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Jenseits der Träume


Begegnungen

Two is one too much and three is not enough
Get what you want and still crave for real emotion
A fight between the head and the heart is always tough
But what if the heart is dead and the head despises devotion?

Das Verhängnis nahte in Form eines mitternächtlichen Zoobesuches. Es war lange in der Presse angekündigt worden, daß im Zoo eine Mitternachtsfeier stattfinden würde. John rief mich an und fragte, ob ich Lust hätte, ihn zu begleiten. So gingen wir am darauf folgenden Sonntag so gegen 11 Uhr nachts in den Zoo. Es herrschte eine eigentümliche Stimmung, überall brannten Fackeln und Lampions und es gab Tänzer und Gaukler. Die Tiere waren aufgeregt, weil etwas Ungewöhnliches in ihren sonst ruhigen Nächten los war. Wir waren eine ganze Weile durch die Menschenmassen geschlendert, dann vor dem Tigerkäfig stehen geblieben.

„Seine Augen haben nie ihre Wildheit verloren, obwohl er eingesperrt ist.“ Ich drehte mich leicht erschrocken zu der Stimme um. Hinter mir stand Gabriel, schwarz wie immer. John wand sich dem dunklen Fremden ebenfalls zu. Er antwortete: „Ja, aber das Feuer glimmt nur noch. Würde es in Freiheit auch wieder brennen?“

Ich stellte die beiden mit leicht mulmigem Gefühl vor, obwohl ich eigentlich kein schlechtes Gewissen haben mußte. „Oh, ich hab ihren Namen gelesen, ach ja, in dem Doppelmord, in dem LaVerne angeschossen wurde, nicht wahr?“ Was dachte Gabriel sich nur dabei. John nickte: „Richtig.“ Dann nach einem Moment der Überlegung: „Aber ihren Namen kenn ich auch. Sie sind der Initiator dieser Ausstellung, ‚Noctis Infinitum’.“ – „Sie haben ein gutes Namengedächtnis, John – ich darf doch John sagen? Ich bin Gabriel.’ Sie reichten sich die Hände. Obwohl ich fest damit gerechnet hatte, gab es weder Blitz noch Donner. „Wo ist Kolya?“ und zu John: „Kolya ist Gabriel Freund und Fahrer.“ „Der ist im Silbernen Satyr. Da wollten wir uns nachher treffen, er interessiert sich nicht für Tiere in Käfigen.“ Zu dritt gingen wir an den Zwingern und Gehegen entlang. Die Männer unterhielten sich locker über die Vor- und Nachteile der Zoohaltung. 

„So, jetzt sollte ich mich langsam auf den Weg machen, sonst macht Kolya sich noch Sorgen um mich. Und bei den vielen Leuten wird es bestimmt eine halbe Stunde dauern, bis ich ein Taxi erwische.“ Ich fand die Vorstellung, daß Gabriel mit einer Taxe fahren wollte irgendwie etwas seltsam. Und außerdem war er auch schon wieder ohne seine Leibwächter unterwegs. Sowieso, war da irgendwie was Merkwürdiges  ….

Gabriel zog ein Handy aus der Manteltasche – irgendwie kam mir da was seltsam vor. Doch John griff ihn leicht am Ärmel. „Ach Unfug! Wir fahren dich hin. Wir haben alles gesehen und der Club liegt eh auf dem Weg, wenn ich LaVerne noch nach Hause bringen will.“ Ach wie nett, es dachte noch jemand an mich…

 „Das ist furchtbar nett. Ich bin es gar nicht gewohnt, ohne Auto zu sein. Das kann ich aber nur annehmen, wenn ihr mir noch auf einen Drink im Satyr Gesellschaft leistet. Ich bestehe darauf, außerdem würde mir Kolya nie verzeihen, wenn ich euch so ohne weiteres ziehen lasse.“

Ich war noch nicht wirklich müde, der Satyr war einer der angenehmeren Clubs der Stadt und so nickte ich meine Zustimmung. Und so fand ich mich auf dem Rücksitz von Johns Auto. Die Männer vorne hatten das Thema gewechselt und diskutierten jetzt über die Ausstellung.

Wir fanden Kolya und einen weiteren der Bodyguards in der Nische, die wohl für Gabriel ständig reserviert war. Nach der allgemeinen Vorstellung gab es für mich Whiskey, für John und Kolya nur Mineralwasser. Deshalb war ich also so selten mit meinem Auto unterwegs. Als ich der Unterhaltung so lauschte, kam mir die Situation so richtig zu Bewußtsein. John saß dem Mann gegenüber, den er suchte. Er wußte es nur nicht. Und Gabriel stand auf Johns Liste ganz oben – und es war ihm voll und ganz klar. Absurd. Langsam glaubte ich schon nicht mehr an einen Zufall. Ich wand mich zu Kolya. Der schien mich beobachtet zu haben, denn er sagte leise: „Natürlich ist Gabriel die Situation klar. Aber spielen wir nicht alle manchmal gerne mit dem Feuer?“ Ich wußte nur zu gut, was er meinte und warum sollte jemand wie Gabriel nicht auch – oder gerade jemand wie er – die Herausforderung lieben; und irgendwo war ich ja auch in dieses ‚Spiel’ verstrickt.

Die beiden gegensätzlichen – und doch so ähnlichen – Männer verstanden sich jedenfalls auf Anhieb hervorragend. Sie schienen auf der gleichen Wellenlänge zu funken, vielleicht hatten sie deshalb auch so eine Anziehungskraft auf mich. John hatte ein sehr großes Wissen über ungewöhnliche Phänomene angehäuft, alle aus früheren Fällen. Gabriel fragte ihn über jedes Detail aus, war brennend interessiert.

Langsam wurde ich müde. Aber die beiden schienen sich in ihrer eigenen Welt zu befinden. Also bat ich Kolya, mich nach Hause zu fahren. Die Verabschiedung fiel sehr knapp aus, die zwei schienen gar nicht richtig zu bemerken, daß ich ging. Kolya fuhr mich schweigend zurück. Und ich war zu müde, um mir weiter den Kopf über dieses Treffen zu zerbrechen. Morgen vielleicht.

Doch am nächsten Tag saß ich von morgens bis abends am PC eines Kunden fest und abends war ich so fertig, daß ich einfach nur ins Bett fiel.

Und am Tage drauf war die Begegnung der beiden Männer kein großer Grund zur Sorge mehr. Weder hatte ich in der Zeitung von der plötzlichen Auflösung eines Doppelmordes gelesen, noch vom Verschwinden eines Polizisten. Also mußte alles wohl gut verlaufen sein. Trotzdem kreisten meine Gedanken noch eine Weile um diese Begegnung. Schon die Tatsache, daß Gabriel alleine und ohne Fahrer dort gewesen war. Daß die zwei sich so gut verstanden, war gut und eigentlich auch nicht verwunderlich. Immerhin hatte mich bei beiden irgend etwas angezogen. Und zog noch immer. Wenn auch nicht äußerlich, waren sie sich doch ähnlich, verwandte Geister.

Am darauf folgenden Wochenende wurde mir das Treffen wieder ins Gedächtnis gerufen, als Bewegung in die ganze Sache kam. Am frühen Samstag Abend besuchte mich Gabriel. Dabei hatte er noch Glück, daß ich überhaupt da war, eigentlich wollte ich schon vor über einer halben Stunde Freunde in einer Bar treffen. Entsprechend gekleidet mochte das einen merkwürdigen Eindruck machen. Und Kolya war nicht bei ihm. Als der Pförtner ihn ankündigte, war ich also erst etwas unentschlossen. Aber natürlich hämmerte gleichzeitig mein Herz wie verrückt.

„Die großen Fenster mit der Terrasse sind tatsächlich phantastisch. Kolya hat mir davon erzählt.“ Er schaute durch die Gardinen auf die Stadt. Als ich ihm Kaffee brachte, setzte er sich zu mir aufs Sofa. Wenn ihm meine Garderobe auffiel, machte er keinerlei Kommentar darüber.

„Weißt Du, ich freue mich, daß ich John jetzt endlich persönlich kennen gelernt habe. Ich hatte schon öfter von ihm gehört, durch sein Spezialgebiet, aber noch nie mit ihm gesprochen. Deshalb sollte er ja auch den Fall untersuchen.“ Ich sah Gabriel mit völlig verständnislosem Blick an. „Spezialgebiet?“ „Natürlich, das müßtest du doch eigentlich wissen. Fälle, die unerklärliche oder seltsame Spuren aufweisen, Ritualmorde oder exotische Waffen.“ Oh ja, davon hatten wir viel gesprochen, ich wußte aber nicht, daß das sein Hauptarbeitsbereich war. „Machst du dir deshalb keine Sorgen? Immerhin bist du es, den er sucht, auch wenn er das nicht weiß.“ „Nein!“ Gabriel schien einen Moment zu überlegen und grinste dann ganz leicht verschmitzt. „Vielleicht erzähl ich ihm das irgendwann sogar.“ Ich dachte, ich hätte mich verhört. Aber wenn er schon mal hier war und das Thema so passend angeschnitten hatte: „Dann würdest du ihm einiges erklären müssen, die Sache mit den Silberkugeln oder das Herz, um nur zwei Dinge zu nennen.“ Davon abgesehen, daß ich dann auch wohl einiges zu erklären hatte. Er schaute mich an. Seine nachtschwarzen Augen drangen durch meinen Kopf direkt in die Seele, verrieten aber nichts. „Nun, vorher schulde ich sicherlich auch dir ein paar Antworten. Vermutlich würdet ihr beide verstehen. Aber noch ist es nicht soweit. Du mußt vorerst noch Geduld haben, irgendwann kann ich dir alles erklären und John auch. Ich möchte eine so junge Freundschaft noch nicht belasten.“ Mehr wollte er nicht sagen.

Abrupt wechselte er das Thema. „Aber was ich eigentlich wollte. Ich habe eine Einladung zu einer Auktion erhalten. Es werden antike Talismane, Anhänger, Beschwörungsbücher, magische Amulette und ähnliche Dinge von einem echten Schloßherren an ausgesuchte Sammler angeboten. Die Einladungen sind streng limitiert, nur rund 20 Leute sind angeschrieben worden. Die Objekte sind alle sehr sehr alt, wertvoll und mit einem eigenen Zauber behaftet. Auch ich werde einige Stücke aus meiner Sammlung bei dieser Auktion anbieten. Ich darf zu dem Treffen vier Leute mitbringen. Natürlich begleitet mich Kolya. Ich weiß, daß John sich sehr dafür interessieren würde und daher werde ich ihm anbieten, uns zu begleiten. Und daß du die Versteigerung faszinierend finden würdest, weiß ich. Und ich würde mich über deine Gesellschaft freuen. Außerdem könnten wir vier uns dann gleich besser kennen lernen.

Daher möchte ich euch einladen, mich zu begleiten. Bedenke auch, das ist eine einmalige Gelegenheit, alleine das Schloß ist eine Sehenswürdigkeit, die Besuchern sonst verschlossen bleibt. Allerdings ist es eine längere Reise und wir müßten das erste Teilstück mit dem Flugzeug und den Rest dann mit dem Auto zurücklegen. Das Treffen mit Versteigerung wird ungefähr eine Woche dauern, die Anreise mindestens noch mal jeweils einen Tag. Zimmer werden vom Gastgeber im Schloß zur Verfügung gestellt.“ Als er erzählte, hatten seine Augen zu leuchten begonnen. Er hätte mich gar nicht weiter überzeugen brauchen, ich war schon begeistert, es klang einfach phantastisch. Natürlich konnte ich nicht für John entscheiden, und ob es klug war, längere Zeit mit beiden Männern zu verbringen war eine ganz andere Frage. Aber ich würde dieses Schloß und die magische ‚Ware’ gerne sehen.

„Also, ich finde es toll. Da wäre ich schrecklich gerne dabei.“ „Das hatte ich gehofft. Leider wird die Reise nicht ganz so bequem. Wir werden in einem umgebauten Learjet reisen, der für den Transport wertvoller alter Schriften umgerüstet ist. Das Flugzeug sowie sämtlichen anderen Kosten der An- und Abreise wird natürlich der Gastgeber zahlen.“ „Egal, wenn ich auch zwischen Kartons sitzen muß.“ „Na, so schlimm wird es auch nicht, es gibt nur keine Fenster und es wird kühl und trocken sein im Flugzeug. Aber zumindest geht der Rest der Fahrt mit Limousine. Und noch was. Die Reise geht schon heute in sechs Tagen, also nächsten Freitag, los.“

Er schaute auf die Uhr. „In einer halben Stunde treffe ich mich mit John und werde ihm den Mund wässerig machen. Ich denke, zu viert haben wir bestimmt eine interessante Zeit.“ Oh ja, klar doch. Zwei Männer, bei denen es in meinem Magen kribbelt. Und beide über eine Woche in meiner Nähe. Als Salz in der Suppe war dann auch noch ein kleines Geheimnis – wie zum Beispiel einen kleinen Mordfall. Das klang in der Tat ‚prickelnd’. Aber eigentlich war ich nicht allzu besorgt. Die beiden Männer verstanden sich scheinbar erschreckend gut, immerhin hatte John wohl – im Gegensatz zu mir – eine telefonische Vorwarnung vor Gabriels Besuch bekommen. Aber ich hatte keinem gegenüber irgendwelche Verpflichtungen und für Notfälle war ja auch Kolya noch da. Also, nichts stand einer aufregenden Woche im Wege.

Gabriel trank noch seinen Kaffee aus und als ich ihn zur Tür brachte, nahm er mich an den Schultern und schaute mir in die Augen. „Keine Sorge, schwarze Rose! Alles ist viel komplizierter und viel einfacher, als du denkst. Und halte dich an den klugen Rat, den du vor einiger Zeit bekommen hast: tue, was dein Herz verlangt. Du kannst dir die Worte deines Verstandes anhören, aber folge trotzdem immer dem Herzen. Denn dein Herz sieht Dinge, die dein Verstand nicht begreifen kann.“

Mit diesen kryptischen Worten zog er mich kurz an sich und verschwand. Danach war mir dann überhaupt nicht mehr nach ausgehen. Gut eine Stunde später rief mich John an, daß er ebenfalls die Einladung nicht hatte ausschlagen können. Er konnte sich gar nicht erklären, daß Gabriel ihn mitnehmen wollte. Natürlich hatte er sofort zugesagt. Schön, ich hatte schon befürchtet, daß seine Arbeit ihn hindern würde. Aber so war unsere Reisegruppe doch komplett.

Gabriel hatte sich um alle notwendigen Vorbereitungen gekümmert. Er hatte uns nur gesagt, daß wir warme Kleidung mitnehmen sollten und unsere Ausweise. Aber das Ziel der Reise wollte er nicht verraten. Am Tag der Abreise holte uns die Limousine wieder ab. Diesmal saß Kolya mit hinten, einer der Bodyguards aus dem Club fuhr. „Wir wollen den Wagen nicht über eine Woche am Flughafen stehen lassen und hier würden auch sechs Leute noch bequem hinein passen.“


Im Schloss

Lasziate ogne spirenza, voi ch’intrate.
Abandon all hope, ye who enter here.
Ihr, die ihr eintretet, lasset alle Hoffnung fahren.
Wi, to kto sachodilt, terjatat wsju nadeschdu

Gabriel kümmerte sich um das Check-in und vergewisserte sich, daß der Learjet auch schon bereit stand und mit seinen Schätzen beladen worden war. Wir ließen uns derweil in der VIP-Lounge verwöhnen. Auch John hatte keine Ahnung, wo die Reise hin gehen sollte. Und das war auch vorerst nicht herauszufinden. Wir stiegen im Dunkel in den Jet und der war tatsächlich umgebaut. Es gab keine Fenster, der komplette Innenraum war für den Transport empfindlicher Fracht ausgelegt. Es gab immerhin bequeme Sessel und eine kleine Minibar aber der Rest des Raumes wurde von Metallschränken und Kisten beherrscht. Die Luft wurde gefiltert und es war kühl ohne eine Spur von Feuchtigkeit. Kolya informierte uns, daß die wertvolle Fracht schon in den Spezialschränken verstaut war und wir sofort loslegen konnten.

Es war ein eigentümliches Gefühl, daß man die Landschaft während des Starts und auch während des Fluges nicht sehen konnte. Ich löcherte  Gabriel so lange mit unserem Reiseziel bis er endlich lachend aufgab: „Wo gibt es uralte Schlösser, jede Menge Aberglaube und versteckte Schätze?“ „Ich weiß nicht, vielleicht in England?“ „Fast richtig! Wir fliegen nach Schottland, genauer, zu einem kleinen Flughafen in der Nähe von Edinburgh. Also lehnt euch zurück, freut euch auf einen ruhigen, wenn auch längeren Flug und ein echtes Highland Castle.“ Also taten wir folgsam genau das, plauderten erwartungsvoll und irgendwann döste ich auch ein. Ich mußte wohl eine Zwischenlandung verpaßt haben denn ich wachte erst wieder auf, als ich den Druck der Beschleunigung in meinen Ohren spürte. „Wir sind so gut wie da, mußten nur einmal kurz zwischenlanden. Jetzt ist es fast geschafft aber noch stehen uns einige Stunden Autofahrt bevor.“

Als wir das Flugzeug verließen, begrüßte uns eine typisch britische Nacht: es war ungemütlich kalt und es regnete Bindfäden. Gabriel erklärte: „Die Mitarbeiter unseres Gastgebers werden sich um die Ladung kümmern. Für uns steht ein Wagen bereit.“ Kolya sammelte unser Handgepäck zusammen und dann arrangierten wir uns mit dem Fahrzeug, einem großen alten Bentley mit dem Steuer auf der falschen Seite. Auf dem Beifahrersitz lagen einige Straßenkarten. Kolya war wieder der Chauffeur und ich saß vorne neben ihm, während John und Gabriel hinten über Spukschlösser philosophierten. So fuhren wir durch die Nacht, erst über Hauptstraßen, dann Nebenstraßen, später nur noch Feldwege – es war mir ein Rätsel, wie Kolya den Weg im Dunkeln und ohne Blick auf die Straßenkarten fand.

Plötzlich standen wir vor einem schmiedeeisernen Tor. Als wir anhielten, öffnete es sich ohne Aufforderung völlig geräuschlos und ließ uns auf das Anwesen. Erst ging es durch einen alten Wald, dann folgte ein offener Park und endlich erhob sich gegen das Schwarz des Himmels die Silhouette eines typischen Spukschlosses. In einigen Fenstern brannte Licht und aus der Eingangstür fiel ein heller Strahl auf die große geschwungene Freitreppe davor. Ein kräftiger Wind blies uns durch, als wir vom Auto zu der geöffneten Eingangstür durch den Regen eilten. Ein stilechter Butler in schwarzer Livree und weißen Handschuhen grüßte uns und führte uns umgehend in einen Salon – vor ein großes Kaminfeuer. „Ihr Gepäck wird auf ihre Zimmer gebracht. Haben sie bitte einen Moment Geduld, der Hausherr wird sofort kommen.“ Damit ließ er uns alleine.

Während wir noch um das Feuer standen und unsere klammen Finger wärmten, trat eine kleine, gebückte Gestalt ein. Der Mann war an die 80 Jahre, hatte nur noch wenige graue Haare, ein faltiges Gesicht und war vom Alter gebeugt und sehr dünn. Trotz seines Alters und der Erscheinung wirkte er würdevoll und willensstark.

„Ich hoffe, ihr hattet eine angenehme Reise Gabriel. Kolya, keine Probleme, mein Domizil wieder zu finden?“ Seine Stimme war leise mit einem starken Akzent. Der zuletzt angesprochene reichte ihm zuerst die Hand. „Lord Rodenby! Wie schön, sie wieder zu sehen. Nein, keine Probleme, allerdings würde ich es vermutlich nicht finden, wenn es mal nicht regnerisch und dunkel wäre….“ Der alte Mann kicherte eher un-greisenhaft. „Wohl wahr, wohl wahr.“ Dann trat Gabriel auf ihn zu und umarmte ihn vorsichtig. „Gut siehst du aus, Alistair. Vielen Dank erst mal für die Einladung, das Flugzeug und natürlich die Gastfreundschaft. Jetzt möchte ich dir aber auch unsere beiden Begleiter vorstellen;“ er griff meine Hand und zog mich näher heran.

„Dies ist LaVerne Kordens. Eine ganz besondere Freundin und Kunstinteressentin. Sie hat auch schon eine ganze Menge über unser Sammelgebiet gelernt und kann echte Schönheit erkennen.“ Na ja, etwas übertrieben vielleicht aber auf jeden Fall schmeichelhaft. „LaVerne, darf ich dir Lord Alistair Ian Rodenby vorstellen.“ Ich reichte dem alten Mann die Hand und obwohl alles an ihm gebrechlich aussah, steckte in seinem Händedruck viel Kraft. „Es ist mir eine Freude, sie kennen zu lernen. Und natürlich möchte ich mich auch für diese nette Einladung bedanken. Ich bin wirklich auf ihre zu versteigernden Objekte gespannt.“ Er kicherte wieder. „Wie freundlich von ihnen, junge Dame. Die Freude, so ein reizendes und scheinbar auch kluges Geschöpf unter meinem Dach zu haben, ist die Belohnung für meine Einladung. Bitte, fühlen sie sich wie zuhause.“ Er hatte eine kuriose Art der Formulierung es klang aber durchaus ehrlich. Die vielen Falten in seinem Gesicht deuteten darauf hin, daß er oft lächelte. Dann ergriff Gabriel auch John an der Hand und zog ihn ebenfalls heran.

 „Das ist John Tremane. Er ist Polizist und teilt unsere Leidenschaft für unbekannte und mysteriöse Dinge. Er hat ein ungeheures Wissen und kann dazu noch tolle Geschichten aus der Sicht eines Gesetzeshüters erzählen.“ Damit übergab er Johns Hand in die unseres Gastgebers. „Lord Rodenby, ich freue mich. Ich möchte mich den Worten von LaVerne anschließen und für die Gastfreundschaft danken. Gabriel hat sicherlich übertrieben mit meinem Wissen aber zumindest ist das Interesse vorhanden.“

Der Lord schaute ihn einen Moment von unten bis oben an, lächelte wieder und dankte: „Nein, ich habe für ihren Besuch zu danken. Solch einen Gast hatte ich noch nie. Das hat Gabriel hervorragend gemacht. Ich fürchte, ich werde von ihnen ein paar ihrer Geschichten hören müssen, um meine Neugier zu befriedigen. Und ich bin sicher, das eine oder andere Stück meiner Sammlung wird ihr Interesse erregen. Jetzt werden sie aber alle erst mal auf ihre Zimmer gebracht. Sicher sind sie von der langen Reise erschöpft. Dort steht auch ein kleiner Snack für sie bereit. Leon!” Bei dem letzten Wort drehte er sich zur Tür und hob die Stimme. Sofort trat der Butler in den Salon. „Bitte bringen sie unsere Gäste in ihre Quartiere.“ Er nickte uns noch einmal zu und ging dann formlos aus dem Raum. Wir folgten dem Butler.

