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Die Fiennes Family

Madame
Oktober 2000
Von Nicole von Bredow


Dienstag Vormittag in einer großen Londoner Werbeagentur, die sich im Stadtteil Soho in einem Hinterhaus versteckt. Im Empfang hängen, dicht an dicht, Auszeichnungen, die einzelne Mitarbeiter innerhalb der letzten Jahre gewonnen haben. Martha Fiennes ist eine von ihnen.

"Mrs. Fiennes lässt sich entschuldigen", erklärt die Empfangsdame, "aber die Besprechung mit einem Kunden dauert noch eine halbe Stunde." Mit ihren Kampagnen und Werbefilmen für Pfirsichschnaps, Autoreifen und Deodorants hat Martha Fiennes in der Branche viel Aufsehen erregt. Wohl auch weil die 36-Jährige die Schwester von Hollywood-Star Ralph Fiennes, 37, ist, der schon für den Oscar nominiert war. Gemeinsam mit ihm hat die hoch dotierte Werbefrau nun ihren ersten abendfüllenden Kinofilm produziert. Exakt 34 Minuten später steht sie im Foyer, eine lächelnde Frau in langem Samtrock und einer schmal geschnittenen, mit Perlen bestickten Lammfellweste. Das braune Haar ist im Nacken zu einem zierlichen Zopf gebunden. Auffallend: ihr großer, knallrot geschminkter Mund und die riesigen grünen Augen. Martha Fiennes ist ihrem Bruder außerordentlich ähnlich: schlank und hoch gewachsen, schmales Gesicht, eine gerade Nase und diese faszinierenden Augen. Und dann teilt sie auch noch seine beruflichen Ambitionen.

Vor sieben Jahren drückte Ralph Fiennes seiner Schwester, damals noch eine engagierte Studentin an der Filmhochschule, ein Taschenbuch in die Hand, "Eugen Onegin" von Alexander Puschkin. "Du musst dieses Buch unbedingt lesen. Man könnte einen großartigen Film daraus machen." Die Handlung: Der Zyniker Onegin hat sein Vermögen verjubelt, ergeht sich in Langeweile, bis er durch seinen Freund Lenskij die bezaubernde Tatjana kennen lernt. Sie schreibt ihm die schönsten Liebesbriefe der russischen Literatur. Er aber weist sie kaltherzig zurück, ein Entschluss, den er später bitter bereut. "Onegin ist ein grenzenloser Egoist, nicht fähig, die wahre Liebe zu erkennen. Ein Thema von heute", urteilt Ralph.

Auch Martha erlag dem Zauber des Romanklassikers. Doch wie daraus einen Film machen, wo Geldgeber finden? Zwar gehörte Ralph zu jener Zeit bereits zu den neuen Hoffnungsträgern der "Royal Shakespeare Company" und Martha galt als viel versprechende Regisseurin von Werbefilmen und Videoclips - doch schien das Unternehmen Puschkin ohne Chancen.

Voller Optimismus setzten sich die Geschwister dennoch im Herbst 1992 zusammen, um die ersten Drehbuchideen zu formulieren. 1999 war der romantisch-melancholische Liebesfilm endlich fertig (mit Ralph Fiennes und Liv Tyler in den Hauptrollen). Die Londoner Premiere wurde zum Triumph der jungen Regisseurin. Einen Monat später gewann sie einen Preis beim Filmfestival in Tokio. Jetzt kommt der Film in die deutschen Kinos.

Ganz im Gegensatz zu ihrem Bruder, der für sein Schweigen bekannt ist, besonders was sein Privatleben betrifft, signalisiert Martha Offenheit. Ausgiebig redet sie über ihre Familie. Kein Wunder, dass sie oft nach dem Bruder gefragt wird. "Ralph ist ein Mensch, der einen großen Freiraum braucht. Schon als Kind wünschte er sich ein Zimmer, in das er sich zurückziehen konnte, um ungestört zu lesen. Normalerweise ist Ralph der höflichste Mensch der Welt, aber wenn man ihn beim Lesen oder Musikhören stört, wird er zur Bestie." Sie lacht. "Eine Unterhaltung mit Ralph ist immer auch ein Vergnügen, weil er geistreiche Wortspiele liebt. Allerdings fehlt ihm die oberflächliche Höflichkeit, die man für Smalltalk braucht. Außerdem ist er unglaublich großzügig. Ich kenne wenige Menschen, die mit so viel Liebe schenken. Es ist, als könne er Gedanken lesen. Diese Weste zum Beispiel war mein schönstes Weihnachtsgeschenk." Zärtlich streicht sie über das weiche Leder. "Ralph ist ein Frauenkenner mit einem ganz besonderen Gespür. Man kann sicher sein, dass er selbst bei einer Kleinigkeit darauf achtet, etwas Außergewöhnliches zu finden."

