600 Jahre
Am 25. April, einem Freitagabend, bereitete die Reaktormannschaft von Tschernobyl-4 für den nächsten Tag einen Test vor, um zu sehen, wie lange sich die Turbinen noch drehen und Elektrizität produzieren, wenn die Stromversorgung ausfallen sollte. Es war ein gefährlicher Test, aber er war schon früher durchgeführt worden. Als Teil der Vorbereitung legte man auch einige wichtige Kontrollsysteme lahm - darunter die automatische Sicherheitsabschaltung.
Kurz nach 1:00 Uhr am 26. April nahm der Durchfluß des Kühlwassers ab, und die Leistung begann zu steigen.
Um 1:23 Uhr wollte der Operator den Reaktor in die niedrigste Leistungsstufe versetzen. Die vorhergehenden Fehler verursachten in einem Domino-Effekt eine enorme Leistungssteigerung, die zu einer Dampfexplosion führte, welche den 1000 Tonnen schweren Deckel des Reaktorgehäuses in tausend Stücke sprengte.
Einige der 211 Kontrollstäbe schmolzen, und eine zweite Explosion, deren Ursachen immer noch unter den Experten umstritten sind, warf Teile des brennenden radioaktiven Brennstoffkerns aus und ermöglichte damit das Eindringen von Luft. Dabei entzündete sich die Isolierung aus mehreren Tonnen von Graphitblöcken.
Wenn Graphit zu brennen anfängt, dann ist es fast unmöglich zu löschen. Es dauerte neun Tage und kostete 5000 Tonnen von Sand, Bor, Dolomit, Lehm und Blei, aus Hubschraubern abgeworfen, um das Feuer zu ersticken. Die Strahlung war so intensiv, daß viele dieser tapferen Piloten starben.
Es war dieser Graphitbrand, der die meiste Strahlung in die Atmosphäre beförderte und den beunruhigenden Anstieg der atmosphärischen Strahlung verursachte, der noch Tausende von Kilometern entfernt gemessen wurde.
Schuld waren unverzeihliche Fehler in der Konstruktion.
Die Ursachen des Unfalls werden als verhängnisvolle Kombination menschlicher Fehler und unausgereifter Technologie beschrieben. Andrej Sacharow sagte, der Tschernobyl-Unfall zeige, daß unser System nicht mit der modernen Technologie umgehen könne.
Entsprechend der langen Tradition der sowjetischen Justiz wurden einige der Leute, die während der betreffenden Schicht gearbeitet hatten, inhaftiert – ob sie nun schuld waren oder nicht. 25 Leute dieser Schicht starben.
Die Strahlung wird im Tschernobyl-Gebiet noch Zehntausende von Jahren erhöht bleiben, aber Menschen könnten schon in 600 Jahren – plus/minus drei Jahrhunderte - dieses Gebiet wieder besiedeln. Die Experten sagen voraus, daß bis dahin die meisten gefährlichen Elemente verschwunden oder ausreichend in Luft, Erde und Wasser der restlichen Welt verteilt sein werden. Wenn unsere Regierung irgendwoher das Geld und den politischen Willen zur Finanzierung nötiger wissenschaftlicher Forschung findet, dann wird vielleicht ein Weg gefunden, die Verseuchung schon früher zu neutralisieren oder zu beseitigen. Andernfalls müssen unsere entfernten Nachfahren so lange warten, bis die Strahlungswerte auf einen annehmbaren Pegel sinken. Wenn wir die optimistischste wissenschaftliche Schätzung nehmen, dann wird das in 300 Jahren sein... Andere Wissenschaftler sagen, dass es sogar 900 Jahre dauern könnte.
Ich denke, es werden 300 sein, aber man wirft mir oft vor, daß ich eine Optimistin bin.
Ich erinnere mich...
In der ukrainischen Sprache ist Tschernobyl der Name eines Krautes, Wermut (Absinth). Dieses Wort verbreitet Schrecken unter den gläubigen Leuten hier. Vielleicht zum Teil auch, weil die Bibel Wermut in den Offenbarungen des Johannes erwähnt, der das Ende der Welt prophezeit...