Das Schloß entsprach in jeder Form den gängigen Klischees. Dunkle Gänge, alte Rüstungen, Ölbilder, Gobelins und schwere Läufer begleiteten uns in den ersten Stock und über einen langen Gang. Alles nur vom Schein der Öllampen an den Wänden beleuchtet. Zuerst erreichten wir Gabriels Zimmer. Gleich links daneben war Kolya untergebracht, daneben folgte mein Raum und zum Schluß kam das Zimmer von John, direkt in der Ecke gelegen.

Zwischen Kolyas und meinem Raum gab es eine doppelte Verbindungstür. Und mein Badezimmer grenzte an das von John und konnte ebenfalls durch eine doppelte Tür von dort erreicht werden. Die gleiche Aufteilung war auch bei Gabriel und Kolya zu finden.

Da John ein Eckzimmer bewohnte, hatte er zwei riesige Fenster an zwei Seiten des Raumes, beide bis zum Boden und zu öffnen auf einen schmalen Balkon, der um das ganze Haus herum verlief. Von jedem unserer Zimmer konnte man auf diesen Balkon gelangen.

Unsere Koffer waren schon da und nachdem wir die Räume inspiziert hatten, trafen wir uns noch kurz auf dem Balkon. Noch war es kalt und feucht aber der Himmel schien ein wenig heller zu werden. Bald würde die Dämmerung einsetzen. Der Sonntag stand kurz vor seinem Anbruch.

„Und, wie gefällt es euch bisher?“

John antwortete zuerst auf Gabriels Frage: „Wundervoll. Dieser Ort hat eine ungewöhnliche Ausstrahlung und der Gastgeber scheint sehr nett zu sein. Irgendwie so, wie ich mir einen schottischen Lord immer vorgestellt habe.“ Ich ergänzte „und die Zimmer sind traumhaft. Die Reise hat sich jetzt schon gelohnt.“ Kolya lachte. „Ihr habt doch noch nichts gesehen. Wartet, bis die Stücke gezeigt werden, die zum Verkauf stehen. Vermutlich wird heute Abend eine Besichtigung sein.“

Ich gähnte, entschuldigte mich und verschwand in meinem Zimmer. Irgendwie war mein Zeitgefühl durcheinander geraten. Dort wartete schon ein riesiges Himmelbett auf mich. Das Duschen würde ich auf morgen verschieben, jetzt nur noch ins Bett. Auf dem Nachttisch – der eher an einen kleinen Schrank erinnerte – stand ein Korb mit Obst. Ich merkte nicht mal mehr, wie ich aufs Kissen sank, bis dahin war ich schon eingeschlafen. Komisch, daß reisen so müde machte…

Niemand weckte mich und als ich endlich aufstand, war der Tag mal wieder weit fortgeschritten. Die dunklen Vorhänge hatten auch kein Licht hereingelassen. Nach einem ausgiebigen Bad hörte ich John im Nebenzimmer. Also machte ich mich fertig und klopfte an seinen Teil der Verbindungstür. „Immer man rein“ rief er und ich grüßte mit einem „hey – war wohl doch kein Traum.“ John war ebenfalls fertig und zusammen pochten wir erst an der Tür von Kolya, dann an der von Gabriel, beide Male ohne Erfolg. „Die sind bestimmt schon lange unterwegs. Laß uns mal suchen gehen.“ Wir folgten dem Gang vom Vortag zurück.

In der großen Empfangshalle fand uns dann Leon. „Die Herren sind unten in den Verliesen und examinieren die Exponate“, informierte er uns. „Bitte folgen sie mir in den Frühstücksraum.“ Wieder gelangten wir in einen großen Saal mit einem langen, polierten Tisch und Rüstungen an den Wänden. In großen Warmhalteschalen fanden sich Eier, Speck, Kartoffeln, Würstchen und es gab Kaffee, Säfte und verschiedenste frische Früchte. Wir genossen ein echtes Festmahl und plauderten beizu über die Umgebung und das Schloß. Leon, oder ein anderer Bediensteter, waren nicht da und wir schienen ganz alleine in diesem riesigen, uralten und stillen Haus.

 „Ich fühle mich in einen alten Gruselfilm versetzt“, meinte John. „Es fehlt nur noch das Kettenrasseln“ ergänzte ich. Unsere Laune war bestens. Meine Uhr zeigte nach vier als wir endlich aufstanden. Wie auf ein geheimnisvolles Zeichen hin erschien sofort der Butler. „Wenn die Herrschaften mir folgen möchten, bringe ich sie jetzt hinunter zu den anderen Gästen.“ Das war ja fast peinlich, alle schon lange fit und auf und wir Fremden als Langschläfer gebrandmarkt. Es half nichts, wieder ging es verschiedene Gänge herunter und dann durch ein enormes steinernes Portal in die Kellerräume – das Verlies, wie Leon gesagt hatte. Hier hörte man ein leichtes Brummen und die Wände waren nicht mit Öllampen sondern mit elektrischen Imitaten geschmückt. Die Luft war kühl und trocken.

„Klimaanlage“ flüsterte John mir zu. Hier fühlte man sich unwillkürlich zum Flüstern animiert. Leon lieferte uns in einer großen Halle ab, deren Wände aus Stein waren. Alles erinnerte ein wenig an Gabriel Weinkeller. An einer Seite standen Stahlschränke, mehrere – allerdings geschlossene – Türen zweigten ab. In der Mitte des Raumes befand sich ein großer Steinquader, fast wie ein antiker Altar. Kleinere Steinquader dienten neben großen Eichenstühlen als Sitzgelegenheiten.

In dem Gewölbe befanden sich rund 25 Personen. Darunter auch unser Gastgeber sowie Gabriel und Kolya. Leon nickte schweigend und ließ uns am Eingang stehen. Alle Männer in der Runde drehten sich zu uns um und warfen uns teils fragende, teil überraschte Blicke zu. Tatsächlich waren alle Personen im Raum Männer. Und außer unserem Gastgeber waren alle noch dazu fast komplett in Schwarz gekleidet. Im Geiste machte ich einen Vermerk, Johns grauer Anzug und mein blaues Kostüm fielen deutlich auf. Zum Glück kamen Gabriel und Kolya sofort auf uns zu, sonst wäre ich unter den seltsamen Blicken dieser Gesellschaft noch fast geflüchtet.

„Oh, da seid ihr ja.“ Gabriel legte einen Arm um meine und einen um Johns Schulter. „Wir schauen uns grade an, was in den nächsten Tagen versteigert wird.“ Damit zog er uns zu dem Steintisch. Darauf verteilt lagen verschiedenste Schmuckstücke. Kettenanhänger, Talismane, Uhren, Amulette und Ringe. Es gab Gold, Jade, Elfenbein, und viele Materialien, die ich nicht identifizieren konnte. Alle Stücke sahen sehr alt und sehr wertvoll aus. John schien in einigen Dingen mehr zu erkennen. Er gab einen leisen Begeisterungslaut von sich. „Oh, ein Amulett des Aion.“ Er zeigte auf einen Anhänger. „Der Gott der Luft und der Zeit, Hüter der Sternzeichen.“ Lord Rodenby war zu uns getreten: „Oh, ich wußte es doch, ein Kenner.“ Damit starteten die Zwei in eine Diskussion über antike Schutzgötter und zogen sich in eine der Sitzecken zurück.

Gabriel erklärte mir einige der Stücke. Sein Arm – noch immer auf meiner Schulter – schien schwerer zu werden und brannte durch meine Kleidung. „Der Raum ist klimatisiert, entfeuchtet und extra für die Aufbewahrung alter Schriften ausgelegt. Komm LaVerne, ich zeige dir ein paar davon. Einige sind uralt.“ Er zog mich zu dem Stahlschrank und öffnete eine der breiten aber nicht sehr hohen Schubladen. Ein Pergament lag darin, reich verziert in der eckigen Schrift der Mönche. „Eine uralte Beschwörungsformel für Dämonen. Schau nur die herrliche Art, das Initial zu einem Bild zu stilisieren.“ Es gab auch Bücher in dem Gewölbe, Kupferstiche und sogar ein paar Steintafeln mit eingemeißelten Runen. In diesem Keller mußte ein Vermögen lagern.

Keines der zum Verkauf stehenden Stücke hatte eine Nummer oder eine Preistafel und niemand machte sich Notizen. Überhaupt waren die anderen Gäste irgendwie - anders. Seltsam. Abgesehen von der dunklen Kleidung hatten sie noch mehr Gemeinsamkeiten. Alle schienen in den 40ern zu sein, jeder einzelne war mindestens 1,85 Meter und es gab keinen einzigen Dicken oder richtig Häßlichen unter ihnen. Sie schlenderten größtenteils schweigend alleine oder zu zweit durch das Verlies und die angrenzenden Räume mit weiteren zum Verkauf stehenden Stücken. Hin und wieder bemerkte ich kurze, interessierte bis neugierige Blicke zu mir und John – wir fielen auf und das lag nicht nur an der Kleidung. Die Stimmung war nicht feindselig aber mir schien es, als ob sich die Besucher alle kennen würden und wir Fremdkörper wären. Ich fühlte mich weder bedroht noch sonderlich ängstlich aber mir lief doch ein Schauer über den Rücken. Unwillkürlich rückte ich näher unter Gabriel’s Arm. Seine anfangs freundschaftliche Geste wurde zunehmend fester und schien mich zu beschützen. Vor was oder wem auch immer. Jedenfalls empfand ich seine Nähe in diesem Moment hauptsächlich beruhigend, obwohl er gleichzeitig sehr anregend wirkte.

Nach einer Weile gesellte sich John wieder zu uns. Er schien nichts von all dem bemerkt zu haben und erzählte mich leuchtenden Augen von den Schätzen auf dem Tisch. Gabriel lächelte wissend: „Siehst du John, ich wußte, daß es dir gefällt. Warte, bis wir anfangen, einzukaufen. Die Sachen, die wir und auch die anderen Gäste mit-gebracht haben, werden jetzt noch sortiert und morgen vorgestellt. Dann geht es erst richtig los.“

Zu viert machten wir uns wieder in Richtung der großen Empfangshalle auf. John in lebhafter Unterhaltung mit Gabriel vertieft und ich schweigend knapp dahinter neben Kolya. Der warf mir mehrmals einen Blick zu. Ohne mich anzusehen sagte er dann leise: „Sie haben heute eine ganz besondere Gesellschaft getroffen, LaVerne. Haben sie keine Angst vor ihnen, aber erweisen sie ihnen Respekt. Sie wissen, daß sie und John nicht in ihren Kreis gehören – bisher. Aber ihr zwei gehört zu uns und werdet daher akzeptiert und ihr habt keine Vorstellung, was für eine Besonderheit das ist. Trotzdem schulden wir – oder genauer eigentlich Gabriel – ihnen und John eine Erklärung.“ Ich schaute ihn an aber er starrte weiter nach vorne auf Gabriels Rücken. „Sie sind so – ruhig und … und irgendwie gleich. Und distanziert und dunkel.“ „Das Blut verbindet sie.“ Und damit standen wir in der Eingangshalle.

Gabriel drehte sich um. Er schaute Kolya mit einem Blick an, den ich noch nie gesehen hatte – er weckte die gerade eingeschlafene Gänsehaut zu neuem Leben. Dann sagte er: „Wir werden morgen den ganzen Tag mit den Vorbereitungen für die Versteigerung beschäftigt sein. Für euch“, er nickte John und mir zu, „ist eine Kutschfahrt durch die Ländereien vorbereitet. Man wird euch um 10 Uhr wecken. Hier gibt es wunderbare Landschaft, ein paar sehenswerte Ruinen, Tropfsteinhöhlen und sogar ein Moor. Wir treffen uns morgen abend zum großen Dinner. Heute wird das Abendessen auf den Zimmern serviert. Ich muß noch mal nach unten. Wollen wir uns in einer Stunde bei John im Zimmer treffen, er hat den schönsten Ausblick und den größten Tisch?“ Wir erklärten uns einverstanden. Kolya ging mit uns nach oben, sagte aber nichts mehr. Jeder verschwand dann in seinem Raum um die Stunde sinnvoll oder sinnlos zu nutzen.

Ich blieb nur zehn Minuten in meinem Raum, dann entschied ich, einmal das Schloß von draußen zu betrachten, trotz Dunkelheit und aufkommendem Nebel. Ohne Schwierigkeiten fand ich die Eingangstür. Ich ging bis zur großen Auffahrt – konnte aber nicht viel erkennen. In einigen der Fenster brannte Licht – ich identifizierte sogar unsere Räume. Schnell wurde mir kalt und ich beeilte mich, ins Haus zurückzukehren.

Auf dem Weg durch einen der Gänge begegnete ich dann einem der dunklen Herren aus dem Keller. Die Beschreibung erübrigte sich fast: schwarzes Haar, weinrotes, bis zum Bauchnabel geöffnetes Seidenhemd, schwarzer Schal. Normalerweise ein appetitlicher Anblick. Der Mann war groß, vielleicht noch größer als Gabriel aber schlanker und weniger muskulös. Die halblangen Haare waren mit Gel zurück gekämmt und vervollständigten nur noch das Bild.

Er blieb stehen und lächelte mich mit schneeweißen Zähnen an. Ich lächelte zurück und nickte freundlich aber ohne etwas zu sagen. Er ließ mich nicht aus den Augen und als ich neben ihm war ging er auch nicht zur Seite, so daß ich ihn fast streifen mußte, wenn ich denn vorbei wollte. Eine unheimliche Wärme ging von ihm aus und mein Herz klopfte bis in den Hals – der Grund war schwer auszumachen. Ich dachte an Kolyas Worte: haben sie keine Angst. Gut gesagt, der Mann mir gegenüber hatte eine nette Art, die Zähne zu zeigen. Dann war ich vorbei und spürte seine Augen in meinem Rücken. Irgendwie mußte ich an ein Raubtier im Sprung begriffen denken. Als ich mich endlich vor meiner Zimmertür umdrehte, war er verschwunden.


Wahrheit
 

And we sense the danger
But don’t wanna give up
Caus there’s no smile of an angel
Without the wreath of a god (HIM)

Ein Klopfen an der Verbindungstür zu Kolyas Zimmer weckte mich aus einem leichten Schlummer. Ich öffnete und Gabriel und Kolya kamen rein. Zu dritt gingen wir über den Balkon – durchs Bad wäre doch etwas stillos gewesen – zu Johns Zimmer. Er hatte tatsächlich einen großen Tisch und diesen auch schon frei geräumt. Denn jetzt türmte sich ein üppiges Abendessen darauf. „Eben war Leon da und hat das alles hier abgeliefert. Ich dachte schon, ich dürfe das alles ganz alleine verdrücken und ihr kriegt auch alle solche Portionen“, grinste er. Wir ließen es uns schmecken. Die Unterhaltung plätscherte dahin und kreiste natürlich weiterhin um die große Versteigerung. Ich hörte größtenteils nur zu und versuchte, mir möglichst viele der Detailbeschreibungen zu merken. Irgendwann kam dann Leon wieder und nahm die Überreste unseres Gelages mit. Er tauschte alles gegen mehrere Flaschen sehr alten schottischen Whiskeys. „Der wird direkt hier im Umkreis in einer kleinen Destillerie gebraut. Mild und sehr lecker. Ich habe auch immer einige Flaschen für Notfälle zu hause“, erklärte Gabriel, während er einschenkte.

Wir lehnten uns zurück, genossen das Feuer im Kamin – jeder Raum hatte einen eigenen, der abends entzündet wurde – und schwiegen erst mal entspannt. Der Whiskey war wirklich sehr mild. Nach einer Weile erzählte John leise von einigen seiner Fälle und wir alle lauschten gebannt. John konnte sehr spannend und flüssig erzählen. So verging die Zeit. Irgendwann stand Kolya auf: „Wir müssen alle morgen aufstehen und es ist schon spät. Wir sollten Schluß machen.“ Er hatte Recht. Ich spürte schon eine leichte Wirkung des Alkohols und ich hatte keine Lust auf Kopfschmerzen am nächsten Morgen.

Ich stand als erste auf und wünschte eine allgemeine gute Nacht. Spontan umarmte ich John und huschte in Richtung des Balkons, bevor er richtig zugreifen konnte. Die beiden anderen verabschiedeten sich auch und folgten mir nach. Vor meiner Balkontür umarmte ich dann auch das erste Mal Kolya – eine größere Aktion, weil er sich bücken und ich trotzdem auf Zehenspitzen stehen mußte. Dann kam noch Gabriel an die Reihe. Er hielt mich einen Augenblick lang fest in seinen Armen – mein Herz setzte einen Schlag lang aus – dann streifte sein Mund mein Ohr und im nächsten Moment waren beide durch die Tür zu Kolyas Zimmer verschwunden. Eine ganze Weile stand ich nach dem Ausziehen noch in eine Decke gewickelt auf dem Balkon. Dann sperrte ich den Nebel aus und streckte mich in dem riesigen Himmelbett aus.

Herzlos weckte mich ein Hausmädchen Punkt zehn Uhr – viel zu früh nach dieser langen Nacht und dem Whiskey. Aber immerhin zeigte sich eine blasse Sonne obwohl es recht kalt und noch feucht vom Vortag war. Im Frühstückssaal fand ich John, der schon angefangen hatte. Gegen elf Uhr stand dann eine altmodische Kutsche in der Auffahrt mit zwei pechschwarzen Andalusiern davor. Ein herrlicher Anblick. Und die Fahrt war wirklich ein einmaliges Erlebnis durch eine wildromantische Landschaft. Der Kutscher lieferte uns mittags in einem Bauernhaus ab, wo ein zünftiges Essen auf uns wartete. Die Tour war perfekt durchgeplant und es war schon dunkel, als wir endlich das Schloß wieder erreichten. Das war ein unvergeßliches Erlebnis. Wir kehrten auf unsere Zimmer zurück, wo für jeden von uns eine Nachricht lag, daß das große Dinner um 21 Uhr beginnen würde.

Diesmal wählte ich ein schwarzes Kleid und als John mich um kurz vor neun abholte, trug auch er einen schwarzen Anzug – der ihm ausgezeichnet stand. Er grinste: „Wir müssen uns ja anpassen.“ Also war es ihm doch aufgefallen. Zusammen gingen wir in die Eingangshalle. Das Hausmädchen von heute morgen geleitete uns in den Speisesaal.

Wir fanden uns in dem Frühstückssalon wieder, mit dem großen Tisch und den Rüstungen. Nur war dieses Mal alles für den Abend gedeckt und für ungefähr 30 Personen. Am Kopfende der großen Tafel hatte unser Gastgeber Platz genommen, die anderen Plätze waren noch nicht belegt, weil die anderen Gäste noch mit Gläsern in der Hand im Raum standen. Gabriel warf mir einen kurzen Blick zu, stockte und zeigte dann sein strahlendstes Lächeln. Er eilte durch den Raum auf uns zu während seine Augen zwischen uns hin- und herwanderten. „Schwarze Rose, du siehst atemberaubend aus.“ So eine Begrüßung liebte ich. Er nahm meine Hand und hauchte einen Kuß darauf. Mit der anderen Hand zog er John zu sich heran. „Du solltest so etwas öfter tragen.“ John und ich schauten uns kurz an und ich sah ein leichtes Zucken einer Augenbraue. Genau meine Meinung – wir hatten das Richtige getroffen.

Lord Rodenby erhob sich als wir langsam auf ihn zu gingen. Durch seine gebückte Haltung war er nicht größer als ich. Er griff  nach meiner Hand: „My Lady, da ihr heute die einzige Dame hier seid, gebt mir bitte die Ehre, euch zu eurem Platz zu geleiten.“ Als ob ich da eine Wahl hätte. Viel schlimmer war, daß er mich an das Fußende der Tafel – ihm gegenüber – geleitete. Ich fühlte mich eindeutig auf dem Präsentierteller, besonders, weil alle Gäste uns beobachteten, bis der Butler meinen Stuhl passend zurecht gerückt hatte. Dann nahmen alle ihre Plätze ein, scheinbar gab es doch eine unsichtbare Sitzordnung. Wenigstens saß Kolya rechts von mir, Gabriel saß am anderen Ende des Tisches neben dem Lord, John neben Gabriel – zumindest ließ man uns nicht ganz ohne ‚Schutz’.

Als alle saßen, erhob sich Lord Rodenby wieder:

 „Meine lieben Gäste – liebe Freunde. Euer letzter Besuch ist lange her. Viel ist in der Zwischenzeit geschehen. So ist es immer. Aber trauern wir nicht dem Vergangenen hinterher sondern freuen uns auf das Zukünftige. Ich werde mich von einigen meiner Erinnerungsstücke trennen und weiß doch jetzt schon, daß alle in würdige Hände gelangen werden. So ist das richtig. Ich hoffe, ihr alle habt Freude an diesem Treffen. Ich jedenfalls habe sie. Es gibt noch viel zu sagen, doch ist dies nicht die richtige Zeit. Daher will ich jetzt auch nicht mehr lange reden, lasset es euch schmecken, frischt alte Erinnerung und Freundschaften auf, tankt Kraft. Danke, daß ihr alle gekommen seid und haltet die Tradition in Ehren.“

Damit setzte er sich, eine Tür öffnete sich und mehrere Kellner in Livree begannen, Rotwein auszuschenken. Als alle Gäste versorgt waren, erhob sich Gabriel.

„Lieber Alistair, liebe Freunde und Brüder. Ich spreche für uns alle, wenn ich für diese großzügige Einladung danke. Deine Gastfreundschaft ist wundervoll und wir fühlen uns hier wie zuhause – nur besser.“ Einige kleine Lacher ertönten. „Wir danken, daß du deine Kostbarkeiten mit uns teilen willst. Wir danken für die Einladung und wir danken dafür, daß du die alten Traditionen in Ehren hältst. Und wir freuen uns darauf, dir irgendwann auch unsere Gastfreundschaft zu Teil werden zu lassen.“ Dann drehte er sich zu den anderen Gästen um und sagte: „Und ich freue mich, so viele von meinen Brüdern auf diese Weise wieder zu sehen. Salve Comes.“ Und im Chor kam von allen Anwesenden die Antwort zurück: „Salve Corvus.“

Damit setzte er sich, hob sein Glas und alle folgten seinem Beispiel. Der Rotwein war trocken und sehr aromatisch – eine echte Kostbarkeit. Das Essen, das dann folgte, umfaßte mehrere Gänge, von Weinbergschnecken über Krabbensuppe, verschiedene Fischsorten, Geflügel, Wild bis hin zu Obst, Käse und Schokolade. Die Unterhaltungen waren, soweit welche stattfanden, sehr leise. Im Hintergrund hörte man leise Geigenklänge und hin und wieder das knistern des Kaminfeuers. Es herrschte eine entspannte Atmosphäre, aber immer wieder bemerkte ich verstohlene Blicke mit einem seltsamen Ausdruck, die mir und John galten. Doch die waren keinesfalls un-freundlich oder bedrohlich. Eher neugierig, manche sogar interessiert. Kolya unterhielt sich eine ganze Weile mit seinem Nachbarn zur Rechten. Der Herr zu meiner Linken berichtete mir, daß Gabriel einige besondere Bücher für die Versteigerung mitgebracht hätte. „Jedes für sich ein echtes Kleinod. Daß er sich davon trennen mag. Ich hoffe, der Preis ist vertretbar.“ Gelegentlich warf mir Kolya ein kurzes, kontrollierendes Lächeln zu, um zu schauen, ob auch alles in Ordnung war. Er sah aber wohl, daß ich zurecht kam.