Außer dem attraktiven Ralph und Martha besteht der Clan aus drei weiteren Brüdern und einer Schwester. Einen markanten Kontrast zum intellektuellen Feingeist Ralph scheint der freundliche und unkomplizierte Joseph zu bilden, der sich in Shakespeare in Love und in Elizabeth erste schauspielerische Lorbeeren verdiente.

"Joseph ist unglaublich charmant und sehr komisch, aber sein Humor ist weniger subtil als der von Ralph." Martha zögert. Hat sie da etwas Negatives über Joseph gesagt? Sie korrigiert sich auf der Stelle. "Die meisten Leute sind gern mit Joseph zusammen, weil er eine ausgesprochen umgängliche Art besitzt. Nebenbei ist er sehr sportlich und sprüht vor Energie. Aber man sollte sich bei Joseph nicht täuschen - trotz seiner charmanten Art kann er knallhart sein. Niemand kann diesen Dickkopf zu irgendetwas zwingen. Da ist Magnus, mein dritter Bruder und Komponist von Beruf, ganz anders. Der ist eher harmoniebedürftig und gibt auch mal nach."

Doch dann kommt Martha sehr schnell wieder auf den Mann zu sprechen, mit dem sie wohl eine spezielle seelische Übereinstimmung empfindet: Bruder Ralph. Von dem manche behaupten, hinter seiner Sensibilität verberge sich eigentlich nur Schüchternheit. "Mein Bruder Ralph schüchtern?" Martha lacht. "Du lieber Himmel, nein. Er macht sich nur nicht die Mühe, aus Höflichkeit Interesse zu heucheln. Und er ist, wie wohl die meisten großen Künstler, im besten Sinne egoistisch."

Die Vermutung liegt nahe, dass Ralph mit dem Onegin-Film seiner Schwester helfen wollte, ihre Karriere in die richtige Bahn zu lenken. Ohne ihn hätte sie wohl kaum einen Geldgeber gefunden. Fragt man Ralph Fiennes selbst nach seiner Meinung zum Regiedebut von Martha, klingt das Lob bei aller Zurückhaltung fast enthusiastisch. "Meine Schwester ist mit zwei Brüdern aufgewachsen, die beide engagierte Schauspieler sind. Das Medium Film ist ihr seit langem vertraut und sie weiß intuitiv, wie man mit einem sensiblen Akteur umgehen muß. Onegin ist zwar ihr erster Spielfilm, aber Martha hat nur zwei Wochen gebraucht, um sich in dem Milieu zurechtzufinden. Ob Sie es mir glauben oder nicht - es ist ihr gelungen, aus jedem Schauspieler das Beste herauszuholen", und lächelt dabei auf seine unwiderstehliche Art, dass man gar nicht zu zweifeln wagt.

Der Dritte im Famillienbund bei der Arbeit an Onegin war Bruder Magnus, der die Filmmusik komponierte.

Wen kann es da noch wundern, dass auch Schwester Sophie im Filmgeschäft mitmischt. Sie war jahrelang Assistentin von Regisseur Peter Greenaway und arbeitet heute als freie Theaterproduzentin in London.

"Schuld" an dieser Besessenheit für den Film war die Mutter, Jini Fiennes. Während andere Eltern stöhnen würden: "Um Gottes willen, willst du nichts Vernünftiges lernen?", war Jini Fiennes hoch erfreut, als sich fünf ihrer sechs Kinder für einen künstlerischen Beruf entschieden. Nur Jake, der Zwillingsbruder von Joseph, scherte aus, er arbeitet in Norfolk als Förster. Ein Aussteiger? "Nein, nein", wehrt er ab, "unser Vater war Farmer, bevor er seine Begabung für die Fotografie entdeckte. Wahrscheinlich habe ich die Liebe zur Natur von ihm geerbt", sagt er mit Nachdruck und man glaubt ihm, dass der hektische Filmtrubel seine Sache nicht ist. Trotzdem fühlt er sich keineswegs als das Schlusslicht im Fiennes-Clan. "Ich weiß, dass es Augenblicke gibt, in denen meine Brüder gern mit mir tauschen würden. Ich meinerseits genieße es sehr, zu ihren Filmpremieren eingeladen zu werde. Da wird mir ihr gehetztes Leben hautnah vorgeführt - und ich beneide sie wirklich nicht im Geringsten."

Gern erinnert sich Jake an die Lebensgeschichte seiner Eltern. Sie begann 1961. Mark Fiennes und Jennifer "Jini" Lash waren bei gemeinsamen Freunden in Suffolk zu Gast. Man diskutierte über Kunst, Literatur - und gratulierte Jini, die gerade ihr erstes Buch, The Burial (Das Begräbnis), beim renommierten Bloomsbury Verlag veröffentlicht hatte. Mark war ein schlichter Mann vom Land, der zwar gern las, aber viel weiter reichten seine intellektuellen Interessen nicht. Dennoch verliebte er sich Hals über Kopf in die attraktive junge Autorin. "Es gibt nur wenige Momente im Leben, in denen sich ein Mann ganz sicher ist", erzählte Mark Fiennes später, "aber die Begegnung mit Jini war eine davon. Ich wusste einfach, das ist die Frau für mein Leben."

