die
Theorie des Systemischen Gleichgewichts ist eine Pflegetheorie, die mit
Einzelpersonen, Familien, Gruppen, Organisationen und Gemeinden in die Praxis
umgesetzt werden kann.
Die
Theorie wird in der Pflege- und Forschungsausbildung in den Vereinigten Staaten
und Ländern mehrerer Kontinente gelehrt. Sie ist nützlich for Forscher, die
theoretische Phänomene explizieren und Hypothesen formulieren müssen.
Pflegeexperten brauchen sie mit Patienten verschiedener Kulturen, in
schwierigen Situationen, um situationsbezogene Theorien abzuleiten und in
Pflegehandlungen umzusetzen. In Europa
findet die Theorie des systemischen Gleichgewichts vermehrt Anerkennung als
Basis for Pflegeausbildung und Praxis in Psychiatrie, Allgemein- und
Kinderpflege, in Krankenhaus, Klinik, Heim und Hausbesuchen.
The
Theorie des systemischen Gleichgewichts ist eine Rahmentheorie oder
Pflegemodell auf Grund ihrer philosophischen Grundannahmen, die aber durch
konkretere Ableitungen mit Beispielen vielfältiger Pflegesituationen auf einen
messbaren Mittelgrund (mid-range) gebracht wurde. Friedemann hat das allgemein
bekannte Pflegeparadigma - Umwelt,
Mensch, Gesundheit, Pflege - dadurch erweitert, dass sie die Konzepte
"Familie" und "Familiengesundheit" hinzugefügt hat und mit
einer Anzahl von Grundkonzepten die dynamischen Vorgänge und Interaktionen in
Einzelmenschen, Familien und anderen Unterstützungsgruppen
anschaulich gemacht hat. Die Theorie des systemischen Gleichgewichts beschreibt
die Grundprozesse aller sozialen Systeme. Sie beruht auf einer holistischen
systemischen Weltanschauung, in der Menschen und ihre Familien als offene
Systeme miteinander nach Kongruenz streben und vernetzte Teile des Makrosystems
der Unwelt darstellen.
Kongruenz bezieht sich auf einen
dynamischen Wechselzustand, in dem sich Systeme fortwährend gegenseitig
aneinander anpassen und aufeinander abstimmen. In einem solchen harmonischen
Zusammensein stimmen die Systeme in Muster und Rhythmus überein, und Energie
fliesst ungehemmt von einem zum andern. Perfekte Kongruenz ist allerdings nur
in der Ordnung des Universums realisiert und bleibt unter Systemen der Erde,
die sich dauernd ändern und evolvieren, eine Utopie. Trotzdem ist die
kongruente Ordnung des Universums in jedem Mensch, der Natur und anderen
Systemen auf der Erde wahrnehmbar, auch wenn sie mit wissenschaftlichen
Methoden nicht erklärt werden kann.
Gesundheit ist der Ausdruck der
Kongruenz des menschlichen Systems in Rhythmus und Muster sowohl nach aussen
mit seiner Umwelt als auch nach innen. Jeder Mensch empfindet Gesundheit als
kraftspendende Energie, die Wohlbefinden verleiht. Wie Kongruenz kann auch
Gesundheit nie vollkommen erworben werden. Optimale Gesundheit ist das Produkt
eines ausgeglichenen Lebensprozesses und ist eine höchst persönliche und
subjektive Erfahrung.
Kultur ist die Gesamtheit der
überlieferten menschlichen Lebensmuster und umfasst den systemischen Prozess
der Einzelperson und seiner Familie. Kultur ist ein Prozess mit zwei
Teilprozessen: Kulturerhaltung und Kulturtransformation. Kulturerhaltung
umfasst jene Verhaltensmuster, die bestrebt sind, Traditionen, überlieferte
Werte, Ansichten und Ideale unverändert weiterzuführen, um damit das
Grunddasein oder Identität einer Person oder Familie zu bestätigen und
aufrechtzuerhalten. Kulturtransformation dagegen ist ein Prozess, durch den
eingebürgerte Einstellungen und Ideale einer Prüfung unterzogen werden und
einer sich ändernden Umwelt angepasst werden. Durch die Änderung der Grundwerte
ändert sich auch das Verhalten, und neue Muster werden in den systemischen
Prozess integriert und an die neue Generation weitergegeben (Kulturerhaltung).