Das Essen zog sich über mehrere Stunden hin. Langsam wurde ich müde, immerhin hatte ich schon eine Rundreise der Umgebung hinter mir. Irgendwann fing ich einen Blick von Gabriel auf. Er beugte sich zu John herüber und fragte ihn etwas. Der nickte und sah zu mir rüber.

Kurz danach wurde der Tisch vollständig abgeräumt und die Männer standen auf. Der Herr neben mir, Don Vedu, wie er sich vorgestellt hatte, reichte mir die Hand. „Madame, darf ich sie zu unserem Gastgeber geleiten?“ So führte er mich durch die Männer-Menge. Als wir bei Lord Rodenby, John und Gabriel angelangt waren, übergab er meine Hand an Gabriel. „Du hast eine äußerst charmante Begleiterin mitgebracht.“ Und zu mir „vielen Dank für den unterhaltsamen Abend.“ Als ob ich viel dazu beigetragen hätte… Ich hatte immer gedacht, Handküsse seien vor vielen Jahren aus der Mode gekommen, aber auch dieser Herr hauchte seine Lippen auf meine Hand. Mußte wohl an der Ansammlung von Adel oder Ähnlichem hier liegen. Ich lächelte ihm nach, als er sich entfernte und sah dabei den Mann, den ich am Vorabend auf dem Gang getroffen hatte. Wieder zeigte er seine Zähne und nickte freundlich zu mir rüber. Gabriel fing den Blick auf und zog fragend eine Augenbraue hoch, sagte aber nichts.

Zum Gastgeber gewandt meinte er: „meine beiden Begleiter hatten einen langen Tag. Ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn sie sich jetzt zurückziehen. Morgen wird es bestimmt auch spät und die Versteigerung wollen sie sicher nicht verpassen.“ Ich lächelte dankbar und John nickte zustimmend. „Aber natürlich. Wir werden noch ein wenig über alte Zeiten und neue Geschäfte reden, nicht wahr Gabriel? Und dann ist es auch für mich Zeit zu ruhen. Ich hoffe, mein kleines Dinner hat euch geschmeckt?“

John kam mir mit der Antwort zuvor: „Es war überwältigend. Ich habe selten so gut gespeist.“ „Vielen Dank, wie nett von Ihnen. John, LaVerne? Ich wünsche eine angenehme Nachtruhe.“ Gabriel nickte uns zu und gemeinsam verschwanden John und ich durch die große Tür in die Eingangshalle. Auf dem Weg nach oben meinte ich: „Das Essen war klasse. Trotzdem, die Gäste sind seltsam.“ John hatte den gleichen Eindruck wie ich gehabt, aber auch er empfand keine Bedrohung. „Hast du gehört? Eine lateinische Grußformel: seid gegrüßt Gefährten – sei gegrüßt Rabe.“ Ach ja, Rabe, diese spezielle Vokabel hatte mir gefehlt. „Nur noch ein Punkt mehr auf meiner Liste der Merkwürdigkeiten. Was sagt der Polizist in dir?“ John zögerte. „Nun, anhand der Beweise hätte ich eine Theorie, aber ich brauche noch mehr – Indizien reichen hier wohl nicht – und ich will erst noch mit Gabriel reden, bevor ich mich näher äußere.“ Die Frage war mehr als Scherz gedacht gewesen, aber seine ernste Antwort brachte mich in die Realität zurück. „Wir werden ihn ansprechen, noch bevor diese Veranstaltung zu Ende ist. Versprochen?“

„Versprochen.“ Ohne Zögern lieferte er mich an meiner Tür ab, gab mir einen knappen Kuß auf die Wange und verschwand in seinem Zimmer. Er war scheinbar schon völlig in Gedanken ob des Rätsels dieser Gesellschaft versunken.

Wieder war es spät geworden, wieder war abends der feuchte Nebel aufgezogen, der das Schloß erscheinen ließ, als wäre es von der Welt entrückt. Diesmal ließ ich den Spaziergang über den Balkon ausfallen und ließ mich direkt ins Himmelbett gleiten.

Am nächsten Tag schliefen wir wieder beide bis spät in den Morgen. Als wir dann endlich fertig waren, war natürlich von Gabriel und Kolya nichts zu sehen. Also frühstückten wir wieder alleine und gegen Mittag brachte uns der Butler ins Verlies zurück. Alle Gäste waren schon dort versammelt, diesmal waren genug Stühle für alle Besucher herbei geschafft worden. Ein lockerer Halbreis wurde um den Altarstein gebildet und ein weiterer Diener stand neben den Schmuckstücken und Talismanen. Wir saßen zu viert an der rechten Seite, John und Gabriel vorne, Kolya und ich dahinter.

Dann begann endlich die Versteigerung. Jedes Stück wurde hochgehoben, vor den Reihen gezeigt und dann nannte der Diener das Anfangsgebot. Da wurde mir dann zeitweilig ganz anders. Ich hatte ja keine Vorstellung von den Finanzen der Teilnehmer gehabt. Einige Stücke begannen bei 150 Dollar, andere setzten bei 400 an, manches Stück wurde aber gleich mit 6 bis 10.000 veranschlagt. Hin und wieder bot Gabriel mit, aber eher verhalten. Er erstand einige Anhänger, einen unscheinbaren Kristall und – nachdem Kolya ihn geschubst hatte – auch noch einen goldenen Dolch.

Dann wurde ein goldener Skorpion gezeigt. Das Stück war rund 15 Zentimeter groß. Er wirkte so echt, als ob er jeden Augenblick loslaufen wollte. Gabriel und John wechselten ein paar leise Worte und dann ging Gabriel beim Bieten mit. Schließlich ersteigerte er das Prachtstück für fast 17.000. Dabei wechselte aber zu keiner Zeit Geld den Besitzer, es wurde einfach nur der Name des finalen Käufers genannt. So wechselten an diesem Nachmittag rund 250 Stücke ihren Besitzer. Und viel Geld.

Zwischendurch wurden Getränke serviert. Manchmal gingen einige Teilnehmer für einige Zeit raus oder unterhielten sich. Trotz des Tempos der Gebote dauerte die Versteigerung bis weit in die Nacht.

Als letztes Stück wurde ein Goldring versteigert. Er war sehr breit aber ohne Gravur – ganz schlicht. Nach der Größe des Ringes handelte es sich um einen Damenring und er schimmerte leicht rötlich. Wieder bot Gabriel mit und für einen diesmal vernünftigen Betrag ging er in seinen Besitz über. Als wir das Verlies für den Abend hinter uns ließen, schien Gabriel sehr zufrieden. „Wollen wir wieder bei dir essen, John? Dann erkläre ich euch auch, was ich heute alles gekauft habe.“

So trafen wir uns alle wenig später wieder in bei John im Zimmer, der schon mit dem Abendessen für vier Personen beliefert worden war. Wir plauderten beim Essen über Belanglosigkeiten. Als der Butler wieder die Reste des Essens gegen den Whiskey tauschte, machten wir es uns auf Fellen vor dem Kamin bequem. Gabriel legte einige Gegenstände vor sich auf den Boden. Ein Teil seine Schätze aus dem Verkauf des Nachmittags.

 „Zuerst der Skorpion. Teuer, aber sicherlich sein Geld wert. Angeblich hat er eine Hexe gestochen und sie hat ihn vor ihrem Tode in ein tödliches Schmuckstück verwandelt. Er besteht aus massivem Gold – also nicht hohl – und ist mit Edelsteinen besetzt. Dabei handelt es sich um die zwölf Halbedelsteine, die für die zwölf Sternzeichen stehen. Seine Schwanzspitze mit dem Stachel besteht aus einem Diamanten, der hauchdünn geschliffen ist.“ Aus der Nähe betrachtet und vom Schein des Feuers beleuchtet, schien er tatsächlich verzaubert – und gefährlich. „Angeblich soll ein Kundiger in der Lage sein, dem Tier Leben einzuhauchen und es für kurze Zeit loszuschicken. Zum ersten mal wird der goldene Skorpion im sechzehnten Jahrhundert erwähnt, ist also sehr alt. Dank an John, daß du ihn sofort erkannt hast.“ John lächelte nur bescheiden.

Dann holte Gabriel den Ring hervor. „Ein Dämonenring! Nein, nein, er ist gegen Dämonen. Er schützt seinen Träger vor allem Bösen und jeder Gefahr. Soll angeblich von einem der Erzengel geschmiedet worden sein. Das zumindest glaube ich nicht. Der Ring wurde in vielen alten Schriften erwähnt aber weil er im Moment inaktiv ist, hat ihn kaum jemand erkannt. Er leuchtet rubinrot, wenn er aktiv seinen Träger schützt. Außerdem ist er so gut wie unzerstörbar.“

Dann ging er seine anderen Schätze der Reihe nach durch, jedes Teil hatte seine eigene Geschichte. Als letztes zeigte er uns den goldenen Dolch. Dabei warf er Kolya mehrfach einen seltsamen Blick zu. „Dies ist eine rituelle Waffe, reserviert für eine besondere Zeremonie. Ich hätte nicht gedacht, ihn hier zu finden. Ich habe zuhause eine ganz ähnliche Waffe.“ Kolya hob die Augenbrauen sagte aber nichts weiter dazu. Gabriel legte auch dieses Stück zu Seite und wir redeten noch ein wenig über die anderen versteigerten Artikel. Es war wieder spät, als wir uns erhoben um auf die Zimmer zurück zu kehren. Morgen würde es weiter gehen, dann waren größere Gegenstände im Verkauf, viele der Bücher und Schriftrollen und auch Gabriels Beiträge würden darunter sein.

Der Mittwoch – schon der vierte Tag unseres Aufenthaltes hier – gestaltete sich sehr ähnlich dem vorherigen Tag. John und ich frühstückten wieder alleine in dem großen Speisesaal und gesellten uns dann zu den Teilnehmern der Versteigerung. Diesmal ging es nicht so schnell voran, viele der Käufer nahmen die Ware erst noch einmal genau in Augenschein, bevor sie ihre Angebote abgaben. Verständlich, denn die Preise, die für einige der Bücher genannt wurden, waren exorbitant. Dadurch geriet die Veranstaltung etwas in Verzug und Gabriels Schätze wurden, wie auch die Mitbringsel vieler der anderen Gäste, auf den nächsten Tag verschoben. Mittlerweile hatten wir uns an die seltsamen Blicke der anderen Teilnehmer gewöhnt. Am späten Nachmittag entschuldigte ich mich und kehrte auf mein Zimmer zurück – für die Bücher hatte ich wohl nicht den richtigen Verstand. Außerdem war dies die erste Gelegenheit, einmal ein wenig Zeit alleine zu verbringen.

Ich nutzte sie, indem ich einen Spaziergang um das Schloß machte – bei Tageslicht! Die Mauern des Kastells waren aus schweren Steinblöcken und es gab viele Türme mit Schießscharten, Anbauten und Erweiterungen, aber keinen Innenhof. In einen warmen Mantel gehüllt, folgte ich einem sorgfältig gepflegten Weg, der in weitem Bogen um das Anwesen führte und auch die Ställe berührte. Die Stille war fast spürbar, obwohl hin und wieder ein Vogel schrie und in den Ställen hörte man das typische Geräusch von Pferden. Da waren neben den beiden Andalusiern noch weitere Rappen der gleichen Rasse untergebracht, einige Araber aber auch Trakehner und einige Welsch Ponies. Auch hier wieder eine wertvolle Sammlung.

Nach fast zwei Stunden kehrte ich in mein Zimmer zurück, ohne irgend jemandem begegnet zu sein. Die Pause hatte mir gut getan. Erholt und frei von jeglichen störenden Überlegungen – die eigentlich notwendig gewesen wären – legte ich mich aufs Bett und döste ein. Ich wurde erst wach, als Gabriel und Kolya an meine Balkontür klopften und zum Abendessen in Johns Zimmer riefen. Leicht verschlafen folgte ich den beiden. Der Abendbrottisch war schon fertig und wir aßen in komfortablem Schweigen. Danach kehrten wir mit unseren Gläsern wieder in unsere Runde vor den Kamin zurück.

Heute hatte Gabriel relativ wenig ersteigert. Er besaß selber eine umfangreiche Bibliothek und er hatte nur ein paar Exemplare erstanden, dafür aber wohl ganz besonders alte, interessante und wertvolle Stücke. Er erzählte uns die Geschichten, die mit diesen Büchern verknüpft waren.

Eine Zeit lang breitete sich dann Schweigen aus. „Und du, LaVerne? Was hast du gemacht? Einige der Gäste haben deine Abwesenheit bemerkt und mich nach dir gefragt. Hat es dir nicht gefallen? - „Doch Gabriel, aber ich kenne mich mit alten Schriften nicht genug aus, um sie zu verstehen. Und ich wollte etwas für mich alleine sein. Also habe ich einen Spaziergang um das Schloß gemacht.“ „Das dachte ich mir schon fast, immer nur in einer Gruft eingesperrt sein, ist ja auch nichts.“ „Das war es nicht, ich wollte einfach nur mal die Umgebung hier bei Tageslicht sehen. Es ist wunderbar. Ein Frieden geht von diesem Ort aus. Die Stille umhüllt einen wie einen Mantel.“ Gabriel verstand, was ich meinte. „Früher war dieser Ort eine Zufluchtsstätte. Der Zauber liegt noch immer auf ihm, nicht wahr? Irgendwann werde ich euch die Geschichte von Lord Rodenby und diesem Schloß erzählen.“ Wieder hob Kolya den Kopf und sah Gabriel an, sagte aber auch dieses mal nichts. Nach einer Weile löste sich unsere Versammlung auf und jeder kehrte in sein Zimmer für die restliche Nacht zurück.

Als ich dann in meinem Bett lag, verschwand sämtliche, vorher latent vorhandene Müdigkeit. Ich bekam kein Auge zu. Jetzt endlich, statt in der Ruhe des Nachmittags, fing mein Gehirn an, wie verrückt zu rotieren und weigerte sich, Ruhe zu geben. Die ganzen seltsamen Geschehnisse und versteckten Andeutungen und unsicheren Gefühle kamen an die Oberfläche und ließen mich hin- und herwälzen. Solche Kontemplation war eigentlich gegen meine Natur. Aber nach mehr als einer Stunde gab ich auf, da konnte ich meine Zeit auch sinnvoller verbringen.

Ich wickelte mir eine Decke um und ging auf den Balkon hinaus. Vielleicht würden die Stille und Ruhe draußen meinem Kopf den richtigen Weg zeigen.

Aus Kolyas Zimmer fiel Licht, also klopfte ich leise an die Terrassentür um die anderen nicht zu wecken. Sie wurde fast sofort geöffnet. Nur daß nicht Kolya in der Tür stand, sondern Gabriel. So hatte ich mir das nicht gedacht, ich wollte doch Kolya etwas ‚aushorchen’. „Ich möchte nicht stören. Ich konnte nicht schlafen und hab Licht gesehen…“ „Komm rein, Schwarze Rose.“ Kolya war nicht da, aber es standen zwei Gläser auf dem Tisch und die Verbindungstür war weit geöffnet. Das Licht stammte von mehreren Kerzen auf dem Tisch und dem ersterbenden Kaminfeuer.

„Setz dich.“ Er holte ein weiteres Glas und schenkte uns beiden den obligatorischen schottischen Whiskey ein. Wir tranken einige Schlucke schweigend, jeder seinen Gedanken nachhängende. Dann schaute er mir in die Augen. „Ich kann die Fragen in deinen Augen sehen“ sagte er leise mit einer seltsam Stimme, die eine Gänsehaut bei mir auslöste. „Du weißt, daß mehr hinter all dem hier steckt als du siehst. Und du willst wissen, was und warum und wie du in das Bild paßt, und ich und John und Kolya.“

Er wirkte ernst und tief versunken und wartete auf meine Reaktion. „Ja, vieles von dem, was ich sehe und höre und weiß, paßt nicht zusammen. Und auch John hat das bemerkt und er weiß eigentlich noch weniger als ich über euch.“ „Einerseits weiß er tatsächlich weniger, andererseits aber doch so viel mehr als du. Er kennt sich – auch wenn er es vielleicht nicht weiß – viel mehr mit den Umständen aus, mit denen ich zu tun habe, in denen wir leben, und die du auch schon einmal erlebt hast. Aber ich kann dir das nicht einfach erklären.“ Er zögerte wieder, seine Augen auf einen Punkt in weiter Ferne gerichtet. „Aber ich bin gerne in deiner und auch Johns Gesellschaft und so soll es auch bleiben. Ich denke, dieses Gefühl beruht auf Gegenseitigkeit.“ „Allerdings, Gabriel!“ „Doch um unsere Freundschaft zu erhalten, nein, zu vertiefen, muß ich euch wohl einiges erklären. Und damit stecke ich in einer Art Dilemma. Also werde ich jetzt erst dich und später auch John um etwas bitten.“

Er schien grade über dieses Problem nachgedacht zu haben, als ich klopfte. Wieder schwieg er und sah mich an. Ich versank tief in diesen dunklen Augen, meine Hände wurden feucht und mein Rücken kalt. Aber diese vielen Ungereimtheiten waren einfach falsch. Ich wollte die Wahrheit wissen, und wenn es nur für die Freundschaft mit diesen beiden Männern war. Was war der Preis dafür?

„Worum?“ Ich hatte ebenfalls leise gesprochen und seine Antwort war, obwohl ohne lauter zu werden, voller Nachdruck und Leidenschaft. „Du mußt mit deinem Blut schwören, daß du keinem Außenstehenden erzählst, was ich dir sagen werde.“ Nun… „woher weiß ich, wer ein Außenstehender ist?“ „Wenn ich dir alles erzählt habe, wirst du es wissen; genauer gesagt, du wirst Eingeweihte sofort erkennen können, genau wie jeder Eingeweihte dich auch sofort als einen von ihnen erkennen kann.“

Bisher klang der Preis nicht gerade sehr hoch, und auch nicht sonderlich bedrohlich, abgesehen von meiner leichten Abneigung gegen Blut – speziell welches, das von mir stammte. „Gibt es eine Vorschrift, wie ich diesen Schwur leisten soll?“ fragte ich Gabriel mit fester Stimme. Er schaute mich schweigend einen Moment an, dann griff er nach etwas das auf dem Tisch unter einem weißen Tuch lag – der goldene Dolch aus der Versteigerung. Was hatte er gesagt, eine zeremonielle Waffe? „Mit dieser Klinge werde ich einen Schnitt in deine Hand machen. Du wirst bei dem Blut, das du dabei vergießt schwören, daß du das Geheimnis für dich behältst und nur mit Eingeweihten darüber sprechen wirst. Solltest Du dieses Versprechen nicht einhalten, droht eine mächtige Strafe – und das ist nicht nur daher gesagt, ich meine es so!“

Doch er ging nicht näher darauf ein, und ich wollte das auch gar nicht so genau wissen. Schlimm genug, daß er mich schneiden wollte. Aber was half es, wenn ich dafür endlich die Wahrheit hören würde… Ich nickte und reichte ihm wortlos meine rechte Hand.

Er legte sie auf seine linke Hand, in der rechten hielt er die Waffe. Dann setze er die Klinge auf den Handballen und zog sie über den Daumen zu sich heran, dabei drückte er ganz leicht. Er sagte leise „et arma et verba necarant.“

Ich sah das Blut fließen, wo es aus dem hauchdünnen Schnitt, der sich über die ganze Handfläche zog, austrat. Obwohl der Schnitt gut zehn Zentimeter lang war, fühlte ich doch keinerlei Schmerz, nicht einmal ein leichtes Ziehen. Vorsichtig legte er die Klinge wieder auf das weiße Tuch zurück. Er hob die blutende Hand an seinen Mund. Seine Augen suchten meine und fanden sie. Ich hatte das Gefühl, als wäre ich gelähmt, meine Hand war eiskalt und seine Hand darunter brannte sich durch meine hindurch, den Arm hoch, über das Herz bis in jeden Winkel meines Körpers.

Dann strich seine Zunge sanft die Linie nach, die das Messer quer über die Hand gezogen hatte. Das Blut sammelte sich auf seiner Zungenspitze und als er das Ende des Daumens erreicht hatte, war auf meiner Hand kein Blut mehr – und auch kein Schnitt. Nur eine feine, weiße Linie, eine zarte Narbe. Dann zog er meinen Kopf zu sich und küßte mich, fest, voller Verlangen und mit geöffnetem Mund. Ich spürte seine Zunge an meinen Zähnen. Ich schmeckte den Whiskey, ihn und einen leichten Geschmack nach Eisen – mein eigenes Blut in seinem und meinem Mund. Dann zog er sich zurück. Er griff nach den Gläsern, reichte mir eines davon und wir tranken jeder einen Schluck.

 „Jetzt, meine schwarze Rose, bist du durch einen Blutschwur an dein Wort gebunden. Und jetzt werde ich dir erklären, wer ich bin, wo du dich befindest und in welche Gesellschaft wir euch gebracht haben. Komm, so etwas kann man besser vor dem Kamin besprechen.“ Er griff nach der Decke aus Kolyas Bett, legte sie vor den Kamin, warf ein paar Scheite in das Feuer und zog mich dann zu sich herab. Wir lagen uns gegenüber, die Gläser zwischen uns, ich in meine Decke gehüllt.

Eine Weile schaute er in das neu entstandene Prasseln der Flammen. „Es ist schwer, die Geschichte zu beginnen. Wir führen durchaus öfter Außenstehende in den Kreis ein, aber oft dauert es Jahre, bis das notwendige Vertrauen aufgebaut ist. Doch du bist eine Ausnahme, ebenso irgendwie John. Doch dazu später. Ich erzähle dir von dem Abend, als wir uns das erste Mal trafen. Mein Zusammentreffen mit Cudro.

Du erinnerst dich ja an den Namen. Es war weder ein Zufall, daß wir dort aufeinander stießen, noch eine Verabredung. Tatsächlich gehören wir beide einer verdeckten Organisation, der Oscuro an. Leider hatte sich Cudro zur Aufgabe gemacht, sämtliche unserer Regeln zu brechen.

