GESELLSCHAFT FÜR BEDROHTE
VÖLKER Offener Brief
An Außenminister Joschka Fischer
Göttingen, den 17. März 2004
Nutzen Sie Ihre guten Beziehungen zur arabischen
Welt – helfen Sie das Blutvergießen an Syriens
Kurden zu beenden!
Sehr geehrter Herr Minister,
durch den von Ihnen initiierten
Gefangenenaustausch - von über 400 überwiegend
arabisch-schiitischen Hisbollah-Anhängern aus
dem Libanon gegen die Gebeine dreier gefallener
Israeli und einen israelischen Kaufmann – haben
Sie sich in der gesamten arabischen Welt
Vertrauen erworben, nicht zuletzt bei arabischen
Nationalisten. Zu letzteren gehört auch der
Diktator und Chef der syrischen Baath-Partei
Baschar al-Assad.
Seit vergangenem Sonnabend werden in Syrien
wieder Menschen – dieses Mal kurdische Kinder,
Frauen und Männer - gejagt und erschossen,
Schwerverwundete aus den Hospitälern verwiesen
und auf die Straße gesetzt, Hunderte, vielleicht
schon Tausende inhaftiert und Städte hermetisch
von der Außenwelt abgeriegelt. Schon am
vergangenen Sonntag hatten wir daran erinnert,
dass der Diktator Hafiz al-Assad vor knapp
zwanzig Jahren Unruhen der sunnitischen
Bevölkerung Hamas niedergeschlagen und dabei
etwa 50.000 Menschen vernichtet hatte. Das darf
sich nicht wiederholen.
Die syrischen Kurden in drei Nordregionen des
Landes zählen etwa zwei Millionen Menschen. Gut
200.000 von ihnen wurden ausgebürgert. Sie
müssen ohne Papiere leben, einige hundert von
diesen Kurden leben als Flüchtlinge in
Deutschland. In Syrien besitzt die kurdische
Minderheit keinerlei kulturelle oder sprachliche
Rechte, geschweige denn regionale
Selbstverwaltung. Syrien hält seit Jahren
kurdische wie arabische Bürgerrechtler
inhaftiert. Folter ist dort an der Tagesordnung.
Der Syrische Nationalrat für Wahrheit,
Gerechtigkeit und Versöhnung spricht von 60 bis
100 Opfern der syrischen Militärs und
Sicherheitskräften in den vergangenen Tagen. Die
israelische Zeitung Haaretz geht von über 100
Toten aus.
Gestern, am Dienstag, demonstrierten Kurden in
zahlreichen Städten Westeuropas und Nordamerikas
zum Gedenken an die 5.000 Giftgasopfer der
kurdisch-irakischen Stadt Halabja. In
Deutschland leben nicht nur 600.000 Kurden,
sondern auch 200.000 Deutsche kurdischer
Abstammung. Unsere Menschenrechtsorganisation
erinnert daran, dass deutsche Firmen seinerzeit
am Aufbau der irakischen Giftgasindustrie
beteiligt waren.
Auch in der kurdisch-syrischen Stadt Afrin
erinnerten gestern junge Menschen an Halabja.
Die Sicherheitskräfte des syrischen Diktators
eröffneten das Feuer auf die jungen Leute.
Mindestens fünf wurden erschossen, unter ihnen
die 18 Jahre alte Abiturientin A.L. (der
richtige Name ist uns bekannt), verwandt mit der
Familie des GfbV-Vorstandsmitgliedes Maria Sido.
Nach dem Telephongespräch lagen die Toten
gestern Abend noch auf der Straße, weil sich
niemand aus dem Hause traute und Assads Militärs
sofort scharf schossen. Nicht nur in Afrin gibt
es zahlreiche unzureichend versorgte Verletzte.
In der mehrheitlich kurdischen, auch von
assyrischen Christen bewohnten Stadt Kamischli
wurden 400 verwundete Kurden, unter ihnen viele
Schwerverletzte, von Soldaten aus dem Hospital
gewiesen. In Damaskus und Aleppo sollen Hunderte
von kurdischen Studenten festgenommen worden
sein.
Sehr geehrter Herr Minister, wir wissen, dass Sie bei Baschar al-Assad
Gehör
finden. Bitte nutzen Sie dieses Vertrauen, um Syriens Diktator zu
bewegen, die
Kurdenverfolgung in den Städten des Nordens sowie in Damaskus und Aleppo
sofort
einzustellen, die Inhaftierten freizulassen, die medizinische Hilfe für
Verwundete nicht weiter zu verhindern.
Beginnen Sie einen Dialog mit dem syrischen Regime im Sinne der
Demokratisierung, der Wiederherstellung des Rechtsstaates, der
Wiedereinb
ürgerung der 200.000 Kurden und der Gewährung von Bürger- und
Minderheitenrechten.
Wir senden dieses Schreiben als offenen Brief, damit unsere kurdischen
und
syrischen Freundinnen und Freunde in Deutschland davon erfahren.
Gleichzeitig
werden wir uns an die Fraktionen des
Bundestages, die zuständigen
Bundestagsausschüsse, die Kirchen und jüdischen
Gemeinschaften sowie den Islamischen Rat u.a.
mit der Bitte wenden, ebenfalls aktiv zu werden.
Mit freundlichem Gruß
gez. Tilman Zülch
Generalsekretär |