Kulturtransformation in Einzelmenschen und Familien geschieht verschiedentlich.
Die Rate der Veränderung hängt von der Neigung zu Stabilität oder Offenheit und
Flexibilität einer Person oder Familie ab.
DIE PROPOSITIONEN
Umwelt
1.
Die
Ordnung des Universums ist der Organisation aller Systeme der Erde übergeordnet.
2.
Die
Ordnung des Universums ist von Bedingungen, die den Menschen weitgehend
unbekannt und unbegreiflich sind.
3.
Alles
Lebende ist eine Vernetzung von offenen Systemen, die Energie und Materie in
Bewegung darstellen.
4.
Die
Organisation der Weltsysteme ist durch die Grundbedingungen von Zeit, Raum,
Energie und Materie bestimmt.
Friedemann, 1996, Seite 19
Mensch
1.
Menschen
bestimmen ihre Identität und definieren ihre Umwelt auf Grund der Beziehungen,
die sie mit Mitmenschen, Gegenständen und lebenden Organismen in ihrer Umwelt
haben.
2.
Menschliche
Realität ist von der Struktur und den Funktionen des Körpers abhängig und ist
deshalb beschränkt.
3.
Die
Fähigkeit, die menschliche Abhängigkeit von den Kräften der Natur zu erkennen
und den Tod zu erwarten, macht den Menschen sensibel für systemische Störungen,
welche die Organisation des menschlichen Systems und die Kongruenz der
Subsysteme oder Suprasysteme der Umwelt beeinflussen können.
4.
Menschen
haben die Fähigkeit zu Transzendenz und können systemübergreifend ihre Ordnung
nach der Ordnung grösserer Systeme der Umwelt und des Universums orientieren.
Dabei kann Kongruenz wieder hergestellt werden.
5.
Weil
die Menschen ihre Schwäche und Abhängigkeit erkennen, haben sie das Bedürfnis,
sich abzusichern. Dies geschieht innerhalb einer selbstgebauten Zivilisation,
die ihnen das Gefühl von Stärke verleiht.
Friedemann, 1996, Seite 20
Gesundheit
1.
Gesundheit
ist der Ausdruck der Kongruenz des menschlichen Systems: innere Kongruenz der
Subsysteme und Kongruenz mit den Kontaktsystemen der Umwelt. Gesundheit bildet
den Kern des Erlebens und Empfindens und die Grundlage des Handelns.
2.
Eine
körperliche Krankheit ist ein Zustand, der durch eine Systemstörung auf dem
Niveau des organischen Subsystems hervorgerufen wird.
3.
Gesundheit
kann auch in einem Zustand von körperlicher Krankheit gefunden werden.
4.
Das
kennzeichnende Symptom von fehlender Gesundheit ist die Angst, die durch
Systeminkongruenz entsteht. Ein allgemeines Wohlgefühl dagegen ist das
wichtigste Zeichen von guter Gesundheit.
Friedemann, 1996, Seite 28
Familie
Die
Familie stellt "eine Einheit mit Struktur und Organisation dar, die in
einer Wechselbeziehung zur Umwelt steht. Die Familie ist ein System mit
Subsystemen. Innerhalb der Familie schliessen sich gewisse Miglieder zu
interpersonellen Subsystemen zusammen, um bestimmte Aufgaben zu lösen. -- Angehörige haben definierte Rollen in der
Familie, innerhalb der interpersonellen Subsysteme und auch als Mitglieder von
ausgewählten Umweltsystemen. --Die Familie besteht aus allen jenen Mitmenschen,
die eine Person als ihre Familie betrachtet. Das heisst, dass die
Familienmitglieder jene Mitmenschen sind, mit denen sich die Person verbunden
fühlt und Kontakt pflegt. Sie kümmert sich um sie, freut sich über ihre Anwesentheit,
macht sich Sorgen um sie oder regt sich über ihre Lebensweise auf.