In jener Nacht war er unterwegs, um zu töten und dabei darauf zu hoffen, daß ich ihn stellen würde. Er wartete schon lange auf eine solche Konfrontation. Ich halte eine recht hohe Stellung innerhalb der Organisation und mein Tod hätte sein Prestige und seine Anhängerschaft gestärkt. Bei seinen nächtlichen ‚Aktivitäten’ hatte er scheinbar immer seine versteckte Waffe dabei, nur für mich. Wenn deine Freundin in jener Nacht alleine gewesen wäre, wäre vermutlich nicht nur sie gestorben, sondern auch ich. Cudro hatte nicht mit einer weiteren Person gerechnet und ich nicht mit der Schußwaffe, ein Affront gegen unseren Ehrenkodex. Durch dein Eingreifen verfehlte mich die Kugel, die mich getötet hätte. Und ich hatte dann keine andere Wahl mehr, als seine ständigen Herausforderungen gegenüber unseren Regeln zu beenden. Deshalb stimmt es durchaus, wenn ich sage, daß du mir das Leben gerettet hast. Oder zumindest meinen Tod verhindert.“

Das war eine interessante Formulierung. Und sicher erst der Anfang der Geschichte. Also griff ich mir das erstbeste Teilstück das in seinem Bericht unstimmig war: „Der Mediziner hat gesagt, daß das Kaliber der Kugel klein war und daß das Material – Silber – recht weich gewesen sei. Ein tödlicher Schuß wäre damit recht unwahrscheinlich.“

Er nickte. „Stimmt und stimmt nicht. Für dich ist Silber harmlos. Aber ich würde von diesem speziellen Metall vergiftet werden. Ich wäre fast vollständig von dieser einen Kugel gelähmt worden, die dich getroffen hat. Nur ein Treffer hätte Cudro also genügt.“

„Wie gesagt, ich gehöre einem Bund an, der durch Blut miteinander verbunden ist. In der Welt, die du heute Nacht hinter dir gelassen hast, wurden wir als Vampire oder Blutsauger bezeichnet. Das ist Unfug. Tatsächlich sind wir die Oscuro – das Wort bedeutet in etwa Dunkelheit. Und bevor du fragst, fast alle der grausigen Geschichten sind entweder frei erfunden oder maßlos übertrieben, wie viele alte Überlieferungen und nein, ich laufe nachts nicht rum und sauge arme Frauen aus!“

Ich war gar nicht auf einen Zwischenkommentar aus gewesen. Ich war nur überrascht. Gut, ja, einige Dinge waren schon merkwürdig aber zum Einen gab es keine Vampire und zum Anderen äh, das war mir dann grad entfallen, weil ich sicher war, daß Gabriel irgend eine Art von Scherz machte. Oder nicht? Er war eigentlich nicht der Typ dafür. Er sprach ruhig weiter, während er hin und wieder an seinem Whiskey nippte.

„Der Mythos Vampir basiert – wie viele andere Mythen auch – auf einem wahren Kern und viel Fantasie und Aberglaube und Angst vor Fremdem. Es gab in alten Zeiten immer wieder Menschen, die Tageslicht nicht ertragen konnten, auf Silber allergisch reagierten, erheblich länger lebten als normale Leute oder bestimmte Ergänzungen zu ihrer normalen Nahrung benötigten. All das sind wir. Und noch mehr. Es gibt durchaus wissenschaftlich erklärbare Elemente, aber auch magische Komponenten in unserem Leben. Ich kann in der Tat keine Kirche betreten, ich mag Wasser in großen Mengen ganz und gar nicht aber das ist vielleicht auch eher eine Einstellung. Von Knoblauch wird mir übel“ hier grinste er, „übrigens aber auch von Ingwer. Unsere Sinne sind geschärft. Wir beherrschen Hypnose und magische Gegenstände entfalten in unseren Händen oft ihren Zauber. In einigen unserer Speisen ist Blut, das wir in speziellen Laboratorien künstlich herstellen. Also keine nächtlichen Blutsaugeaktionen – abgesehen von solchen Ausfällen wie bei Cudro.“ Dabei lächelte er leicht gequält. Ich war fasziniert von seiner Geschichte, sollte tatsächlich all das wahr sein?

 „Du hast selber an deiner Hand gesehen, daß wir kleine Wunden heilen können. Ein Schuß ins Herz würde mich verletzten, aber nicht töten. Es werden sehr wenige Menschen als ‚echte’ Oscuro geboren, dafür leben wir lange, obwohl wir nicht völlig unsterblich sind. Es gibt die Möglichkeit, einen ‚normalen’ Sterblichen in unseren Kreis aufzunehmen. Du bist in den äußeren Kreis eingetreten, die ‚Nadiesda Thurus’, das sind diejenigen, die Eingeweiht sind, selber aber nicht unser Blut teilen. Das Wort ist aus zwei verschiedenen Sprachen und bedeutet grob übersetzt Hoffnung und Suche.

Erst ein Eingeweihter kann entscheiden, ob er in die Oscuro aufgenommen werden will. Niemand würde jemals dazu gezwungen werden, das wäre schon kompliziert wegen des tatsächlichen Vorganges der Umwandlung. Ein Biß alleine reicht da bei weitem nicht aus. Normalerweise wird die Aufnahme durch mehrere von uns entschieden, nachdem wir den Kandidaten geführt, befragt und für würdig befunden haben. Aber es gibt immer Ausnahmen. Gewollte oder ungewollte. Cudro war diesen Regeln nicht mehr gefolgt. Er wurde eine Gefahr für die normalen Menschen und auch für uns, weil er unsere Existenz aufdecken konnte – und was die Menschen nicht kennen, fürchten sie und was sie fürchten, das töten sie. Und als er deine Freundin tötete und ihr Blut nahm, hatte er die Grenze zwischen Unsterblichkeit und Tot überquert. Wir alle leben mit vielen Vorteilen wie einem langen Leben, Gesundheit und Macht aber auch mit Nachteilen, ewige Dunkelheit, den Zwang zum Stillschweigen und Verantwortung gegenüber Schwächeren und Unwissenden. Oder der Unmöglichkeit, einen normalen ‚Tageslicht-Beruf' zu ergreifen. Ob Ehre und Tradition dabei Vorteile oder Nachteile sind, bleibt dahingestellt. Ich würde schon sagen, daß es sich um Vorteile handelt.

Jetzt kennst du die Grundzüge unseres Bundes, bist ein Teil davon geworden. Und hast damit auch deinen Teil der Verantwortung, aber auch die Unterstützung unserer Gemeinschaft. Fast jeder der Männer dort unten in dem Verlies ist ein Mitglied der Oscuro. Die Dienerschaft gehört zur Nadiesda Thurus, also zu den Eingeweihten.“

Er schwieg. Nach einer kleinen Weile stand er auf, holte die Flasche und schenkte uns beiden nach. Ich ließ seine Geschichte in meinem Kopf wirken. Furcht hatte ich vorher schon nicht vor ihm oder den anderen Gästen gehabt, und das hatte sich nicht geändert, im Gegenteil, ich fühlte mich fast sicherer, jetzt, da ich ihren Zusammenhalt verstand. Er hatte sicher nur einen kleinen Teil erzählt und es gab noch tausend Fragen, die gestellt werden wollten. Warum fielen sie mir nur nicht ein, statt dessen nur dieses Kribbeln in meinem Magen. Und die Gänsehaut, die sich über meinen Armen ausbreitete. Als er sich wieder auf der Decke ausstreckte, kam er mir sehr nah. Ich konnte seinen Duft spüren, wie er mich einhüllte wie eine berauschende Droge.

„Wie alt bist du, Gabriel?“ fragte ich ihn leise.

 „Fast fünfhundert Jahre. Und Kolya über vierhundert, also noch jung. Wir kennen uns, seid er sich entschloß, ein Mitglied der Oscuro zu werden. Wir haben zusammen viel erlebt. Es gibt keinen besseren Freund als ihn.“

Wir schwiegen wieder das Feuer an. Nach einiger Zeit erhob Gabriel sich erneut und holte den Dolch. „Das Einfordern des Blutschwurs kann nur mit einem speziellen Ritual durchgeführt werden. Ich hatte meine Zeremonienwaffe nicht mitgenommen, weil ich euch noch nicht in die Nadiesda Thurus einführen wollte. Kolya war in dieser Sache von Anfang an nicht meiner Meinung und als wir den Dolch sahen, war es wie ein Wink des Schicksals. Und darauf muß man hören.

Die Waffe kann das Versprechen des Schweigens aufnehmen, sie speichert – symbolisch – das vergossene Blut jedes Mitgliedes, das mit ihm initiiert wurde. Wir Mitglieder der Oscuro haben die Fähigkeit, diese, wie auch andere Wunde heilen zu lassen. Doch der Dolch kann noch mehr. Er hat dich gezeichnet, mit einem Gift, das sich in seiner Klinge befindet und das gleichzeitig dazu geführt hast, daß du keinen Schmerz gespürt hast.“

Gift? Mir wurde warm – noch wärmer. Hoffentlich nur vom Whiskey, Gabriels spürbare Nähe und der Waffe, die auf mich gerichtet war. Gabriel zog einen Mundwinkel nach oben. „Nein, ich sagte doch, wir würden niemals einem Unschuldigen Schaden zufügen.“ Als er lächelte, wurde es deutlich noch Wärmer. „Morgen wirst du jeden, der in die Gemeinschaft aufgenommen ist, erkennen. Frage nicht wie. Und jeder wird sehen, daß du unser Geheimnis kennst und den Schwur geleistet hast. Und du wirst sehen, wer der Oscuro angehört und wer der Nadiesda Thurus. Die Männer der Oscuro werden zu dir sprechen wie mit ihresgleichen. Du bist jetzt eine von uns. Es gibt viele gute Bestandteile der Gemeinschaft: Liebe, Respekt, tiefe Freundschaft. Als ein Teil von uns, kannst du jeden – auch wenn du ihn vorher nicht kanntest – ansprechen, fragen oder um etwas bitten. Allerdings wird jeder der Gruppe dir auf gleiche Weise gegenüber treten: als ob ihr euch schon lange kennen würdet. Du wirst sehen, was ich meine.

Oft arbeiten die Mitglieder der Nadiesda Thurus für uns – aber sie sind keine Sklaven oder Untergebene. Da wir einige Handicaps haben, kämen wir ohne sie gar nicht zurecht. Schwierig würde es nur werden, wenn jemand den Schwur geleistet hat und wieder ‚austreten’ möchte. Aber das ist eine andere Geschichte.

Ach, und noch etwas, Kolya wird sich freuen. Er hat mich schon seit einiger Zeit gedrängt, dir und John alles zu erzählen, er hat gleich von Anfang an mehr in euch gesehen – wie ich übrigens auch. Aber er hat mir die endgültige Entscheidung über-lassen, obwohl er die gleichen Rechte besitzt. Wenn du magst, kannst du ihn jederzeit fragen, er ist ein wunderbarer Lehrmeister und mehr, als ein Freund je sein könnte.“

„Und jetzt, meine schwarze Rose, mußt du ins Bett. Es ist schon spät, du weißt ja, ich mag das Licht nicht so gerne. Und ich habe noch etwas Wichtiges zu erledigen. Versuche zu schlafen. Grüble nicht so viel. Und wenn du bereit bist, komme runter in das Verlies. Die Versteigerung läuft ja noch weiter. Alle anderen Antworten werden sich von selber finden.“

Damit stand er auf, zog mich hoch – beinah hätte ich meine Decke verloren – und ganz dicht an sich heran. Er legte seine Arme um mich und hielt mich einen Moment umhüllt wie von schwarzen Engelsflügeln. Eine zeitlose Ewigkeit später öffnete er die Verbindungstür zu meinem Raum, schob mich hindurch, streifte mein Ohr mit seinen Lippen und schloß die Tür hinter sich, als er zurück in Kolyas Raum kehrte. Ich stand in der Dunkelheit meines Zimmers. Benommen kroch ich ins Bett. Doch während ich noch versuchte, die Weite seiner Erklärungen zu begreifen, versank ich in Schlaf.

Daß er über den Balkon zu Johns Zimmer ging, bekam ich nicht mehr mit.

Veränderungen

Dark eyes full of desire are watching me trough a curtain of mist.
This is the frontier between your world and mine
The imagination of being covered with your dark angel wings makes me shiver
No human has ever felt the love of a fallen angel
It's a love to die for.... (LUNA)


Ich schlief tief und traumlos bis fast in den Mittag. Ein Blick auf die feine Narbe in meiner Hand informierte mich, daß ich nicht geträumt hatte. Wie sollte ich jetzt John gegenüber treten, wenn ich nichts sagen durfte. Sicherlich würde er etwas ahnen, er kannte mich ja jetzt schon lange genug. Gabriel hatte gesagt, daß er auch John einweihen werde, allerdings nicht, wann. Ich brauchte jetzt eigentlich jemanden, mit dem ich über die Neuigkeiten reden konnte. Das war alles so phantastisch.

Ich zog mich grade an, als es an der Verbindungstür zu Johns Bad klopfte. Schnell zog ich das schwarze Shirt über. „Komm rein, ich bin fertig.“ John öffnete die Tür und da wußte ich, was Gabriel gemeint hatte, als er sagte, ich würde Eingeweihte sofort erkennen. Ein schwaches, helles Leuchten ging von John aus. Sein ganzer Körper war von diesem Licht umgeben. Ähnlich, wie manche Leute eine Aura beschreiben. Ich starrte ihn wortlos an, unfähig, meine Verblüffung zu verbergen. Doch sein Blick ruhte in gleicher, sprachloser Verwunderung auf mir. In meiner rechten Hand kribbelte es und ich schaute zu ihr runter. Die unscheinbare Narbe in der Handfläche wurde einen Moment lang etwas deutlicher und dann wieder so gut wie unsichtbar. John sagte mit einem rauhen Ton in der Stimme: „bin ich auch von so einem Licht umgeben wie du?“ „Ja!“ „Unglaublich, dann ist alles wahr, was Gabriel gesagt hat.“

„Es war so außerordentlich, ich hätte es beinah nicht geglaubt. Und er hatte nicht erzählt, wie sichtbar die Veränderung ist.“ Auch meine Stimme klang belegt. „Zumindest ist die Sache mit dem Erkennen dann wohl kein Problem.“ John folgte mir in mein Zimmer, während ich die Stiefel anzog. Er schaute mir schweigend zu und sagte dann: „scheinbar ist das nur ein zeitweiliges Phänomen, dieser Strahlenkranz. Das Leuchten ist schwächer geworden, man sieht es nur noch ganz leicht.“

Ich schaute prüfend zu ihm rüber. Tatsächlich war die Corona noch da aber nur, wenn man darauf achtete. Während ich mich konzentrierte, wurde das Leuchten wieder etwas deutlicher. „Und taucht wieder auf, wenn man danach sucht. Will man sie sehen, wird sie wieder deutlicher.“

Wir verließen die Zimmer durch meine Tür und machten uns in Richtung Speisesaal auf. Diesmal ersparten wir uns gleich den Versuch, bei Kolya oder Gabriel zu klopfen.

Das Essen stand – wie immer – für uns bereit und als der Butler frischen Kaffee brachte, sahen wir deutlich, daß auch er von einer weißen Aura umgeben war. Obwohl alles gleich war wie gestern, hatte sich die Welt weiter gedreht…

Heute lächelte Leon uns das erste Mal an. „Schönen guten Tag, die Herrschaften. Die Versteigerung ist schon in vollem Gange.“ Mit einem wissenden Lächeln auf den Lippen ließ er uns mit unseren Gedanken alleine. „Schrecklich, daß jeder die Veränderung sofort sehen kann, ist mir irgendwie fast peinlich.“ Ich fühlte mich nackt und verwundbar, trotz Gabriels Worten.

Eine Weile hing jeder von uns seinen Gedanken nach obwohl ich am liebsten tausend Sachen gesagt und gefragt hätte. Aber ich bekam meine Gedanken einfach nicht genug geordnet. Irgendwann konnte ich das Schweigen nicht mehr hören. „John? Was denkst du gerade?“ Er lehnte sich mit der Tasse in der Hand zurück und schaute mich an. Er wirkte ruhig und gelassen. „Ich glaube, ich bin glücklich.“ Das war nicht unbedingt die erwartete Antwort. Mit einer verträumten Stimme, die mir fremd klang, fuhr er dann fort: „Letzte Nacht habe ich so viele Dinge erfahren – wie du vermutlich auch. Seit Jahren schon jage ich Phantomen hinterher und wußte nicht, daß sie überall um mich herum sind. Ich habe Antworten gefunden auf Fragen, die mich ein Leben lang begleitet haben. Viele meiner ungelösten Fälle werden auf einmal klarer. Ich glaube, ich war auf einer Suche. Ich wußte es nur nicht wirklich, doch plötzlich habe ich das Ziel gefunden – oder das Ziel mich. Verstehst du?“

Er sah mich fast flehentlich an. „Ich habe in meiner Polizeikarriere so viele Dinge gesehen, die keinen logischen Schluß zuließen. Ich hatte eine Art von Vermutung aber nicht mal annähernd so ungewöhnlich, wie die Geschichte, die Gabriel erzählt hat. Jetzt auf einmal ist alles ganz deutlich, glasklar. Ein Teil von mir – vielleicht mein Herz oder die Seele – hatten gehofft, daß da mehr ist. Und es stimmt. Jetzt kann ich aufhören zu suchen, die Leere in mir mit Wissen füllen. Ja. Für mich ist letzte Nacht ein neues Leben angebrochen.“ Er klang so begeistert, glücklich. Aber ganz so einfach war die Sache nicht, wie er sie darstellte. „Und was ist in einer Woche? In einem Monat? Wenn du in deinen Job zurück gekehrt bist und wieder Dinge siehst, die du noch immer niemandem erklären kannst – oder darfst? Ist das denn nicht noch viel schlimmer? Schweigen zu müssen?“

Mit einer Handbewegung wischte er den Einwand fort. „Das ist unwichtig. Es ist genug, wenn ich die Wahrheit kenne. Ich muß mein Denken und Handeln nur vor meinem Verstand erklären können, damit der Geist Frieden findet. Am Ende kommt es doch nur darauf an, daß jeder genau das findet, was er haben will.“ Er schwieg einen kleinen Moment. „Und was ist mit dir LaVerne? Hast du, was du willst? Wonach suchst du?“

Ich schwieg. Denken und Handeln bringen dem Geist Frieden? Eine andere Formulierung für eine Überlegung, die ich auch schon angestellt hatte, wenn auch unter anderer Prämisse. Doch er hatte mir eine schwere Frage gestellt, und die war komplizierter als er ahnte. Aber es war die Zeit für Ehrlichkeit, wenn auch nicht für Details: „Nein, du weißt, daß ich nehme, was ich kriegen kann, aber mit deinen Worten: ich bin noch auf der Suche. Vielleicht auf dem richtigen Weg aber nicht am Ziel, ich weiß nicht einmal, ob ich es je finden werde.“ Er wartete und als ich nicht weiter sprach fragte er: „und wonach suchst du?“

„Das kann ich dir nicht sagen. Vielleicht weiß auch ich es erst, wenn ich es gefunden habe, vielleicht ist es auch etwas, das ich nicht erklären kann, weil es tief in mir steckt. Belassen wir es dabei!“ Ich wollte ihm nicht erklären, wonach ich suchte, denn es war zu simpel, zu elementar, als daß er es verstanden hätte. Ich verstand es ja selber kaum.

Er starrte mich an, als ob er versuchte, in mein Innerstes zu schauen. „Na gut. Und wie stehst du zu dem Inhalt von Gabriels Geschichte?“ Ich wußte nicht, ob Gabriel John von der Sache mit Cudro erzählt hatte, also antwortete ich vorsichtig: „Ich hatte ja, genau wie du, bemerkt, daß es einige ‚Seltsamkeiten’ gab. Allerdings hatte ich bis gestern keine vernünftige, nicht mal eine unvernünftige Erklärung dafür. Jetzt paßt auf einmal alles. Ich bin froh, daß ich die Zwei jetzt besser verstehe. Ich mag sie, ich würde sie sogar als meine Freunde bezeichnen. Und mir liegt viel an ihrer Gegenwart und Zuneigung. Aber ich habe noch jede Menge Fragen. Genau wie du will ich noch lernen.“ Doch irgendwie hatte Gabriel mit seiner Vermutung recht gehabt, auf seine Art verstand John die ganze Sache besser, wußte mehr.

Es gab sicher außer Lernen noch mehr, was ich wollte, doch ich hatte keine Absicht, John alle meine Gedankengänge anzuvertrauen und speziell diesen nicht. Ich liebte dieses Spiel mit dem Feuer und hier war Gabriel die hell lodernde Flamme. „Mein Weltbild hat sich gewandelt, ist aber nicht in den Grundfesten erschüttert. Denn mein Leben hat sich mit diesem Wissen nicht grundlegend geändert.“

John zögerte. „Warte ab, wie sich die Dinge entwickeln. Vielleicht wird doch einiges anders als vorher werden. Aber du hast Recht, es gibt noch so viel zu erfahren. Laß uns also damit anfangen, indem wir zu der Versteigerung runter gehen, ja?“

Wir standen auf und fanden ohne fremde Hilfe den Weg in die Verliese. „John!“ Er schaute mich fragend an „ich bin froh, daß du hier bist und ich nicht ganz alleine da runter gehen muß.“ Er grinste und als ich mich bei ihm einhakte meinte er: “Oh, ich bin auch froh, daß ich hier bin, glaub es mir.”

Im Verlies erwartete uns dann noch eine kleine ergänzende Überraschung zu den bisher schon entdeckten Veränderungen. Während wir, die Nadiesda Thurus – die Worte waren noch fremd – eine weiße Aura hatten, waren die ‚echten’ Mitglieder der Oscuro von einem schwarzen Schatten verfolgt, der sich um sie kuschelte. Einen Moment war fast jeder im Raum in eine solche Dunkelheit gehüllt, dann wurde das Bild undeutlicher und die einzelnen Teilnehmer der Runde erschienen wieder relativ normal. Drei der Gäste hatten kurz einen weißen Schatten, die anderen waren von der Dunkelheit umgeben. Unter ihnen waren auch unser Gastgeber, Gabriel und Kolya.

Die beiden letzteren kamen auf uns zu, als wir den Raum betraten. Gabriel lächelte und nahm mich dann in die Arme. Leise flüsterte er mir ins Ohr: „du siehst bezaubernd heute aus, schwarze Rose. Noch schöner als vorher.“ Dann umarmte er John auf die gleiche Weise. Kolya folgte als nächster und bückte sich zu mir runter. Vorsichtig, um mich nicht zu zerdrücken, legte er die Arme um mich. „Endlich, jetzt gehörst du zu uns. Nun können wir wie unter Gleichen reden und ich werde dich wie einen Teil von mir selber beschützen. Ich freue mich, daß Gabriel sein Wort gehalten hat. Willkommen Kleine.“ Das war das erste mal, daß er nicht die förmliche Anrede verwendete und ich fühlte mich sicher und geborgen in seinen Armen, ein starker Freund.