"Natürlich kamen meinem Vater bald Zweifel", kommentiert Jake, "ob er denn der Richtige für eine Intellektuelle sei. Doch Jini tröstete ihren Zukünftigen. "Das mit der Schriftstellerei muss dich nicht weiter irritieren", erklärte sie meinem Vater gelassen. "Alles was ich wirklich will, ist eine glückliche Familie - und viele, viele Kinder."

Nach 18 Monaten waren Jini und Mark verheiratet, innerhalb von weiteren sieben Jahren hatten sie sechs Kinder. Und Michael, den Pflegesohn. Jini hielt ihr Versprechen - für ihre Familie gab sie die Karriere als Schriftstellerin auf. Das hatte nicht nur mit der Liebe zu Mark und den Kindern zu tun, sondern auch mit ihrer eigenen problematischen Kindheit. Jennifer Lash war das einzige Kind einer egozentrischen, gefühlsarmen Mutter und eines fanatisch in die Tochter vernarrten Vaters - für das Kind ein schwer erträgliches Wechselbad der Gefühle. Jini wollte bei ihren eigenen Kindern nun alles anders machen , ihnen so viel Liebe und Nestwärme wie möglich geben. Offfenbar ist es ihr gelungen. "Es berührt mich immer wieder tief, wie meine Mutter uns geliebt und uns umsorgt hat", meint der sonst so wortkarge Ralph.

Es dürfte in der ganzen Filmbranche keinen zweiten Clan geben, der so fest zusammenhält, trotz aller Differenzen, die durch unterschiedliche Temperamente und höchst widersprüchliche Lebensideale entstehen. Sie selbst empfinden dieses Wir-Gefühl keinesfalls als etwas Ungewöhnliches. Sophie Fiennes: "Ich persönlich halte das für ganz normal. Schließlich hat unsere Mutter in nur sieben Jahren sechs Kinder geboren. Wir alle sind vom Alter her nicht weit auseinander, wir haben die gleiche Musik gehört und die gleichen Bücher gelesen. In meiner Kindheit waren wir das, was man in England eine "bohemian family" nennt. Das ist eine elegante Umschreibung dafür, dass wir wie die Zigeuner durchs Land zogen und dauernd unseren Wohnsitz wechselten, im Ganzen 15-mal." Fernsehen wurde im Hause Fiennes nicht gerade gefördert, Jini legte viel mehr Wert auf Lesen, Zeichnen - und auf Theaterspielen. In schlechten Zeiten unterrichtete sie ihre Kinder selbst. Wenn man sich das Schulgeld dann wieder leisten konnte, besuchten die Kinder öffentliche Schulen. Doch Jini legt deswegen keineswegs die Hände in den Schoß. Wenn zum Beispiel eines ihrer Kinder in einer Schulaufführung spielte, paukte sie mit ihm die Rolle.

"Unsere Mutter war unsere beste Kritikerin", erinnert sich Martha. "Sie lobte und tadelte auch. Vor allem konnte sie uns wunderbar inspirieren. Ohne sie hätten wir es alle nicht so weit gebracht."

Nach dem die Kinder aus dem Haus waren, fing Jini auch wieder mit dem Schreiben an. 1986 wurde bei ihre Krebs diagnostiziert. Nach einer schweren Operation unternahm sie eine Pilgerfahrt nach Frankreich und Spanien. Ihre Eindrücke schrieb sie in The Pilgrimage (bei Bloomsbury erschienen) nieder. Kurz vor ihrem Tod vollendete sie noch ein weiteres Buch, Blood Ties (Blutsbande), in dem sie ihre Kindheit beschreibt.

Im Dezember 1993 starb Jini Fiennes. Bis zum Schluss war stets eines ihrer Kinder bei ihr. "Sie wollte keine Schmerzmittel einnehmen, weil sie es hasste, nicht alles bei vollem Bewusstsein zu erleben. So hat sie uns erzogen: den Dingen, so wie sie sind, ins Auge zu sehen."

Posthum erschien Jennifer Lashs letztes Buch, Blood Ties. Und als letzte Hommage an die Mutter machten die "glorreichen fünf", wie die Stars der Fiennes-Familie oftmals genannt werden, eine ausgedehnte Lesereise durch England. Sie tingelten selbst durch zahlreiche Kleinstädte, um die Werke ihrer Mutter bekannt zu machen. "Jetzt konnten wir endlich einmal etwas für sie tun."


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