Familienmitglieder müssen nicht unbedingt verwandt sein." Friedemann,
1996, Seite 31.
1.
Die
Familie, eingebettet in der Zivilisation, ist damit bemüht, Kultur an die
nächste Generation zu überliefern. Dies betrifft die grundlegenden Werte und
Lebensmuster.
2.
Die
Familie und die Schutzsysteme in der Gemeinde und in der weiteren Umwelt teilen
die Verantwortung für Lebensraum, Sicherheit, Fortpflanzung, Erziehung und
soziale Verhaltensregeln.
3.
Die
Familie unterstützt die persönliche Entwicklung der Angehörigen und gewährt
ihnen Zugehörigkeit durch emotionelle Bindung. Sie gibt ihnen Halt bei der
Suche nach einem Lebensziel durch die Übermittlung einer Lebensanschauung und
spirituellen Ritualen.
4.
Die
Familie befriedigt das Bedürfnis nach Regulation/Kontrolle der Angehörigen,
indem sie von ihnen Mitarbeit, Mitbestimmung und Verantwortung für die
Familienangehörigen erwartet. Durch diese Aufgaben fühlen sich die Angehörigen
bestätigt.
5.
Familienprozesse
sind ein gegenseitig akzeptiertes Kollektivverhalten, das unter den vorhandenen
Grundbedingungen von Zeit, Raum, Energie und Materie die Ziele von Stabilität,
Wachstum, Regulation/Kontrolle und Spiritualität anstrebt.
Pflege
(Diese
Definition gilt auch für andere Gesundheitsberufe, die mit diesem Modell
arbeiten können)
1.
Die
Pflege ist eine Dienstleistung auf allen Systemebenen (Individuum,
Interaktionssystem, Familie, Organisation, Gemeinde, Bevölkerung).
2.
Die
Pflege beim Individuum schliesst die Familie und vernetzten Systeme der Umwelt
mit ein.
3.
Die
Pflege der Familien oder grösseren Systeme schliesst die Individuen und ihre
Subsysteme mit ein.
4.
Das
Ziel der Pflege ist der Prozess, der das Streben nach Kongruenz im System
erleichtert oder ermöglicht. Das Ziel des Empfängersystems ist die Gesundheit.
5.
Individuelle
Pflege und die Pflege der Familie sind kaum unterscheidbar. Die Kunst der
Pflege besteht darin, sich je nach Bedarf von einer Ebene der Systemhierarchie
zur anderen vertikal zu bewegen und sich horizontal den menschlichen
Subsystemen gleichzusetzen.
6.
Pflege
ist ein Prozess, der alle Dimensionen einbezieht und Spiritualität, gemeinsames
Wachstum, Regulation/Kontrolle und Stabilität zum Ausdruck bringt.
DER SYSTEMISCHE PROZESS
Der
Grundprozess der Systeme die nach Kongruenz streben, um Angst zu bekämpfen, ist
derselbe für alle sozialen Systeme. Jedes System strebt nach vier Zielen: Stabilität, Wachstum, Regulation/Kontrolle
und Spiritualität. Systeme unterscheiden sich je nach der Gewichtung dieser
Ziele in der Art der Handlungen, mit denen sie die Ziele anstreben. Der
systemische Prozess trifft bei allen Kulturen zu, während die bestimmten
Muster, durch die ein Gleichgewicht der Ziele hergestellt wird und die
Verhalten, die dazu gebraucht werden, kulturspezifische oder
familienspezifische Charaktere darzustellen, mit denen bestimmte Familientypen
definiert werden können.
Die Ziele
STABILITÄT - schützt vor der Angst, das System könnte
zerfallen und umfasst
überdauernde Muster, auf die man stolz
ist.
WACHSTUM - schützt vor der Angst vor Unfreiheit und
Zwang, sich anderen zu
fügen und betrifft die Flexibilität zur
Selbstentwicklung und
Neuanpassung.
REGULATION/KONTROLLE
- schützt vor der Angst vor zerstörenden Einflüssen
und betrifft die Organisation des
Systems, durch die sich das System
absichert.