Er schob mich ein Stück ab und schaute mich an: „Ich hatte doch gesagt, daß du verstehen würdest. Komm, setzt dich zu mir, grade werden Gabriels Bücher versteigert und die anderen Gäste haben schon ein kleines Vermögen an uns übertragen. Laß die anderen beiden ein bißchen fachsimpeln.“ Ich schaute auf John und Gabriel, die leise flüsternd in der letzten Reihe standen. Kolya zog mich zu seinem Stuhl und deutete auf den von Gabriel eben geräumten Platz daneben. Ich hatte Kolya bisher nicht so gut gelaunt erlebt, obwohl er auch nie schlechte Laune zu haben schien. Also setzte ich mich zu ihm und er fragte leise: „und, nachdem das Geheimnis gelüftet ist, magst du uns noch oder fürchtest du dich jetzt vor uns und den anderen?“

„Oh, keine Sorge Kolya, wie könnte ich euch beide nicht mögen? Und ich stehe garantiert auch nicht kurz davor in Panik oder Furcht wegzulaufen.“ „Das würde sowieso nichts bringen“, meinte er trocken. „Du bist jetzt eine von uns, ob du willst oder nicht. Die Männer hier wissen es und jedes andere Mitglied der Nadiesda Thurus oder Oscuro werden es ebenfalls sofort sehen. Es gibt keinen Weg zurück.“

„Zurück Kolya? Wohin zurück. Hat sich denn so viel verändert, daß ich zu irgend etwas zurück kehren müßte?“ Er schaute mich an, überlegend, dann kehrte sein Blick wieder zu der laufenden Versteigerung zurück. „Wie man es nimmt. Frage mal John dazu. Der hätte wohl eine eindeutige Antwort, wenn ich ihn mir so ansehe. Und manchmal ist Unwissenheit ein Glück. Aber ja, es wird Veränderungen geben. Wissen hat schon immer Macht bedeutet und hier im Raum ist viel davon. Aber die Veränderungen sind tiefer und teilweise auch subtiler. Mit der Zeit wirst du sehen, lernen und verstehen. Zumindest hast du seit letzter Nacht eine neue Familie.“ Damit ließ er es bewenden und richtete seine Aufmerksamkeit auf die Verkäufe. Wir würden sehen.

An diesem Abend gab es ein weiteres Festessen im großen Saal. Es wurden keine Reden gehalten, aber die allgemeine Stimmung war ausgezeichnet. Plötzlich kamen mir nicht alle fremd und geheimnisvoll vor, vielleicht lag es daran, daß die Blicke der anderen Gäste nicht mehr fragend sondern freundlich waren. Mein Sitznachbar zur Linken – wieder Don Vedu vom ersten Abend – schwärmte die ganze Zeit von den Büchern, die er ersteigert hatte. Alle waren gelöst und irgendwie waren wir auf einmal ein Teil dieser Gemeinschaft.

Nach dem Essen blieben wir alle noch eine Weile im Raum – locker um den Kamin verteilt. John und Gabriel standen noch bei unserem Gastgeber und schienen in lebhafter Unterhaltung vertieft. Auf der Suche nach Kolya schlängelte ich mich durch die anderen Gäste.

Da stand plötzlich der Mann vor mir, den ich vor zwei Tagen auf dem Flur zu unseren Räumen getroffen hatte. Wieder waren die schwarzen Haare zurückgekämmt nur dieses Mal trug er ein blaues Seidenhemd, das mehr Brust zeigte als eigentlich schicklich sein konnte. Die bemerkenswerten weißen Zähne blitzen als er mich anstrahlte: „LaVerne, kommen sie, trinken sie einen Schluck mit mir. Bald ist die Veranstaltung vorbei und ich habe gar keine Gelegenheit mehr, mit ihnen zu plaudern.“

Ich war etwas unschlüssig. Was wußte ich schon über Höflichkeitsformen oder Sitten, die in dieser Gesellschaft herrschten. Nicht, daß ich mich noch als dumme Außenseiterin zu erkennen gab. „Oh, entschuldigen sie. Ich bin Baron Bouvier St. Roche. Wie unhöflich von mir, mich nicht vorzustellen.“ Er hatte mein Zögern also anders gedeutet. Gut. Der Raum war voll mit Leuten, ich konnte jederzeit einen Rückzieher machen, er wirkte durchaus nett, ablehnen war vermutlich unhöflich. Warum also nicht? „Es freut mich, ihre Bekanntschaft zu machen.“ Ich lächelte zurück und reichte ihm die Hand. Er griff sie und zog mich damit zu einigen Sesseln, die vor dem Kamin plaziert worden waren. Etwas unsicher suchte mein Blick nach Kolya aber der war nirgends zu sehen, also ließ ich mich in einen der Sessel drücken. „Einen Augenblick, ich komme sofort zurück.“ Damit verschwand er in Richtung Getränketisch.

Endlich sah ich Kolyas blonden Schopf über die Menge ragen. Bevor ich ihn aber auf mich aufmerksam machen konnte, war mein ‚Entführer’ mit zwei Gläsern zurück. Er reichte mir eines – Portwein – und ließ sich in den anderen freien Sessel nieder. „Bitte sehr! Ist es recht, wenn ich LaVerne sage? Ich bin Bouvier. Sagen sie, wie gefällt ihnen die Veranstaltung bisher?“ „Es ist eine faszinierende Erfahrung. So viele Schätze lagern hier, so viele wertvolle und schöne Dinge, es ist wirklich einmalig.“ „Ja, nicht wahr“, nickte er. Dabei starrte er mich durchdringend an. Dann fuhr er fort „es gibt hier viele schöne Dinge, aber die wertvollsten kann man nicht kaufen.“ Das klang nach einem versteckten Kompliment aber ich beschloß, nicht näher auf eventuelle Zweideutigkeiten einzugehen. Abrupt schien er das Thema zu wechseln.

„Sicher sind sie überrascht von dem, was sie über uns erfahren haben. Viele der neu verbundenen sind geschockt oder ängstlich, obwohl sie ihren Blutschwur gegenüber einer Person geleistet haben, zu der sie schon lange Vertrauen entwickelt haben. Einige aber sind hungrig auf mehr, auf die Vollendung der Wandlung und wollen gleich in die Oscuro aufgenommen werden. Zu welcher Sorte gehören sie, LaVerne?“

Da war dann genau das Problem, das ich zu vermeiden gehofft hatte. Was war die Wandlung – ich vermutete da vielleicht was Falsches – und was, wenn ich zu keiner der von ihm genannten Typen zählte. Und er sprach, als ob die Vorbereitung für die Mitgliedschaft in der Nadiesda Thurus lange währte – nicht nur ein paar Monate. Die einzige Möglichkeit war, um den Punkt herum zu reden und wissend tun und hoffen, daß mich irgendwer aus dieser Lage befreite…

„Nun, ich bin zumindest nicht geschockt. Überrascht vielleicht. Allerdings muß ich gestehen, daß ich noch viele Fragen habe.“ „Aha!“ Er ließ die Antwort durchgehen, ich hatte also scheinbar das richtige Maß getroffen. Doch dann:

„LaVerne, ich wollte sie fragen, ob sie die nächsten Stunden bis zum Ende der Nacht mit mir verbringen möchten. Ich kann ihnen viele Dinge zeigen und die Liebe ist immer der schönste Lehrmeister.“ Er schaute mich erwartungsvoll und kein bißchen schüchtern oder verschämt an. Offen und direkt.

Und ich war mir in dem Moment ganz sicher, daß Gabriel einige Details bezüglich des Kontaktes der Eingeweihten untereinander ausgelassen hatte. Ich schwieg erst einmal und schaute etwas hilflos um mich. Oh, Kolya hatte mich entdeckt und kam langsam auf mich zu. Ich warf ihm einen flehentlichen Blick zu. Aber mein Gegenüber wollte mir diese Zeit nicht geben und längeres Schweigen war einfach unhöflich. Er griff nach meiner Hand und zog sie an seinen Mund, völlig ignorant bezüglich des Grundes meines Zögerns. „Ich werde vorsichtig mit ihnen sein, ich kenne die Schwächen der sterblichen Körper, sie brauchen sich nicht zu fürchten.“

 „Ich, äh, ich…“ Wie sollte ich ihm sagen, daß er nett, aber momentan nicht der war, den ich wollte, wenn überhaupt und daß ich mir über eventuelle Folgen – grad im Zusammenhang mit dem letzten Kommentar – nicht im Klaren war. Durfte ich überhaupt ablehnen, oder gab es da auch Gesetze? „Ich fühle mich sehr geschmeichelt Bouvier, aber …“ Kolya rettete mich!

Er war angekommen und hatte den letzen Satz gehört. Er ahnte wohl den Verlauf der Unterhaltung, denn er legte Bouvier die Hand freundschaftlich auf die Schulter und sagte: „Mein lieber Freund, du hast einen ausgezeichneten Geschmack. Doch ihre erste Nacht mit einem Oscuro gehört dem, der ihr den Blutschwur abgenommen hat“ – mein Herz machte einen wilden Purzelbaum – „und Gabriel fordert dieses Recht ein. Danach kann sie selber entscheiden, ob sie dein Bett teilen möchte.“

Er hatte in normalem Unterhaltungston gesprochen. Und hatte damit wesentlich besser geantwortet als ich es hätte können. Bouvier lächelte erst ihn an, dann mich. „Gabriel hat Glück, solch ein bezauberndes Wesen gefunden zu haben. Ich kann ihn verstehen. Schade, aber vielleicht ergibt sich ein anderes Mal die Gelegenheit. LaVerne, das Angebot bleibt bestehen. Wann immer sie möchten.“ Damit stand er auf. Kolya antwortete: „wir alle haben Glück, denn eigentlich hat sie Gabriel gefunden und nicht er sie.“ Bouvier strich sanft mit der Hand über meine Wange, klopfte Kolya auf die Schulter und verschwand dann zwischen den anderen Gästen. Ich atmete tief durch, die Spannung löste sich.

Kolya ließ sich in dem frei gewordenen Sessel nieder und sah mich an. Er wartete. „Was war das eben?“ Endlich grinste er breit und antwortete: „das erste einer vermutlich langen Reihe von Angeboten. Du wirst dich daran gewöhnen. Wir haben die Freiheit, jeden, für den wir uns interessieren, um Sex zu bitten. Aber auch die Freiheit, ohne Begründung anzunehmen oder abzulehnen. Ohne Verpflichtungen und ohne Verletzung von Stolz. Es gibt natürlich Einschränkungen. Niemals ohne die Einwilligung des oder der Partner. Bei sterblichen Menschen müssen wir vorsichtig sein.

Und verwechsle nicht Liebe mit körperlichem Verlangen. Ich kann jemanden lieben und trotzdem das Bett mit einem anderen teilen. Wir haben uns irgendwann von den bigotten Moralvorstellungen gelöst.“

Es wäre hilfreich gewesen, wenn ich das etwas eher gewußt hätte. Aber da waren also die Veränderungen, die John vermutet hatte. Und was die Sache mit Gabriel betraf, sofort machte mein Herz wieder diesen Purzelbaum. „Und wie war das mit der ersten Nacht…?“ Ich klang beileibe nicht so beiläufig, wie ich es gerne gehabt hätte. Kolya schaute kurz zum anderen Ende des Raumes, wo John und Gabriel noch immer mit dem Lord standen. „Nun, ich habe ihn nicht ausdrücklich danach gefragt. Aber ich weiß, daß er tatsächlich dieses Recht ‚jus prima noctis‘ der ersten Nacht hat und ich kenne ihn gut genug um zu behaupten daß er – deine Einwilligung voraus gesetzt – genau das haben will.“

Plötzlich kribbelte wieder meine Haut. Schon vor diesen ganzen ‚Enthüllungen’ hatte er ja diese Wirkung auf mich gehabt, ähnlich wie John, doch jetzt wurde das scheinbar schlimmer. „Und danach?“ Kolya schaute mich mit einem undurchdringlichen Blick an. „Das weiß ich nicht. Das liegt bei dir, bei euch. Es gibt keine Verpflichtungen, wie gesagt und einen großen Unterschied zwischen dem reinen körperlichen Begehren und einer geistigen Verbundenheit. Du kannst danach einen anderen Partner oder Partnerin wählen, wenn du willst, genau wie er auch.“

 „Einfach so?“ Ich wollte ja nicht darauf herum reiten, aber es schien mir wichtig. „Das hast du doch gesehen, Bouvier war da nur der Anfang. Aber das ist jetzt genug. Lasse es doch einfach alles auf dich zukommen. Folge dem Herzen, wie ich es dir schon damals gesagt habe. Und beim nächsten Angebot sagst du einfach ‚nein danke, heute nicht’ oder eben ‚gerne’. So einfach ist das. – Oh, da kommen sie.“ Tatsächlich waren John und Gabriel auf dem Weg zu uns.

Wir standen auf und gingen den beiden entgegen. Offensichtlich hatten sie mein kleines Zwischenspiel nicht mitbekommen. Gabriel winkte Kolya zu und sagte, als wir zusammentrafen: „Es tut mir leid, ich habe mit dem Lord wegen der Büchertransporte gesprochen. Es hilft wohl alles nichts, du mußt tatsächlich morgen los. Tut mir wirklich Leid, dir den Rest des Treffens zu verderben.“ Kolya nickte nur. „Kein Problem, habe ich mir schon gedacht.“

Gabriel wand sich an uns. „Es müssen so viele Gegenstände transportiert werden, zum Teil unsere Sachen, aber auch von Freunden. Also haben wir uns nach einer längeren Diskussion entschlossen, eine erste Teillieferung schon voraus nach Hause zu schicken. Kolya und zwei weitere Mitglieder werden noch heute Nacht mit den Büchern und einigen der wertvolleren Schätze in unserem Spezialflugzeug zurück fliegen. Er schickt uns dann den Jet zurück und am Sonntag fliegen wir dann mit den restlichen Einkäufen hinterher.“ Und Kolya ergänzte „leider läßt es sich nicht anders machen, weil einige kein angemessenes Transportmittel haben. Und wir können die wertvollen Sachen nicht unbeaufsichtigt lassen. Außerdem seid ihr hier unter Freunden, also kann ich euch wohl eine Weile alleine lassen.“ Sein Grinsen verstärkte sich.

Das war übel. Er war immer irgendwie mein Felsen in der Brandung. Aber bis Sonntag waren es nur noch zwei Tage – oder drei Nächte. Wir kehrten zusammen in unsere Zimmer zurück. Während Kolya alle notwendigen Dinge zusammen packte, saßen wir übrigen an seinem Tisch. Damit Kolya noch vor Anbruch der Dämmerung den Flughafen erreichte, mußte er sich sputen. Ein großer Transporter war schon früher am Abend vorausgefahren. Bis zu seiner Abreise war mir nicht wirklich bewußt gewesen, wie wichtig mir seine Anwesenheit war. Er sah meinen Blick. Als es zum Abschied nehmen ging, zog er mich zur Seite. „Du bleibst hier in bester Gesellschaft zurück. Hier brauchst du keinen Schutzengel. Wir sehen uns zuhause. Passe mir – wie beim letzten Mal – auf Gabriel auf, ja?“ er lächelte und sagte dann laut: „bis Sonntag. Ich hole euch mit der großen Limousine ab.“ Damit drückte er mich leicht an sich. Er wechselte ein paar Worte mit John und umarmte auch ihn zum Abschied. Dann gingen er und Gabriel und ließen uns beide im Zimmer alleine.

John sah auf die Uhr. „Fast drei Uhr. Er muß sich beeilen. Sollen wir auf Gabriel warten oder auch für heute Schluß machen?“ Ich überlegte einen Moment. Die letzte Nacht war aufregend gewesen, mehrmals hatte ich unter Hochspannung gestanden dann ein langer Tag und zuletzt war dann auch noch ein Baron Bouvier. Ich fühle mich völlig erschöpft, aber nicht wirklich müde. Doch vermutlich würde Schlaf zu einer normalen Zeit auch mal nicht schaden. „Ich denke, ich werde schlafen gehen“, beschied ich ihm. „Vielleicht finde ich ja auch die Gelegenheit, etwas nachzudenken. Wenn du Gabriel noch siehst, grüß ihn von mir. Bis morgen beim Frühstück.“ Etwas unschlüssig trat ich auf ihn zu. Er streckte leicht die Arme nach mir aus und einen Moment hielten wir uns gegenseitig fest. Sein Mund suchte und fand den meinen und mit einem plötzlichen Aufflackern der alten Leidenschaft preßten wir uns aneinander, den Mund des anderen bedeckend, Zungen in stillem Zweikampf.

Doch kurze Zeit später lösten wir uns voneinander, noch etwas atemlos. Das Feuer in meinem Körper, das er in diesem Moment wieder entfacht hatte, kehrte zu seinem stetigen Flackern zurück. Unsicher trat ich zurück in meine Tür „Schlaf gut John, bis morgen.“ Ohne weitere Worte schloß ich die Tür. Es gab keine Erklärung, aber nicht nur ich, auch er hatte abgelassen. Irgendwas war verändert. Also auch hier. Bei mir war die Entscheidung dieses Mal eindeutig im Kopf gefallen, gegen den ausdrücklichen Willen meines Körpers. Seine Gründe kannte ich nicht, konnte sie nicht mal erahnen.

Noch immer von dem kurzen Aufflackern des Verlangens gewärmt, kleidete ich mich aus und kuschelte mich unter die Decke. Ich hörte, wie Gabriel in Kolyas Zimmer kam und er mit John sprach. Nach einer Weile wurden die Stimmen leiser und verschwanden dann. Unmerklich sank ich in Schlaf.

Omega und Alpha – Ende und Anfang

Be my lover, be my pain and be my serpent
I’ll trade my living soul and life with you
To be your prey, to keep the fight up till the end
Just promise that your kiss is deep and true

Der Freitag verlief ähnlich wie der Donnerstag. John und ich waren wieder die einzigen Frühstücksgäste. Unsere Unterhaltung war spärlich, jeder hing seinen Gedanken nach. Wir kehrten zu der Versteigerung zurück. Einer der Nadiesda Thurus und auch ein Mitglieder der Oscuro waren mit Kolya abgereist. Heute wurden wieder Bücher, Schriftrollen und einige Gemälde verkauft. Gabriel zeigte sich abwesend und John war ebenfalls nicht erheblich gesprächiger. Also beschloß ich, noch einmal einen Spaziergang durch den Schloßpark zu machen.

Als ich mit meinem dicken Mantel die Eingangshalle betrat, begegnete ich Leon. „Mylady, wenn sie länger hinaus wollen, nehmen sie besser einen der Hunde mit. Seit einiger Zeit treiben ein paar Wölfe hier ihr Unwesen und sie sollten nicht ohne Schutz gehen. Folge sie mir, ich denke Hiems – das heißt Winter oder auch Sturm übrigens – wäre der rechte Begleiter für sie und würde sich über etwas Bewegung freuen.“

Ich folgte ihm bereitwillig durch die Küche in die Wirtschaftsräume. Dort lag ein riesiger Rottweiler, der nicht nur wilde Tiere beeindrucken mußte. Als er sich mit freundlichem Wedeln erhob, reichte er mir bis zur Hüfte. Das Tier bestand fast nur aus Muskeln. Überraschend zärtlich sprach Leon mit dem Tier, das ihn aus verstehenden Augen ansah: „Hiems, diese Lady möchte einen Spaziergang machen. Bleib bei ihr und paß auf sie auf. Liefere sie heile ab und gehorche ihr. Verstanden?“ Als ob er jedes Wort begriffen hätte, quittierte er mit einem Bellen, das tief aus seiner Brust drang und jeden normalen Menschen in die Flucht geschlagen hätte. Er schritt würdevoll auf mich zu, schnupperte dezent an meinem Bein, setzte sich hin und schaute mich abwartend an. Ich hockte mich zu ihm nieder und er schnüffelte an meiner angebotenen Hand. „Es freut mich, dich kennen zu lernen, Hiems. Wollen wir los?“ Er stand auf und lief zur Hintertür und schaute mich an. „Danke Leon. Wir kommen bald zurück.“ Und damit machten wir uns auf einen ausgedehnten Streifzug.

Ich hatte noch nie einen Hund wie Hiems kennen gelernt. Er gehorchte jedem Wort, lief nicht weg aber war gleichzeitig lebhaft und etwas verspielt. Immerhin war ich eine totale Fremde aber er benahm sich, als ob er mich ewig kannte.

Am Ende dauerte unsere Exkursion fast den ganzen Nachmittag. Wir besuchten einen alten, überwachsenen Friedhof, streiften mehrere Ruinen und umgingen – unter der Leitung des Rottweilers – ein kleines Moor. Ich war völlig geschafft, als wir endlich durch den Hintereingang das Schloß wieder betraten. Im Wirtschaftsraum verabschiedete ich mich – ungern – von Hiems. In der Küche herrschte die rege Atmosphäre, die einem Abendessen für 25 Personen voraus geht. Unbeachtet schlüpfte ich an dem Chaos vorbei und gelangte in mein Zimmer.

Was jetzt? Es war mittlerweile dunkel und die Versteigerung für heute wohl vorbei. Ein gemeinsames Dinner war nicht angesetzt und ich hatte keine Lust, den beiden Männern hinterher zu laufen. Ein Klopfen an der Tür unterbrach meine Überlegungen. Ein leuchtend weißes Hausmädchen schob einen Servierwagen mit einem warmen Abendessen in meinen Raum. Scheu lächelnd sagte sie: „Lord Rodenby läßt fragen, ob sie ihm nach dem Speisen in der Bibliothek ein wenig Gesellschaft leisten würden?“ Ich bemühte mich um angemessene Antwort: „Bestellen sie seiner Lordschaft, daß es mir ein Vergnügen sein wird.“ Sie nickte. „Die Bibliothek ist der Raum direkt rechts neben dem Speisezimmer.“ Dann verabschiedete sie sich.

Als ich fertig gegessen hatte – das war das erste Mal ganz alleine – kleidete ich mich sorgfältig an und machte mich, ohne bei John oder Gabriel Bescheid zu sagen, direkt auf den Weg. Ich fand den Raum sofort und als ich vorsichtig anklopfte, öffnete Leon fast augenblicklich die Tür. „Ich habe gesehen, daß sie heile zurück sind. Treten sie ein, Lord Rodenby erwartet sie bereits.“ Er ließ mich vorbei und schloß die Tür von außen.

Ähnlich wie bei Gabriel war der Raum an drei Seiten mit Bücherregalen bestückt. Es gab jedoch keine Fenster nach draußen, dafür aber einen riesigen Kamin mit einer Sitzgruppe und mehreren kleinen Tische. Der Lord erhob sich aus einem der Sessel und winkte mich zu sich. Es war mir nicht bewußt gewesen, daß es sich um eine Privataudienz gehandelt hatte.

„LaVerne, leisten sie einem alten Mann ein paar Minuten Gesellschaft. Gabriel hat mir erzählt, daß sie sich für meinen Whiskey begeistern. Also müssen sie ein Gläschen mit mir genießen, bevor morgen der Abschied naht.“

„Gerne, Lord Rodenby. Die Zeit ist so schnell vergangen und ich weiß gar nicht, wie ich für die Gastfreundschaft danken soll.“ Ich setzte mich in den Sessel, den er mir anbot und griff nach dem Glas, das für mich bereit stand. Das Feuer spendete eine angenehme Wärme und war die einzige Lichtquelle. Ich fühlte mich überraschend sicher und fast heimelich, ohne zu wissen, warum.

 „Wie ich schon am ersten Tag sagte, LaVerne, ihre Gesellschaft hier unter all den Männern ist mir Dank genug. Jetzt erzählen sie mir, aber ehrlich, wie sie die letzten Tage empfunden haben.“ Ich war nicht so sicher, was er wirklich hören wollte. Also erzählte ich von meiner Begeisterung für die verkauften Schmuckstücke, meiner wachsenden Zuneigung zu der Landschaft und von der Freundlichkeit der anderen Gäste. Er hörte wortlos zu und als ich geendet hatte, sagt er: „Sie sagen nichts – und alles.“ Das war ein harscher Kommentar und ich wollte schon protestieren. Doch er ließ mich nicht zu Wort kommen.

„Kindchen, ich habe mehr Jahrzehnte ins Land gehen sehen, als sie Jahre. Ich höre mehr und sehe mehr, als meine Gestalt vermuten läßt. Speisen sie mich nicht mit Oberflächlichkeiten ab. Sie haben der Oscuro ihr Blut geschenkt, jetzt bedarf es einer Rückzahlung. Genau wie Gabriel sehe ich in ihnen etwas ganz besonderes. Geben sie also der Oscuro die Gelegenheit, dieses Besondere zu finden, denn ich kann es nicht sehen, was es ist, solange sie es nicht selber wissen. Geben sie sich und unserer Bruderschaft die Gelegenheit sie zu dem zu machen, was sie sein möchten. Aber noch nicht sind. Öffnen sie sich!“ Er hatte einen solchen Nachdruck in die Rede gelegt, den ich ihm nicht zugetraut hätte. Und seine Worte erschreckten mich zutiefst.

Mein Instinkt sagte mir, daß ich dieser alten, kleinen aber tiefgründigen Gestalt trauen konnte. Trotzdem, was konnte ich ihm antworten. Denn es ging hier nicht um eine Lüge, ich hatte auch John nicht angelogen. Es ging darum, daß ich die Antwort nicht wußte. Wie ich am Frühstückstisch schon zu John gesagt hatte, ich war ebenfalls auf einer Suche. Ich suchte nach meinen Wünschen. Aber stimmte das?

„Direkt gesagt, ich denke nicht, daß die Tatsache, daß es ihre Schattenwelt der Oscuro gibt, mein Leben verändert. Wieso sollte es?“ Die Frage hatte mir bisher noch niemand ausführlich beantwortet. Aber ich war noch nicht fertig: „Die Oscuro ist nur ein weiterer Teil meines Lebens.“

Er wartete, also fuhr ich fort. „Wir alle sind das, was wir zeigen. Gabriel sagte einmal, wir tragen alle eine Maske. Ich lebe in einer Reihe von Ereignissen, auf die ich reagiere. Aber es ist unwichtig, ob ich da bin oder nicht. Das soll nicht fatalistisch klingen, nur realistisch.

Was immer ich auch tue, ich bin immer zwei Seiten, das Gehirn, das reagiert, oder der Körper – vielleicht auch der Geist oder die Seele – der spontan agiert. Doch diese Teile sind, wie bei einer Münze, obwohl vom gleichen Ursprung, elementar unabhängig voneinander. Ich vermeide eine genauere Untersuchung der Zuständigkeiten dieser beiden Teile. Ich denke, erst dann, wenn diese beiden gegensätzlichen Seiten der Medaille das gleiche fühlen, weiß ich, wonach ich suche. Ich will, daß die beiden Stimmen einmal gemeinsam schweigen, ich will mich verlieren in dieser Stille.“

Das war eine lange Rede. Ich hatte vorher meine Gefühle und Gedanken nie derart durchformuliert, nicht einmal vor mir selber. Doch Lord Rodenby nickte verstehend.

Er ergänzte sogar: „und da die zwei Seiten einer Münze immer auf unterschiedlichen Seiten liegen, kann es niemals geschehen, daß sie in die selbe Richtung schauen. Das bekannte Symbol mit dem Janus-Kopf.“

Ich schwieg dazu und überlegte, warum ich diesem Fremden gegenüber offener war, als ich mir selber. Lord Rodenby schenkte unsere Gläser aus einer Karaffe nach.

„Ich kann ihnen bei der Suche nicht helfen. Aber bedenken sie folgendes: die beiden Seiten der Münze mögen in entgegengesetzte Richtungen blicken, doch sie haben die gleiche Basis, kommen aus der selben Mitte, die sie miteinander untrennbar verbindet. Und wir alle haben unsere Dämonen, die wir bekämpfen müssen, da helfen nicht mal unsere Amulette und magischen Sprüche. Aber ich kann sie auf den Weg schicken. Sie haben gerade den ersten Schritt gemacht, LaVerne. Ihr Verstand schaut zu, wenn ihr Herz regiert und ihr Herz schweigt, wenn sie dem Verstand folgen. Erst, wenn beide das gleiche verlangen, können sie loslassen, sich selber aufgeben – und dadurch zu einer Einheit werden. Und diese mögliche Einheit scheint mir der Grund zu sein, warum wir alle in ihnen etwas Ungewöhnliches sehen“

 „Würden sie nach Macht oder Ruhm streben, wären sie nicht mehr hier. Denn die kann man nicht erlangen, nur verdienen. Jetzt weiß ich, daß sie richtig sind in der Nadiesda Thurus, wahrscheinlich auch in der Oscuro. Wir alle folgen dem Herzen, denn das hat seine eigenen Regeln, frei von Zwängen, Pflichten oder Vorteilsnahme. Der Verstand wird durch unser bisheriges Leben geprägt, er ist formbar und lernfähig. Suchen sie nicht die Einheit, LaVerne, sie wird sie finden. Und sie werden es wissen, wenn es soweit ist. Davor liegen Schmerz, Verlust, Versuchung, Trauer und Angst. Auch das formt uns, umarmen sie sie, ergeben sie sich ihnen. Lassen sie sich leiten von ihren Gefühlen und von Freunden, haben sie niemals Angst.

Sie stehen jetzt an einem Anfang. Genießen sie jeden Moment dieser neuen Erfahrung. Leben sie – ohne Einschränkungen. Sie haben dabei die besten Lehrmeister, die ich mir vorstellen kann. Ich wollte bei diesem Gespräch nur sicher gehen, daß sie verstehen, mit welcher Freude wir jedes neue Mitglied umarmen. Und seien sie sicher, es gibt Gründe für ihren Eintritt in unseren Bund. Ich glaube schon lange nicht mehr an Zufälle und sie sind einfach anders, als irgend jemand sonst aus der Nadiesda Thurus, sogar anders als die Oscuro. Die Zeit wird uns lehren.“

Damit wechselte er das Thema und kam auch nicht mehr darauf zurück. Irgendwie hatte ich das Gefühl, eine Last sei von mir abgefallen. Wir plauderten noch eine ganze Weile, dann entschuldige sich Lord Rodenby.

„Ich fürchte, ich muß meinen Pflichten als Gastgeber nachkommen. Morgen ist der letzte Tag und ich will noch mit einigen Gästen reden. Bitte entschuldigen sie meinen plötzlichen Aufbruch.“ Ich erhob mich ebenfalls. „Ich danke für die Unterhaltung, Lord Rodenby. Ich habe einiges gelernt und werde versuchen, mir die Ratschläge zu Herzen zu nehmen. Zumindest fühle ich mich irgendwie leichter.“

Zusammen verließen wir die Bibliothek. Während er in den Speisesaal trat, kehrte ich in mein Zimmer zurück. Eine Weile saß ich nachdenklich und versunken auf meinem Bett, bis ich Stimmen in Kolyas Zimmer hörte. Interessiert steckte ich formlos den Kopf durch die Tür: Gabriel und John saßen an seinem Tisch, über ein altes Pergament gebeugt. Ich zog mir einen freien Stuhl heran und gesellte mich zu ihnen. Gabriel sah mich fragend an und als ich nichts sagte, kehrte er zu seiner Erklärung der Schriftzeichen zurück.

„Morgen Mittag werden die letzten Stücke versteigert und um 20 Uhr ist das große Abschlußbankett. Dann ist alles vorbei. Und hat euch die Woche nun gefallen?“ Gabriel rollte die Karte zusammen und sah uns nacheinander fragend an. John antwortete als erster: „Ich hab schon mal gesagt, ich kann nicht glauben, wie schnell die Woche vergangen ist. Ich bin einfach nur begeistert. Von deinen Erklärungen, Gabriel, von diesem Schloß, den Kostbarkeiten…“ Mit einer hilflosen, alles umschließenden Geste ließ er die Worte ausklingen. Gabriel lächelte wissend.

Ich zeigte nicht so viel Enthusiasmus, aber auch meine Bilanz war durchweg positiv. Doch gerade auch die letzte Unterhaltung mit unserem Gastgeber hatte meine Stimmung positiv beeinflußt. Ich fühlte mich zuversichtlicher als vorher. Das hatte ich größtenteils den klaren Worten von Lord Rodenby zu verdanken. Aber auch Gabriel, er hatte eine neue Tür geöffnet

„Heute Nacht werde ich in Kolyas Zimmer bleiben und morgen, nach dem Bankett werden wir aufbrechen. Ihr solltet versuchen etwas zu schlafen, das wird eine lange Nacht werden am Samstag.“ Gabriel erhob sich, drehte sich in der Tür zu seinem früheren Zimmer aber noch einmal um. Ein ungewohntes und schelmisches Grinsen lag auf seinen Zügen.

 „Und morgen gibt es noch eine kleine Überraschung. Ich habe für jeden von euch ein kleines Geschenk. Nun aber. Gute Nacht!“ Damit verschwand er.

John kehrte durch meinen Raum in sein Zimmer zurück. An der Verbindungstür im Badezimmer blieb er stehen. „Gabriel hat mir erzählt, daß du heute Abend eine Einladung unseres Gastgebers hattest – und daß er nicht weiß, worum es geht. Der Lord ist klug und erschreckend wissend, hattest du auch diesen Eindruck?“ Oh ja! „Allerdings. Er ist klug, aber auch sehr direkt. Ich mag ihn, obwohl ich seine Einsicht fast erschreckend fand.“

„Irgendwann mußt du mir erzählen, worüber ihr gesprochen habt. Als Polizist muß ich schließlich alles wissen“, grinste er. Lachend schob ich ihn durch die Verbindungstür. „Das nicht!“ schickte ich ihm mit auf den Weg, als ich sie schloß. Soweit kam das noch.

Mit mehr Gelassenheit und Ruhe, als ich in der letzten Zeit empfunden hatte, aber auch mit der Zufriedenheit, ging ich an diesem Abend ins Bett. Und schlief friedlich und entspannt.

Samstag fand mich ausgeruht und in bester Laune. Irgendwie hatte ich keine Lust, auf John zu warten, als er auf mein leises Klopfen nicht reagierte. Also ging ich alleine in den Speisesaal. Ein dunkelhäutiger Mann mit typischem Afro-Haarschnitt saß dort und las ein Buch, während er Kaffee trank. Offensichtlich gehörte er der Nadiesda Thurus an. Wir grüßten einander freundlich, dann kehrte er zu seiner Lektüre zurück. Als Leon mir den Kaffee brachte, fragte er, ob ich vielleicht Interesse an der Tageszeitung hätte. Es gab ein Leben außerhalb dieses Schlosses? Also bracht er mir die aktuelle Ausgabe und so verbrachte ich ein ungewöhnlich normales Frühstück. Fast exotisch mutete diese banale Normalität an. Aber unsere Zeit lief ab und es war wohl bald soweit, wieder in das normale Leben zurückzukehren. Nach einer Weile verabschiedete sich der zweite Frühstücksgast. „Sie sollten noch mal zur Versteigerung runter kommen, heute werden einige Reste und besondere Stücke verkauft.“ „Danke für den Tipp, ich werde gleich runter gehen.“ Er nickte freundlich und verließ den Raum. Kurze Zeit später ging auch ich in das Verlies, John war noch immer nicht aufgetaucht.

Alle Teilnehmer des Treffens waren wieder auf ihren Plätzen. Gabriel deute lächelnd auf den freien Stuhl neben sich. „Es hat gerade angefangen, du kommst zur rechten Zeit. Heute kommen noch ein paar besondere Stücke. Grüße übrigens von Kolya. Es hat alles geklappt und das Flugzeug ist schon auf dem Weg hierher. Ist John auch schon auf?“ Ich flüsterte zurück: „Ich hab ihn noch nicht gesehen, auf mein Klopfen hat er nicht geantwortet. Was gibt es denn so besonderes?“ „Das ist ja grad die Überraschung, keine Ahnung. Lord Rodenby hat uns informiert, daß einige Stücke nachträglich angeboten werden. Wir lassen uns mal überraschen.“ Neben den obligatorischen Büchern wurden dann auch noch einige weitere Schmuckstücke angeboten. Offensichtlich handelte es sich um besondere Stücke, denn die Gebote schnellten in atemberaubender Geschwindigkeit nach oben. Gabriel fügte seiner Sammlung zwei weitere Anhänger, einige Edelsteine und einige Flaschen mit einer nicht erläuterten Flüssigkeit hinzu.

Die Aktion dauerte wieder in den Nachmittag, aber es herrschte eine aufgeregte Stimmung, die Bieter überschlugen sich fast. Erst jetzt tauchte John auf – er wirkte blaß. Auf meine Frage antwortete er: „Erst konnte ich nicht schlafen, dann hatte ich Alpträume. Erst gegen Morgen ging’s dann besser.“ Nach einer weiteren Stunde war dann endgültig Schluß.

Zu dritt kehrten wir in unser Zimmer zurück. Bevor wir uns trennten, meine Gabriel: „Ihr solltet schon packen. Wir werden direkt nach dem Dinner losfahren. Für heute ist Sturm angesagt und je eher wir loskommen, desto besser.“ Also machten wir uns daran, alles für die Abreise vorzubereiten. Ich hatte kaum bemerkt, daß die Zeit vergangen war. Irgendwie fühlte ich mich traurig.

Als ich fertig war, trat ich auf den Balkon. Ich wollte den Blick mit dem Nebel, der aus dem Park aufstieg, mitnehmen. Ich wartete, bis ich in der Dunkelheit nicht mal mehr die Auffahrt erkenne konnte, dann kehrte ich in mein Zimmer zurück. Ich ließ mich aufs Bett fallen und starrte gegen die Decke. Nach einer Weile klopfte es und Gabriel kam ohne Aufforderung durch Kolyas Tür. Ich setzte mich auf aber er winkte und ließ sich auf der Bettkante nieder. „Du bist traurig, Schwarze Rose.“ Das war keine Frage. „Wir sind erst am Anfang, nicht am Ende. Hier beginnt die Geschichte, das Leben.“ „Ich weiß, aber der Ort strahlt so viel Frieden aus – dabei weiß ich nicht mal, warum ich traurig bin.“

„Ja, der Ort hat eine eigene Magie, die wir alle spüren. Aber ich wollte dich ein wenig aufmuntern. Ich hatte gestern ja gesagt, daß jeder ein Geschenk bekommen soll. Und bevor ich es dir gebe, du darfst es nicht ablehnen. Das wäre sehr unhöflich und würde mich tief kränken.“ Herausfordernd sah er mich an. Das rief nach einer Antwort: „Wir werden sehen, ich kann nichts versprechen.“ Er griff in die Tasche seines – schwarzen – Jacketts und holte ein kleines, flaches Päckchen heraus. Es war nur 5 cm im Quadrat und sah aus, als ob es Pergament wäre. Darum war ein dunkelblaues schmales Band geschlungen. Er nahm meine Hand und legte es in meine Hand. Vorsichtig öffnete ich das Band und wickelte das Papier ab. Und wirklich war es Pergament, mit feinen, unverständlichen Worten beschrieben. Und darin lag der schlichte Goldring aus der Versteigerung.

„Gabriel!“ Ein so wertvolles Geschenk konnte ich unmöglich annehmen. Doch er ließ mich nicht weiterreden. „Du weißt, daß das ein starker Schutzring ist. Ich möchte dich beschützt sehen, wenn wir nicht bei dir sind. Ich habe ihn für diesen Zweck gekauft. Du mußt ihn immer tragen, und wenn es nur als Erinnerung an eine besondere Woche ist. Bitte!“ Ich zögerte. Er war wunderschön in seiner Schlichtheit; wenn ich vielleicht nicht von seinem Schutz überzeugt war, würde ich immer an seinen Überbringer denken, wenn ich ihn ansah. Das war das Schlußargument. Warum nicht.

„Gabriel, ich weiß nicht, wie ich dir danken soll.“ „Indem du ihn trägst, meine Rose.“ Damit nahm er ihn von dem Pergament und schob ihn vorsichtig auf meinen rechten Mittelfinger. Er glitt ohne zu Stocken darüber, als wäre er dafür bestimmt. Als er richtig saß, lächelte Gabriel: „Ich wußte, daß er für dich bestimmt war.“ Er hielt meine Hand weiterhin fest – und der Ring veränderte sich. Von Gold wurde er schlagartig rubinrot und leuchtete und er schien enger zu werden. Als wäre es nur eine optische Täuschung gewesen, sah er im nächsten Moment wieder normal aus. Gabriel nickte. „Er hat dich als seinen Träger anerkannt. Er wird dich schützen.“

Einen Moment starrten wir beide auf meine Hand, dann strich er mit der anderen über meine Wange. „Ich muß noch zu John. Ich hab da ein phantastisches Büchlein mit Beschwörungsformeln für den Hausgebrauch. Er war bei der Versteigerung ganz begeistert davon. In einer guten halben Sunde hole ich euch dann ab zum großen Dinner.“ Damit stand er auf und trat zur Balkontür: „Ach, und was das Pergament angeht, leg es gut weg. Vielleicht brauchst du es noch mal. Ich werd es dir irgendwann vorlesen. Bis nachher.“

Ich legte das Pergament zu meinen Papieren und als ich mich im Bad für den Abend fertig machte, hörte ich John und Gabriel gedämpft reden. Und dann fand ich den kleinen Haken an Gabriel Geschenk: er ging nicht ab! Das Gefühl des ‚Enger werdens’ hatte als doch nicht getäuscht. Es war nicht dran zu denken, ihn abzustreifen. Darüber mußte ich unbedingt noch mit Gabriel plaudern, aber heute war es nicht so wichtig. Irgendwie vergaß er bei seinen Erzählungen und Erklärungen öfter irgendwelche ‚unbedeutende oder unwichtige Details’ zu erwähnen… also wirklich.

Alle Gäste waren pünktlich um acht Uhr im Speisesaal. Der Tisch war etwas anders gedeckt, denn es blieb kein Platz frei, obwohl drei Leute fehlten. Don Vedu, der Herr zu meiner Linken war mir erhalten geblieben, rechts von mir ein schwarz umhüllter Mann, den ich einige Male flüchtig im Verlies gesehen hatte. Höflich stellte er sich vor: „Sokrates. Einfach nur Sokrates, das ist schon schlimm genug, den Rest hab ich beizeiten abgelegt, was sich meine Eltern wohl dabei gedacht haben.“ Ich mußte lachen. „Immerhin war Sokrates doch ein kluger Mann. War also zumindest gut gemeint.“ Mein neuer Nachbar stellte sich als wunderbarer Unterhalter heraus. Er war sympathisch, locker und ich mochte ihn auf Anhieb.

Das Essen zog sich wieder über fast drei Stunden. Es wurden einige Reden gehalten, alle dankten dem Gastgeber und äußerten sich begeistert über die Versteigerung Doch nach dem Essen gab es kein gemütliches Beisammensein am Kamin mehr. Nach und nach verabschiedeten sich die Gäste. Sokrates hatte sich schon direkt am Tisch entschuldigt. „Sollten sie nach Österreich kommen, besuchen sie mich unbedingt, LaVerne. Schade, daß wir die Unterhaltung schon beenden müssen, aber es läßt sich nicht ändern. Auf baldiges Wiedersehen, LaVerne.“ Völlig selbstverständlich und ohne im Entferntesten aufdringlich zu wirken, hauchte er einen Kuß auf meine Wange und entschwand.

Fast zum Schluß gingen Gabriel, John und ich zu Lord Rodenby. Mit ehrlich gemeinten Dankesworten verabschiedeten wir uns. Als ich ihm die Hand reichte, drehte er sie etwas, bis der Ring deutlich sichtbar war. „Ich sehe, alle ist, wie es sein soll. Ich habe mich gefreut, ihre Bekanntschaft zu machen, LaVerne. Vielleicht entscheiden sie irgendwann, in die Oscuro einzutreten, es würde mich freuen. Gute Heimreise und lassen sie den Raben über sie wachen.“ Die letzten Worte hatte er lauter gesprochen und dabei Gabriel angeschaut. „Oh, das werde ich Alistair, da sei dir mal ganz sicher.“

Als wir in die Zimmer gingen, um unsere Sachen zu holen, frage ich ihn: „was meinte er mit dem Raben?“ „Ich bin der Rabe“, antwortete Gabriel, „mein zweiter Name, unter dem mich  jeder in der Oscuro kennt. Du kennst doch meinen Namen. Gabriel de Suvroc. Rückwärts ist das Corvus, der Rabe, und auch der Name meines Zirkels in der Oscuro. Am ersten Abend haben mich daher auch alle mit Salve Corvus begrüßt.“ Er grinste schelmisch. „Oh ja, ich erinnere mich. John hat mir das Wort übersetzt. Also, Rabe, ist jetzt Abreise?“ „Jawohl!“ Unser Gepäck war schon fort, wir griffen unsere Jacken, ein letztes Umschauen und dann ging es zum Bentley. Einer der Bediensteten war der Fahrer. John und Gabriel saßen wieder hinten. Draußen tobte mittlerweile ein Sturm, Blitze zuckten in hektischer Abfolge und der Donner schien ineinander überzugehen.