SPIRITUALITÄT
- schützt vor der Angst vor Isolation und Verlassenheit und umfasst
Anstrengungen, Verbindungen anzuknüpfen
mit Menschen, Umwelt
oder Gott und Sinn im Leben zu suchen.
Ziele und Prozessdimensionen
Die
vier Ziele, Stabilität, Wachstum, Regulation/Kontrolle arbeiten zusammen um
Kongruenz anzustreben. Sie bewegen sich dem Umkreis des Diagramms nach und
bewegen sich nach aussen, indem sie das System mit der Umwelt verbinden. Sie
bewegen sich auch nach innen um die Teile des Systems miteinander zu verbinden.
Das Produkt dieser Innenbewegung ist Gesundheit.
Die
Ziele sind abstrakt, und ihre Bewegung geht unbewusst vonstatten. Beobachtbar
und messbar dagegen sind die Verhaltensmuster, die den vier Prozessdimensionen
angehören. Systeme regulieren Zeit, Raum, Energie und Material durch die
Prozessdimensionen: Systemerhaltung,
Kohärenz, Individuation und Systemänderung.
_____________________________________________________________________
Systemerhaltung und
Kohärenz führen
zu STABILITÄT
Individuation und
Systemänderung führen zu WACHSTUM
Kohärenz und
Individuation führen zu SPIRITUALITT
Systemerhaltung und
Stystemänderung führen zu KONTROLLE/REGULATION
(Siehe Diagramm)
______________________________________________________________________
Die Prozessdimensionen
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SYSTEMERHALTUNG -
Handlungen der Selbstpflege, Routine, Rollen, Rituale, Organisation der
Zeit, Rhythmen von Aktivität und Entspannung, Alleinsein und Zusammensein
KOHÄRENZ - Handlungen, die Einheit, Einklang und Sinn
bringen.
INDIVIDUATION -
Handlungen zur Selbstentwiclung, Leistungen, Berufung,
Lernen.
SYSTEMÄNDERUNG - Anpassung der Werte und Ansichten, Umordnung von Prioritäten, Umstellung der
Verhaltensmuster
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Diese
Verhalten ruhen auf kulturbedingten Werten und Einstellungen. Sie werden auf
Grund dieser Werte und dadurch hervorgerufener Motivation einer bestimmten
Prozessdimension zugeordnet, nicht auf Grund des eigentlichen Verhaltens. Zum
Beispiel wandert eine Familie zusammen im Wald. Falls sie durch ein
Gesundheitsbestreben motiviert ist, fällt diese Tätigkeit unter
Systemerhaltung. Falls die Familie Zusammengehörigkeit sucht durch die
Wanderung, fällt die gleiche Tätigkeit unter Kohärenz. Falls aber die Familie
Neues über Pflanzen und Tiere lernen will, fällt die Wanderung unter
Individuation.
DER PFLEGEPROZESS
Die
Theorie des systemischen Gleichgewichts steuert auf einen patientenbezogenen
Pflegeprozess, der sich auf Ressourcen statt Probleme stützt. Patienten
bestimmen ihre eigenen Ziele und wenden dazu jene Strategien an, die kongruent
sind mit ihrem systemischen Prozess. Patienten und Familien lernen die
Bedeutung der Modellkonzepte und beurteilen sich selbst anhand des Diagramms.
Ihr Pflegeplan ist selbstmotiviert. Pflegende unternehmen die folgenden
Schritte:
K - lassieren der systemischen Prozesse innerhalb der vier
Prozessdimensionen
O - ffen die Theorie und systemischen Prozesse erklären
N - achforschen, welche Änderungen stattfinden sollen
G -
utheissen der nützlichen Handlungen
R -
epetieren und verstärken der nützlichen Handlungen
U -
mlernen bei mangelhaften Handlungen
E -
xperimentieren mit neuen Handlungen
N -
ützlichkeit und Erfolg der Änderung prüfen
Z -
usprechen, ermuntern, loben
Anamnesen können auf viele Arten
durchgeführt werden. Listen mit Befragungsthemen sind im Text angeführt: bei
Individuen Seite 48 - 50, bei Familien Seite 57 - 60 (Friedemann, 1996).