Unser Fahrer tastete sich langsam und vorsichtig über die mit Ästen übersäten Feldwege und Nebenstraßen. Erst als wir fast eine Stunde gefahren waren, wurde er schneller. Hinten schwärmte John von seinem neuen Buch und las einige der Überschriften vor. Gabriel überprüfte die Tasche mit den wertvollen Schmuckstücken. Ärgerlich brummte er „wo ist das verflixte Ding, es sollte da drin sein, in Tücher verpackt!“ „Ah!“ Triumphierend zog er den großen Skorpion aus den Tiefen der Tasche. Die Edelsteine drauf glänzten im Blitzlicht.

Dann plötzlich geschahen mehre Dinge gleichzeitig. John hatte einen interessanten Spruch gefunden und las ihn laut vor. Und ein gewaltiger Blitz schlug knapp vor uns in eine große Eiche – mit ohrenbetäubendem Knall. In Panik verriß der Fahrer das Lenkrad, schleuderte nach links, dorthin, wo die Eiche umstürzte. Sie hatte an einem Hang gestanden und das Auto rutschte jetzt über diesen Abgrund. Nicht steil aber stetig und unkontrolliert. Nach 10 Metern tat sich unter uns die Erde auf. Ob es eine natürliche Höhle im Boden war, oder etwas künstliches, war egal, jedenfalls stürzte das Auto mit der Nase zuerst in den geöffneten Boden, blieb hängen, Bruchteile einer Sekunde später kam von hinten ein lauter Krach und ein Schlag und das Auto fiel. Wir schlugen gut vier Meter tiefer mit der Nase auf und endeten auf den Rädern. Plötzlich war es stockdunkel und unnatürlich still.

Nach einiger Zeit bewegte ich mich vorsichtig. Meine Schulter, wo der Sicherheitsgurt gegriffen hatte, schmerzte. Ich war offensichtlich nicht tot. Von hinten drang ein leichtes Stöhnen. „John? Gabriel? Seid ihr OK?“ Einen schrecklichen Moment bekam ich keine Antwort, dann: „Scheiße!“ Das war Gabriel und ich hatte ihn noch nie fluchen gehört. „Wo bist du, oh, warte! Aua. Grr…. Na also! Ja, LaVerne, ich bin OK. John?“ Die Geräusche waren seltsam gewesen, aber die Sorge in seiner Stimme machte mir Angst. Doch dann kam leise die Antwort. „Ich bin auch heile, glaube ich jedenfalls. Laß mich mal drüber nachdenken. Was war das, was ist passiert?“

Gabriel antworte: „Einen Teil kann ich erklären: Ein Blitz ist eingeschlagen und der Fahrer hat uns in irgendeine Art von Höhe gefahren. Die Sache mit dem Skorpion kann ich nicht erklären. LaVerne, bist du auch unverletzt?“ „Ich denke ja. Ich hab mich nur furchtbar erschrocken. Und wieso Skorpion?“

Diesmal antworte John kleinlaut: „Ich glaub, das war meine Schuld, ich hab einen Spruch vorgelesen, der tote Materie zum Leben bringen sollte.“ Gabriel unterbrach ihn: „Das kann nicht, die Beschwörungen funktionieren nur wenn ein Mitglied der Oscuro sie spricht. Trotzdem ist das verflixte Vieh losgelaufen und hat mich drei mal gestochen. Gut, daß mir so was nicht schadet. Zuhause kommt der definitiv in einen Glaskasten.“ Von den Vorgängen hinten hatte ich gar nichts bemerkt. Daher also die Flüche. Ich angelte nach meinem Feuerzeug. Als ich es anmachte –

„Oh, Gabriel, der Fahrer“ Er griff von hinten an die Halsschlagader. Aber die erschreckend unnatürliche Kopfhaltung sagte schon alles. „Er muß sich das Genick gebrochen haben.“ Langsam öffnete ich die linke – Beifahrer – Tür. Das Licht funktionierte noch, obwohl der Motor aus war. Der Wagen war ein Bild des Jammers. Die Front war komplett gestaucht, alle Scheiben zersplittert. John und Gabriel stiegen vorsichtig aus dem Chaos hinten aus. Wir waren in einer großen Höhle, scheinbar natürlichen Ursprungs. Hinter dem Wagen schien ein Gang abzugehen. John duckte sich langsam in den Wagen und tauchte mit einer kleinen Taschenlampe aus seinem Gepäck wieder auf. „Als Polizist…“ lächelte er leicht gequält. „Bist du wirklich in Ordnung?“ frage ich nach. „Ja, nur wohl schlimm durchgeschüttelt und ein paar Prellungen. Laß uns mal die Lage sondieren.“

Damit leuchtete er unsere Umgebung ab. Die Haupthöhle war gut vier Meter hoch, wo das Auto durchgebrochen war, lag jetzt die riesige Eiche wie ein Deckel. Die Höhle maß rund 20 Meter in der Länge und 10 in der Breite. Ein schmaler, niedriger Gang führte in eine kleinere Nebenhöhe, vielleicht fünf Meter im Quadrat und wesentlich niedriger, Gabriel konnte gerade aufrecht stehen. Das war alles.

„Und nun?“ Keiner von beiden antwortete auf Anhieb. „Die Höhle schirmt mein Handy ab, ich habe keinen Empfang“, informierte uns Gabriel. Wir werden gegen fünf oder sechs am Flugzeug erwartet. Erst dann wird man nach uns suchen. Das kann auch noch ne Weile dauern und dann kann ich die Höhle nicht bei Tageslicht verlassen. Außerdem wird wohl ein Kran notwendig sein, um den Baum wegzuräumen. Wir sitzen fest, und das für mindestens einen Tag.“ Seine Bilanz war ernüchternd aber realistisch. Nun, immerhin waren wir mit heiler Haut davon gekommen.

„Also, machen wir das Beste daraus. Laßt uns nach nützlichen Dingen schauen, solange die Taschenlampe von John noch funktioniert.“ Gabriel kommentierte das grinsend mit „also, ich brauche keine Lampe, um sehen zu können. Ja ja, ich geh ja schon…“

Im Licht der Fahrzeugbeleuchtung förderten wir nur einige Streichhölzer zutage. Im Kofferraum hatte Gabriel drei der Whiskeyflaschen gelagert, von denen zwei überlebt hatten. Zusammen stapelten wir die nützlichen Dinge und unsere Koffer vor dem Auto auf. John wirkte in dem fahlen Licht sehr blaß und setzt sich nach einiger Zeit auf den Rücksitz. „Oh“, sagte Gabriel, „wir können Fackeln machen. Wir haben Öl und Alkohol, jede Menge Holz  von dem Baum und Lappen.“ Also bereiteten wir einige vor. Dann brachten wir alles in die Nebenhöhle, weil wir nicht abschätzen konnten, wie viel Licht der Baum durchlassen würde. Außerdem würde es hier wärmer werden.

„John, komm, wir haben die Sachen aus den Koffern auf den Boden gelegt. Du solltest dich hinlegen.“ Vorsichtig zog Gabriel ihn hoch und legte seinen Arm um Johns Hüften und zog in so mit in den ‚Wohnraum’. Ich half ihm, John vorsichtig hin zu legen. Er war schweißnaß und schien jetzt doch leichte Schmerzen zu haben. Wir entzündeten eine der Fackeln und ließen uns auf dem Boden nieder.

 „Gabriel, ich … ich muß dir was sagen.“ John setzt sich vorsichtig auf, die Augen weit geöffnet und strahlend blau wie selten. „Klar John, aber bleib besser liegen.“ Er wollte ihn runter drücken, aber John wollte es nicht zulassen. „Nein! Ich glaube, ich habe ein Problem.“ Er klang dringen und Gabriel schwieg.

Er schaute John an, in seinem Blick schien ein tiefer Schmerz zu entstehen und er schüttelte den Kopf: „Sag mir, daß es nicht das ist, was ich fürchte, John!“ Er legte dem blassen Mann vor ihm die Hand auf die Schulter und seine Stimme hatte einen seltsamen Klang angenommen. John schwieg und sah nach unten. Dann: „Ich glaube, er hat mich an der Wade gestochen. Ich dachte erst, es käme vom Unfall. Aber das Kribbeln weitet sich aus, mir ist kalt und die Stelle ist taub.“

Gabriel senkte den Kopf und leise sagte er: „ich muß es sehen, zeig es mir bitte.“ Ohne zu zögern zog John die Hose aus. Wir halfen ihm so gut es ging. Dann hatten wir die Bestätigung seiner Worte. An der linken Wade war eindeutig ein Einstich, noch leicht blutig und darum herum hatte sich die Haut dunkel verfärbt und war heiß und geschwollen.“

Ich spürte, wie sich mein Herz zusammen zog. „Hilft es, wenn wir das Bein abbinden?“ meine Stimme klang fremd, hilflos und ich hatte Angst. Angst um einen Freund. Gabriel schüttelte den Kopf. „Viel zu spät, das Gift ist schon im Körper. Ich denke nicht, daß es überhaupt geholfen hätte. Verdammt!“ Wütend sprang er auf und drehte uns den Rücken zu. John legte sich zurück. „Es war meine Schuld. Ich hätte wissen müssen, daß man mit solchen Dingen nicht spielt. – Gabriel? Wie schnell wirkt das Gift?“ Seine Stimme klang ruhiger und gefaßter als ich mich momentan fühlte.

„Zu schnell. Und es ist nicht deine Schuld. Wenn, dann meine. Selbst wenn man uns bei Tagesanbruch gefunden hat, bis dahin wird das Gift dein Herz erreicht haben. Und ich kenne nicht mal ein Gegenmittel. Alistair vielleicht…“

Gabriel kniete sich wieder zu uns. Das Licht der Fackel erreichte jetzt nicht mehr seine Augen, nur zwei dunkle Flecken in einem Gesicht, das jetzt Johns Schmerz widerspiegelte. John schaute auf den vor ihm hockenden Mann. Im Gegensatz zu Gabriel schien er ruhig und gefaßt und im Liegen auch recht schmerzfrei. Er lächelte sanft: „Sagen wir doch, keiner hat Schuld. Es ist passiert und eben Schicksal. Zumindest bin ich unter Freunden.“ Er warf mir einen Blick zu, der durch Mark und Bein ging. Voller Zuneigung und Ruhe. Ich kämpfte gegen die Tränen. Was hatte er im Schloß zu mir gesagt: Er wäre glücklich, weil er jetzt endlich verstand. Nun, ich war nicht glücklich, ich wollte ihn nicht verlieren.

Gabriel hatte geschwiegen und uns beobachtet. Er schaute John an, dann auf mich. Ausdruckslos sagte er dann zu mir, ohne mich anzusehen: „LaVerne! Bitte laß mich ein paar Minuten mit John alleine. Wir müssen reden. Ich werde dich holen. Doch dies hier geht nur uns beide etwas an. Entschuldige bitte…“ „Natürlich.“

Ich stand auf und ging langsam zu der großen Höhle zurück. Da ich mich nicht neben den toten Fahrer setzen wollte, ließ ich mich mit angezogenen Beinen auf der Rückbank nieder. Wieso hätte nicht alles bleiben können, wie es war. Ich kannte nicht genug Einzelheiten um zu hoffen, daß Gabriel einen Weg wußte, ihn zu retten. Er hatte gesagt, daß ein einzelner Biß niemanden zu einem Oscuro machte, es verlangte mehr. Aber wenn es eine Möglichkeit gab… aber durfte Gabriel diese Entscheidung fällen? Gab es vielleicht so etwas wie eine Wartezeit, ein Komitee oder war die Vergiftung vielleicht schon zu weit fortgeschritten. Ich kämpfte gegen die ungewohnte und stärker werdende Verzweiflung an. So viele ‚aber’ standen im Raum. Doch das wichtigste ‚aber’ war, daß ich nicht wollte, daß John hier und heute Nacht starb. Jeder der drei Männer – ich zählte auch Kolya mit – war schon zu tief in meine Welt eingedrungen. Das hatte ich doch eigentlich nicht gewollt. Ich brüte noch vor mich hin, als nach einer endlosen Zeit Gabriel aus dem Dunkel des Verbindungsganges auftauchte. Schweigend setzte er sich zu mir auf den Rücksitz.

 „Weißt du, LaVerne, manchmal läuft alles verkehrt. Ich wollte euch beiden die Gelegenheit geben, euer Leben neu zu leben. Euch langsam in den Zauber der Ewigkeit einführen, euch lehren, Freundschaft, Vertrauen und Liebe aufbauen. Der Weg in diese Ewigkeit ist fast wie im Liebesspiel: die Vorfreude, den Partner erregen aber warten lassen, die Erwartung, das Verlangen und das Wissen, wie es enden wird, sind fast wichtiger, als das Ende selber.“ Er sprach leise und klang dabei unendlich traurig. Mein Herz sank und machte sich still und feige auf den Weg zu ihm. „Heute Nacht werde ich John verlieren. Ich kann ihn nicht mitnehmen, auf diese wundervolle Reise. Er wird sterben. Was auch geschieht, was ich auch tue. Das Ziel der Wandlung ist sicher lohnenswert, aber der Zauber der Vorbereitung ein großer Verlust und eine Ungerechtigkeit. Wenn ich sein Blut nehme – und er meines – wird er wieder erwachen, als ein Mitglied der Gemeinschaft des Blutes. Ewiger Frieden oder fast endloses Leben, das ist es, was ich ihm anbieten kann. Dafür muß er einen Preis zahlen, wie ich auch. Wir alle in der Oscuro kennen den Preis, aber ihr nicht.

Doch wer stirbt, würde immer das Leben wählen, so ist unser aller Natur. Ich kann ihn nicht auf das vorbereiten, was kommt, aber ich werde ihn retten, so wie er entschieden hat. Mein Rang und die Situation erlauben mir, die Umwandlung zu vollziehen. Ich wünschte, wir hätten mehr Zeit gehabt, aber mein Herz sagt mir, daß ich ihn bei uns halten muß, wenn auch zum Preis seines Lebens. Daher werde ich ihn töten.“

Eigentlich sollte ich jetzt so etwas wie Erleichterung fühlen, John würde uns nicht verlassen. Aber Gabriel tat etwas, was er nicht wollte, oder zumindest noch nicht. Offensichtlich hatte er John die Entscheidung überlassen. Wie er es vorher gesagt hatte. „Welchen Preis bezahlst du dafür, Gabriel?“ fragte ich sanft. Er sah mir tief in die Augen, das schwächer werdende Licht im Auto konnte nicht in diese Dunkelheit eindringen. „Bei jeder Umwandlung töte ich einen Menschen, LaVerne. Ich spüre, wie das Leben die Körper verläßt.“ Und doch tat er es. Doch heute war es etwas anderes, das Leben würde John in jedem Fall verlassen. „Aber diese Menschen haben selber so entschieden. Und denk dran, was du ihnen dafür schenkst.“

Er antwortete nicht. Endlich stand er auf. „Schwarze Rose?“ „Ich fürchte, wir brauchen deine Hilfe. John ist nicht auf das vorbereitet, was auf ihn zukommt. Du allerdings auch nicht, aber anders wird es wohl nicht gehen. Ich weiß nicht, wie er auf die Tatsache reagiert, daß die Umwandlung in dieser Situation hier nur während der körperlichen Vereinigung erfolgen kann. Für ihn als Mann wird es noch schwerer sein.“ In jeder anderen Situation hätte ich leichtfertig geantwortet, aber hier konnte ich nicht, wollte ich nicht. Doch was kam da auf mich zu. „Ich habe es ihm grob erklärt, er hat gesagt, daß er kein Problem damit, hat aber natürlich glaube ich ihm nicht. Daher muß ich dich bitte, als eine Art ‚Vermittler’ einzuspringen, wenn sein Körper die Mitarbeit bei der Umwandlung. verweigert

Kolya hat ja schon erwähnt, daß wir andere Moralvorstellungen haben, als ihr. Denke also bitte sorgfältig und ehrlich über folgende Fragen nach, denn Johns Leben hängt davon vielleicht ab. Bist Du bereit, bei Blutvergießen zu helfen, kannst du den Anblick von zwei Männern ertragen, die sie lieben, dich vielleicht sogar bis zu einem gewissen Punkt mit einbeziehen? Kannst du weiterzumachen, auch wenn es gegen deine Natur zu sein scheint oder einen von uns der Mut oder die Kraft verläßt. Ich werde John küssen, umarmen, wir werden Liebende sein, geistig und unsere Körper werden sich nahe sein. Kommst du mit solchen Dingen zurecht?“

Ich wußte nicht was ich dazu sagen sollte, ob ich zu allem fähig war, was er brauchte, denn in solch eine Situation war ich bisher nicht gekommen. Doch ich war willens, schon um Johns Leben zu retten. Und beide hatten diese spezielle, erregende Wirkung auf mich. Und beide zusammen … „Ich habe sicher kein Problem mit zwei so schönen Männern. Da würde ich schon ganz gerne dabeisein, wenn ihr mich laßt und die Vorstellung von euch beiden zusammen“ – ich stockte, wie war das mit den Moralvorstellung und der Ehrlichkeit – „alleine den Gedanken daran finde ich schon sehr aufregend.“ Da. Es war raus und hatte gar nicht weh getan. Dafür wurde ich dann mit einem undeutbaren Lächeln belohnt.

“Ich kann also nur sagen, ich verspreche, alles zu geben, damit diese Wandlung gelingt, ich versuche, nicht zurück zu schrecken und werde tun, was du mir sagst, in der Hoffnung, daß ich nicht versage. Ich bin bei euch, wenn ihr es möchtet.“

„Meine schwarze Rose, ich wußte, daß du etwas besonders bist. Alistair sagte, es wäre Vorsehung, nicht Schicksal, daß wir uns getroffen haben. Vielleicht hat er Recht. Komm, laß uns jetzt zu John gehen, ich weiß nicht, wie schnell das Gift wirkt.“

Etwas beklommen folgte ich ihm in die kleinere Höhle. Es war schon ein Unterschied zwischen Worten und Taten. John lag auf den verschiedenen Kleidungsstücken und hatte die Augen geschlossen. Als ich mich neben ihn setzte, öffnete er sie. Ich schaute wieder in das klare Blau eines Bergsees. Er sah meinen Gesichtsausdruck und lächelte: „Hey, nicht du leidest, sondern ich.“ Dann wurde er wieder ernst. „Wie gesagt, es ist schön, unter Freunden zu sein. Ich hätte nicht gedacht daß noch in diesem Jahr so große Veränderungen stattfinden. Aber ich freue mich darauf. Und danke, daß du bei uns bleibst.“ Fast wäre ich dann doch noch in Tränen ausgebrochen. Aber das hatte er nicht verdient. „Danke, daß ich dabei sein darf, John“ flüsterte ich ihm ins Ohr und als er tatsächlich grinste, fügte ich hinzu „so eine Lehrstunde über die Oscuro kann ich mir doch nicht entgehen lassen.“ Mit gespieltem Vorwurf antwortete er: „Na na, LaVerne, jetzt entdecken wir ganz neue Seiten an uns, was?“

Gabriel trat von hinten an mich heran und legte mir die Hände auf die Schultern. Obwohl es kühl in der Höhle war, strahlte er endlose Wärme aus. John sah zu uns auf, als Gabriel von hinten erst meine Jacke auszog dann den Pullover über meinen Kopf streifte. Sanft drückte er mich nach unten bis ich direkt vor Johns Mund landete. Meine Hand wanderte zu dessen Hemd und knöpfte es langsam auf. Dann kniete sich Gabriel hinter mich und während er meinen BH öffnete, drückte er mich weiter runter, so daß fast mein Gewicht auf Johns Mund ruhte. Ein leises Rascheln hinter mir, und Gabriel lehnte sich über meinen Rücken, eine Hand in Johns Haaren vergraben, die andere strich sanft an Johns Bein abwärts. Er hatte sein Seidenhemd ausgezogen und seine warme Haut lag wie glühende Lava auf meinem Rücken.

John hatte die Augen geschlossen, erwiderte aber zärtlich die Berührung meiner Lippen. Als ich mich löste, spürte ich seine leisen Atemzüge. Vorsichtig schob ich mich unter Gabriel zur Seite, bis ich hinter Johns Kopf kniete. Ich war Gabriel einen fragenden Blick zu, während ich langsam meine Hände an Johns Kopf abwärts gleiten ließ. Ich wußte, daß dies nicht für mich war, ich war hier nur Mittler. Gabriels Augen waren so dunkel, sie schienen das Licht zu verschlucken. Seine Aura strahlte. Ein leichtes Nicken beantwortete meine Frage. Sanft drückte ich John an den Schultern nach oben, bis er aufrecht saß. Die ganze Zeit hatte er die Augen geschlossen gehalten. Als ich langsam sein Hemd abstreifte und einen Kuß zwischen seinen Schulterblättern plazierte, hob Gabriel ein Bein über Johns Oberschenkel bis er ihm Auge in Auge gegenüber saß, gestützt auf seinen eigenen Beinen und Johns Oberschenkeln. Gabriel ließ seine Hände über Johns Brust gleiten, mit den Fingern eine Linie ziehend, bis er auf seinem Rücken angelangt war und seine Fingernägel in dessen Schulterblätter preßte. Ihre Gesichter waren sich jetzt so nah, Gabriel hatte die Augen leicht geschlossen, den Blick auf Johns geöffnete Lippen gesenkt. Langsam zog ich mich zurück, meine Jacke mit mir nehmend, bis ich mich mit angezogenen Beinen in Gabriel Blickrichtung niederließ. Der Anblick der zwei muskulösen Körper, am Anfang der Erregung, ließ meine Haut vor Verlangen brennen. Das es war nicht meine Zeit. Ich wurde geduldet, hatte das Privileg, etwas Unglaubliches mitzuerleben. Doch ich hätte gerne getauscht, egal mit wem.

Ich konnte Johns Gesicht nicht sehen, er saß aufrecht mit dem Rücken zu mir, während Gabriel mit den Fingern jeden Winkel auf Johns Körper inspizierte. John hob eine Hand und fuhr vorsichtig durch Gabriels Haare, folgte den Locken, bis sie auf dem Oberarm endeten. Mit dem einen Arm stützte er sich auf den Boden. Langsam ließ er den Kopf nach vorne fallen, bis er auf Gabriels Schulter ruhte, das Gesicht in dessen Halsbeuge vergraben. Nach einer ganzen Weile, die einzige Bewegung schienen Gabriels Hände zu machen, griff dieser in Johns Nachen und zog ihn von seinem eigenen Körperweg.  Gabriel wartete, während er bewegungslos in Johns Gesicht sah – bis dieser zu ihm aufschaute. Er fand, wonach er suchte, ein tiefer, zärtlicher Blick erwiderte eine unausgesprochene Frage. Sanft aber bestimmt drückte er Johns Oberkörper auf den Boden zurück. Sein Arm geleitete ihn.

Gabriel streckte sich neben John aus, rollte sich zur Seite und zog John dabei heran, bis sie sich Körper an Körper gegenüber lagen, beide auf einen Arm gestützt. Gabriel glitt mit der Hand von Johns Rippen abwärts. Dort, wo die Unterhose begann, hielt er inne, drückte den Daumen in die weiche Stelle, wo der Hüfknochen endet, knapp unterhalb des Hosenbundes. Johns Körper spannte sich an, entspannte sich. Er griff mit der freien Hand in die Locken seines Gegenübers. Noch der Untersuchung des Skorpionstiches hatte John die Anzughose nicht mehr angezogen, und Gabriel schob bei jeder Bewegung seiner Hand den Bund ein wenig weiter runter. – Johns Hand stockte mehrfach, doch er hörte nicht auf, erst die Haare und dann das Gesicht des Mannes vor ihm zu berühren. Gabriel hielt ein und legte seine Hand über Johns Gesicht, strich sanft darüber und schloß mit seinen Fingern dessen Augen. „Gib dich deinem Körper hin“ flüsterte er leise und küßte ihn. Erst vorsichtig, dann, mit seiner Hand hinter Johns Kopf zunehmend fordernder. Beide hatten die Augen geschlossen, als langsam die Zärtlichkeit in Verlangen umschlug. John atmete schneller, den Kopf vor ihm näher, fester an sich pressend. Dann nahm Gabriel Johns Hand und zog sie langsam an seinem Körper herunter, bis er an dem Verschluß seiner Lederhose anlangte. Dabei verloren seine Lippen nie den Kontakt. Wieder zögerte John leicht, aber Gabriel forderte nicht. Er wartete und überzeugte mit vorsichtigen Berührungen auf  Johns Brust, Bauchnabel und Oberschenkel. John reagierte auf das Streicheln, er entspannte und öffnete Gabriels Hose und den Reißverschluß. Er spiegelte die Bewegungen des Mannes vor ihm wieder, strich über dessen Oberkörper bis er an den Hosenbund gelangte. Nach dem vorsichtigen Erkunden ihrer Körper kam Gabriels plötzliche Bewegung unerwartet. In einer einzigen geschmeidigen Bewegung stand er auf und zog ohne Mühe den etwas kleineren Mann mit sich. John hatte die Augen weit aufgerissen.

Die Vergiftung mußte schlimmer geworden sein, denn er schwankte und verlor das Gleichgewicht. Doch Gabriel hielt ihn. So standen sie einen Moment in der Umarmung Liebender voreinander. Als John sich gefangen hatte, drückte Gabriel dessen Kopf etwas zurück und ließ seine Zunge über den Adamsapfel gleiten. Seine Hände suchten langsam ihren Weg nach unten. Sie Lippen testen die Brustwarzen und wanderten hinter den Händen abwärts. Seine Zunge untersuchte Johns Bauchnabel. Gabriel sank auf die Knie, die Hände zogen dabei die Unterhose mit sich. Sein Mund folgte einer waagerechten Line von Hüftknochen zu Hüftknochen. Als seine Hände ohne die Hose über die Beine und die Oberschenkel bis zu seinem Gesäß zurück kehrten, legte John den Kopf in den Nacken und stöhnte leise. Obwohl sein steifes Glied einer Einladung gleich kam, umging Gabriels Mund es. Langsam kehrten Hände und Mund wieder nach oben. John hatte beide Hände auf die schwarzen Locken gelegt und sie endeten wieder in der Umarmung, ihre Lippen fanden sich. Diese Mal war es John, der forderte, sich an Gabriel preßte und dessen Lippen nach mehr verlangten. Dann legte er seine Hände auf die Hüften des größeren Mannes und schob mit einer festen Bewegung dessen Hose und Unterhose so weit runter, daß auch dessen Erektion befreit wurde. Er löste sich von Gabriels Lippen und flüsterte mit belegter Stimme: „Ich kann nicht tiefer, mein Bein gehorcht mir nicht mehr. Bitte hilf mir.“ Gabriel antwortete nicht, statt dessen zog er ihn fester an sich, verschloß seinen Mund wieder. Dann trat er einen Schritt zurück, brach den Kontakt.

Johns Augen brannten blaues Feuer, als er Hose und Unterhose den Rest des Weges herunter schob und langsam wieder auf ihn zu trat. „Heute Nacht werden wir Liebende sein. Eine Ewigkeit in Leidenschaft.“ Gabriels Stimme war tief und die Erregung ließ sie vibrieren. „Komm zu mir, mein Geliebter.“ Damit setzte er sich auf den Boden und half John, sich vorsichtig auf seine Oberschenkel zu setzen. So schauten sie sich in die Augen, der schwarze Rabe mit beiden Beinen auf dem Boden. Johns Beine lagen links und rechts von seinen Hüften. Gabriel stütze Johns Rücken von hinten, das Glied des einen eingeklemmt zwischen dem Körper des anderen. Wieder begann Gabriel, den andren Mann zärtlich zu küssen. John legte sanft die Arme auf seinen Rücken und griff in eine der langen Locken. Als er zog, hob Gabriel den Kopf und John legte seine Lippen auf dessen entblößten Hals. Vorsichtig biß er in die weiche Haut der Kehle. Gabriel schloß die Augen, legte den Kopf noch weiter zurück und jetzt kam aus seiner Kehle ein leiser Laut. Er griff unter das Gesäß des Mannes vor ihm und schob ihn unvermutet fest an sich heran. Der starke plötzliche Druck auf sein Glied ließ John erzittern. Mit der gleichen verzweifelten Leidenschaft, die wir auch geteilt hatten, grub er seine Fingernägel in Gabriels Rücken. Dieser reagierte mit einem weiteren Stoß. John forderte mehr. Er legte die Arme unter Gabriels Achseln und zog die Schultern zu sich heran. „Tue es jetzt, Gabriel!“ Die Worte waren gepreßt ausgestoßen, nicht vor Schmerz, oder einem anderen Schmerz. Sie kamen stockend mit dem langsamen Rhythmus, den Gabriel mit seinen Händen in seinem Unterleib diktierte. Gabriel legte seinen Mund an dessen Ohr, während er die Stoßbewegung verstärkte. „Sicher? Ich kann es nicht aufhalten, und es wird schmerzhaft, weil ich dich nicht vorbereiten kann.“ Doch dabei schob er John etwas weiter nach oben über sein steifes Glied. „Ganz sicher.. Ich habe kein Gefühl mehr in den Beinen… es ist schön …“ In der Stimme lag Schmerz, tatsächlich, aber nicht der, den eine Verletzung hervorruft. Der Schmerz nach der Erfüllung.

Mit den Daumen zog Gabriel die wartende Öffnung von John etwas auseinander und als die Spitze seines Gliedes in Position war, ließ er ihn unendlich langsam abwärts gleiten, ohne selber aufwärts zu stoßen. Trotzdem wuchs sein Begehren, er hob den Kopf, öffnete den Mund und atmete schwer aus. Seine Augen waren groß und verschleiert. Und der schwarze Schatten um ihn schien zu wachsen bis er fast die ganze Höhle einnahm. Und während ich ihn ansah und er langsam in John eindrang erlebte ich mit, wie seine Eckzähne wuchsen, bis sie wie bei einer Giftschlange fast zwei Zentimeter länger waren. Aus Johns Kehle drang ein tiefes Stöhnen, eine Mischung aus Schmerz und Erwartung.

Gabriel drang bis zum Schaft in ihn ein, bewegte sich dann nicht mehr. Doch John zog sich mit den Armen an ihn. Ihre Brüste trafen aufeinander und John schrie durch die starke Bewegung auf. Sein Kopf fiel nach hinten. Dann begann Gabriel, sich langsam in John zu bewegen. Dessen ganzer Körper zitterte. Gabriel hob den Kopf, sanft umfaßte er den zitternden Mann. Sein Atem kam stoßweise und auch er wurde von kleinen Schauern geschüttelt. Dann traf mich sein bewölkter Blick. „Hilf mir, schwarze Rose.“ Seine Stimme verriet endgültig seine Erregung. „Ich verliere gleich die Kontrolle und er wird schwächer.“ Seine Bewegungen wurden schneller. Ich kroch zu den beiden eng umschlungenen Männern. Mein Blick ging fragend vom ihm zu John. „Halte ihn fest, ich kann uns nicht beide stützen.“ Also kniete ich hinter John, bis sein Rücken an meiner Brust ruhte. Meine Berührung schickte einen weiteren Schauer durch seinen Körper. Gabriel stöhnte auf bei dem unerwarteten Druck auf sein Glied. Er ließ eine Hand von Jahn ab und stützte sich hinten auf. Ich faßte um John herum, bis ich fast hinter Gabriels Rücken angelangte. Über Johns Schulter näherte er sich meinem Gesicht. Ich legte meinen Kopf sanft an Johns und dann fand mich der Mund, der nach John schmeckte, und nach Gabriel. Vorsichtig tastete meine Zunge an den spitzen Zähnen vorbei. Wir hielten Johns Körper zwischen uns und Gabriel unterbrach seine Stöße nicht. Doch John verlangte nach mehr, er wollte alles. Mit einem Stöhnen bäumte er sich auf. Gabriels Zähne ritzten meine Unterlippe ein doch ich fühlte es nicht einmal. Nur Johns bebenden Körper und Gabriels harte Stöße. Dann schloß Gabriel die Augen und stieß seine Zähne bis zum Anschlag in Johns Schulter neben meinem Kopf. Unkontrolliert pumpte er in John, während Blut aus dessen Wunde floß. Es glänzte bösartig und schwarz in der fast unbeleuchteten Höhle. Gabriel ‚trank‘ nicht viel von dem Blut. John schrie laut auf, aber es war kein Schmerz in diesem Laut. Mit einem plötzlichen Aufbäumen kam er zwischen seinem und Gabriels Körper zum Höhepunkt. Beide führten den Rhythmus fort, bis John langsam den Kopf hob. Er wirkte schwach aber unendlich glücklich. Gabriel fuhr mit seiner Zunge über die Wunde und die Blutung stoppte augenblicklich. Seine Lippen waren rot aber die Zähne hatten fast ihre normale Länge wieder angenommen. Zärtlich legte er die Hand hinter Johns Kopf und zog ihn ganz nah zu sich heran: „Ich liebe dich, John. Du hast den Kuß des Lebens empfangen. Jetzt ist es an dir, mir den Atem des Todes einzuhauchen.“ Damit küßte er ihn ganz sanft und ohne das Verlangen, das vorher zwischen ihnen gebrannt hatte.

Vorsichtig zog ich mich zu meiner vorherigen Position zurück. Gabriel hielt John fest umfangen, noch immer in ihm. So hielten sie sich eine ganze Weile fest. Dann legte Gabriel ihm eine unserer Jacken über. „Erhol dich ein paar Minuten.“ Er strich ihm zärtlich über die Wange und setzte sich dann neben mich, ohne Jacke und – wie ich nicht vermeiden konnte, zu bemerken – auch ohne Hose. Er schien nicht zu frieren.

„Danke LaVerne, das muß erschreckend gewesen sein. Ich habe noch nie eine solche Hilfe eingefordert. Aber er ist schon sehr schwach. Mein Gift wird ihm jetzt für eine Weile helfen.“

Nach einigen Minuten hörten wir Johns regelmäßige Atemzüge. Gabriel sah mich mit seinem unlesbaren Blick an. „Auch wenn du nicht fragst, ich sehe in deinen Augen, daß du nicht verstehst. Du sollst es wissen, weil du ein Teil davon bist. Also, ich sagte, die Umwandlung kann nicht ‚einfach so’ durch einen Biß erfolgen. Es geschieht in zwei Teilen. Der Kuß des Lebens ist der Anfang, den man als Schauergeschichte kennt. Tatsächlich entsteht in meinen Zähnen ein Gift, das dem Gebissenen einige Stunden auch solche Reißzähne beschert. Und eventuell Kopfschmerzen, die vergehen. Und später Vergessen. Die Zähne verschwinden nach einigen Stunden, mehr geschieht aber auch nicht. Die Zähne kann ich übrigens nicht gut kontrollieren. Sie wachsen durch sehr starke Emotionen, beim Liebesspiel und bei einigen anderen sehr intensiven Gefühlen. Sie berauben mich für kurze Zeit einem Teil meiner Kontrolle. Doch jetzt kommt der zweite Teil, der John töten und mit meinem Blut zum Leben erwecken wird. Es läuft darauf hinaus, daß wir noch einmal unsere Körper miteinander teilen werden und damit das Blut tauschen werden, den Atem des Todes. Wie gesagt, mein Gift ermöglicht es ihm, mich zu beißen. Das wird er tun und dann mein Blut trinken. Ich habe jetzt seines in meinem Körper und es wird gerade umgewandelt. Mein Blut ist jetzt für ihn wie ein tödliches Gift. Es wird sich in seinem Körper ausbreiten, sein eigenes Blut vernichten und mit verändertem Blut ersetzen. Und so wird er zu einem von uns, dadurch, daß er mein Blut nimmt.“ Er schwieg und starrte auf den Körper des friedlich schlafenden Mannes.

Ich fand die Vorstellung, daß Veränderung normalerweise an einen Akt der Liebe geknüpft war, sehr schön. Was wohl die anderen Arten waren, die Zähne hervor zu locken...? „Wird es weh tun? Ich meine den Blutaustausch.“ „Nein, er wird nach seinem Biß einschlafen und dann erfolgt die Veränderung. Und nur der angenehme Teil der Umwandlung wird auf Dauer in seinem Gedächtnis bleiben, das Gefühl von Verbundenheit, Vertrauen, Zuneigung.“ Dabei erschien ein leichtes Lächeln.  Gabriel schaute mich weiterhin an und die Temperatur in der Höhle stieg merklich an. Ich mußte unwillkürlich an Kolyas Worte über die erste Nacht denken. Als ob er meine Gedanken lesen könne, drehte er sich um, bis er direkt vor mir kniete. Er nahm meine Hand und sagte so leise, daß ich ihn kaum hören konnte: „vielleicht habe ich die Gelegenheit, mit dir einmal eine Nacht der Wandlung zu verbringen, meine schwarze Rose – oder ohne Wandlung. Das ist deine Entscheidung. – Doch jetzt müssen wir uns um John kümmern, die Umwandlung ist abgeschlossen.“

Er zog meine Hand an seinen Mund – dieser Mann kniete im Dunkeln nackt vor mir und schon voll bekleidet konnte ich ein Zittern in seiner Gegenwart kaum unterdrücken. Das war eindeutig fast zu viel. Bevor ich aber etwas Unbedachtes tun konnte, stand er zum Glück auf.

„Komm, hilf mir, ihn zu wecken, ich weiß nicht, ob mein Gift auf Dauer gegen einen magischen Skorpion stark genug ist.“

Gabriel kniete neben Johns Kopf und strich ihm liebevoll über die Wange. Ohne zu erschrecken wachte dieser auf und als er in Gabriels Augen über sich blickte, lächelte er. „Ich fühle mich gut. Und stark genug für den zweiten Teil der Reise.“ Damit setzte er sich langsam auf. Sein Blick fiel auf mich, die ich hinter Gabriel stand. Die blauen Augen strahlten in ungewohnter Intensität. „LaVerne, bleibst du bei uns?“

Gabriel drehte sich zu mir um, es war keine Frage in seinem Blick als er antwortete: „sie wird immer bei uns sein.“ Damit setzte er sich links neben John und deutete auf den Platz auf dessen anderer Seite. Langsam ging ich dort hin und setzte mich dazu.

„Komm Geliebter, es wird Zeit“, flüsterte er und nahm Johns rechte Hand. Er küßte sie, wanderte dann nippend den Arm hoch. Langsam legte er sich hin, nahm die Hand mit und legte sie auf seine Brust. Dann drehte er sich auf die Seite, weg von John, ohne die Hand loszulassen. Er kehrte ihm jetzt den Rücken zu, schaute in die Dunkelheit – der Höhle.

John legte sich neben ihn, linken Arm aufgestützt, die rechte Hand erforschte eigenständig die Vorderseite von Gabriel. Wanderte langsam und testend über die Rippen, am Nabel vorbei und grub sich in die Schamhaare. John warf mir über die Schulter einen Blick zu. Darin war die Ewigkeit geschrieben: er enthielt eine Bitte, eine Entschuldigung und Lust. Ich lächelte und strich sanft mit meiner Hand durch seine Haare. Er wand sich wieder Gabriel zu. Seine Hand tastete langsam weiter abwärts, bis er dessen steifes Glied fand und vorsichtig preßte. Gabriel reagierte mit einem leichten Stoß nach hinten. Doch auch John war erregt. Sanft stieß er damit nach vorne, während seine Hand Gabriel fest umschlossen hielt. Als John liebevoll an Gabriels Nacken knabberte, griff dieser hinter sich und zog ihn fester an sich heran. John erbebte ganz leicht und ließ Gabriel los. Dann nahm er dessen Bein und strich mit seinen Fingern an dessen Unterseite entlang, über dem Knie beginnend aufwärts. Gabriel gab einen kleinen Laut von sich und stellte das Bein auf, sein Gesäß stieß nach hinten gegen Johns Erektion. Dessen Finger wanderten aufreizend langsam an der Innenseite von Gabriels Schenkel hoch, bis er auf die weiche Haut unterhalb der Hoden traf. Gabriel ließ den Kopf zu Boden gleiten, etwas nach hinten geneigt und gab einen fast-Schmerzlaut von sich. „Oh John!“

Langsam rutschte John etwas tiefer bis seine Spitzte genau dort anstieß, wo Gabriel auf ihn wartete. Dieser faßte hinter sich und versuchte, John näher zu sich zu bringen. Doch der griff nach diesem Arm und legte ihn auf seinen Nacken. Dann wanderten die Finger seiner rechten Hand weiter nach vorne und preßten Daumen und Zeigefinger um den Ansatz von Gabriels Erektion. Gabriel zog den Kopf des Mannes hinter ihm fordernd zu sich heran. Dann drang John langsam in einer einzigen Bewegung in ihn ein. Gleichzeitig drückte er von vorne mit seiner Hand Gabriels Körper nach hinten zu sich zurück. Der zweite, festere Stoß führte John ganz hinein und entlockte ihm ein Stöhnen. Gabriels Unterleib zuckte vor und zurück, in die noch vorsichtigen Stöße von John und gleichzeitig in dessen Griff. John hob langsam den Kopf und ich konnte die langen Eckzähne deutlich sehen. Es war soweit. Zusammen mit seinem nächsten Stoß versenkte er sie in Gabriels Hals über der Schulter. Dieses Mal schrie Gabriel laut auf. John stieß hart und kraftvoll und immer schneller, bis er sich auf einmal verkrampfte. Sein Griff um Gabriel Glied wurde noch fester und als auch der kam, zuckten beide Körper unkontrolliert.

Die Bewegungen der beiden wurden langsamer und John hob den Kopf. Auch er hatte nur wenig Blut getrunken doch jetzt schaute er mit blutigem Mund zu mir rüber und lächelte. Die Wunde an Gabriels Hals blutete schrecklich. „Du mußt sie heilen“ flüsterte ich. „Er schmeckt so gut. Komm!“

Und er bot mir seinen Mund an. Die Zähne waren wieder normal, aber das Blut glänzte auf seinen Lippen. Als ich zögerte, ließ er Gabriel los und zog meinen Kopf zu sich heran.

Auch er schmeckte nach John und nach Gabriel, nach Blut – und nach Tränen. Als sich unsere Lippen berührten, spürte ich einen stechenden Schmerz in meiner rechten Hand. Als er mich endlich los ließ und liebevoll mit der Zunge über Gabriels Wunde strich, schaute ich auf meine Hand hinunter. Von dem Ring an meinem Finger ging ein leichtes, rötliches Glühen aus.

Rettung

At every dusk, our sins will be forgiven
To start a-new the lust and ecstasy
Into endless hunger we are driven
Come and feed yourself on me.

Wir lagen aneinander gekuschelt auf unserer Reisegarderobe, als ich aufwachte. Wie viel Zeit vergangen war, konnte ich nicht abschätzen. Die Fackeln waren erloschen.

 „John schläft noch, wecke ihn nicht. Er muß sich erst erholen.“ In der Dunkelheit konnte ich Gabriel mehr erahnen als sehen. Nachdem wir uns vorhin alle ziemlich erschöpft gefühlt hatten, waren wir – uns gegenseitig wärmend – eingenickt. Aber jetzt lag Gabriel nicht mehr neben mir, wie beim Einschlafen. Dennoch, und trotz der Dunkelheit, wenn ich mich konzentrierte, konnte ich ihn fast sehen.

 „Weißt du, wie spät es ist?“ „Es ist ungefähr vier Uhr Sonntag Nachmittag. Man hat uns mittlerweile gefunden. Lord Rodenby hat einen fahrbaren Kran angefordert, der aber erst gegen Abend kommen wird, aus offensichtlichen Gründen.“ Ich hörte ihn förmlich im Dunkeln lächeln. „Wie geht es dir, schwarze Rose?“ „Soweit ganz gut, ich hätte nicht gedacht, daß ich so lange schlafen und nichts mitbekommen würde. Ach ja, und ich habe Hunger.“ „Halte noch etwas durch. Daß John schläft, ist klar, aber du mußtest auch erschöpft gewesen sein. Hauptsache, du bist in Ordnung und wir kommen hier bald raus.“ Damit schwieg er und wir hingen eine Weile jeder unseren Gedanken nach. Einige Zeit später regte sich John dann auch endlich. Ich hörte mehr als daß ich sah, wie Gabriel zu ihm ging. „Alles ist gut, John. Wir sind bald raus hier. Schone dich möglichst.“

„Oh, mir ist übel und außerdem fühle ich mich furchtbar.“ Gabriel griff nach ihm und zog ihn näher zu sich heran. „Komm, ich kann dir nicht helfen aber das vergeht. Warte einfach.“

Auf einmal fühlte ich mich alleine. Dabei war die Tatsache, daß ich die beiden Männer, die sich in den Armen hielten, nicht wirklich sehen konnte, nur die halbe Geschichte: Ich gehörte nicht dazu. Etwas vielleicht, aber nicht völlig. Ich hatte begonnen, mein Herz für sie sprechen zu lassen, aber jetzt waren sie unendlich weit fort.

„LaVerne, was ist mit dir? Irgendwie siehst du verändert aus.“ Gabriels Stimme. Voller Sorge. Und Zuneigung. Vielleicht war ich doch nicht alleine?

„Ach, ich weiß nicht, eine kleine Höhlendepression vielleicht. Wird schon vergehen.“ Ich klang besser, als ich mich fühlte. Doch Gabriel war nicht zufrieden.

„Komm her, schwarze Rose. Gib uns deine Wärme und deine Liebe.“ Ein seltsamer Befehl. Aber ich folgte gerne, zumindest teilweise. Also tastete ich mich auf sie zu. Johns Kopf ruhte auf Gabriels Schoß und ich kuschelte mich in den Arm, den er mir wartend entgegen streckte. Wieso alleine? Die Schwingen des Raben waren doch um mich gelegt…

 

Ende Teil 1

 
 

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