Offb. 8:10: Der dritte Engel blies seine Posaune. Da fiel ein großer Stern vom Himmel; er loderte wie eine Fackel und fiel auf ein Drittel der Flüsse und auf die Quellen.
Offb: 8:11 Der Name des Sterns ist „Wermut“. Ein Drittel des Wassers wurde bitter, und viele Menschen starben durch das Wasser, weil es bitter geworden war.
Wenn man das Wort auseinandernimmt, bedeutet in unserer Sprache „tscherno“ „schwarz“, und „byl“ bedeutet „Schmerz“. Wenn ich jemandem sage, daß ich nach „Tschernie“ fahre, dann höre ich bestenfalls die Antwort: „Bist du verrückt?“
Mein Vater sagt, daß die Menschen Angst vor dieser tödlichen Sache haben, die man nicht sehen, nicht fühlen und nicht riechen kann. Vielleicht weil diese Worte auch den Tod selbst beschreiben.
Mein Vater ist Kernphysiker, und er hat mir viele Dinge beigebracht. Ihm macht die Geschwindigkeit meines Motorrads mehr Sorgen als das Ziel, das ich damit ansteuere.
Meine Ausflüge nach Tschernobyl sind kein Spaziergang im Park, aber die Risiken sind kalkulierbar. Manchmal fahre ich allein, manchmal mit Sozius, aber niemals in Begleitung eines anderen Fahrzeugs, weil ich nicht will, daß jemand Staub vor mir aufwirbelt.
Im Jahre 1986 war ich ein Schulmädchen. Als die Strahlungswerte in Kiew anstiegen, setzte mein Vater uns alle in den Zug zur Oma. Oma lebt 800 Kilometer entfernt von hier, und mein Vater wußte nicht, ob es weit genug wäre, um uns alle aus der Reichweite des großen bösen Wolfs der nuklearen Schmelze zu bringen.
Die kommunistische Regierung bewahrte Stillschweigen über den Unfall. In Kiew zwang man die Leute, an der idiotischen Parade zum Tag der Arbeit am 1. Mai teilzunehmen. Zu dieser Zeit drangen die ersten Nachrichten über den Unfall zu den normalen Leuten durch – sie hörten es von ausländischen Radiosendern und von Verwandten derer, die gestorben waren. Die richtige Panik begann sieben bis zehn Tage nach dem Unfall. Diejenigen, die in den ersten zehn Tagen nach dem Unfall, als er noch Staatsgeheimnis war, den außerordentlich hohen Strahlendosen ausgesetzt gewesen waren, einschließlich ahnungsloser Besucher dieser Gegend, sind gestorben oder bekamen ernsthafte gesundheitliche Probleme.
Richtung Norden.
Es ist Zeit loszufahren. Das ist unsere Straße. Wir werden nicht viele Autos auf diesen Straßen begegnen. Diese Gegend hat einen schlechten Ruf, und Menschen versuchen sich hier nicht aufzuhalten. Je weiter wir fahren, desto billiger das Land, desto weniger Leute und desto mehr schöne Natur... genau umgekehrt wie überall sonst auf der Welt... und ein Vorgeschmack auf die Dinge, die noch kommen werden.
Als wir Kilometer 86 passieren, sehen wir ein riesiges Ei. Es markiert den Punkt, an dem die uns bekannte Zivilisation endet und die Tschernobyl-Reise beginnt.
Jemand hat das Ei aus Deutschland hergebracht. Es steht für das LEBEN, das die harte Schale des Unbekannten durchbricht. Ich bin mir nicht sicher, ob diese Symbolik ermutigend ist oder nicht. Auf jeden Fall macht es die Menschen nachdenklich, und für uns ist das die letzte Möglichkeit, eßbare Nahrung, trinkbares Wasser und unkontaminierten Kraftstoff einzukaufen. Unsere Reise ist ab hier ein allmählich dunkler werdendes Bild verwüsteter Städte, leerer Dörfer und toter Bauernhöfe...
Die Strahlung wirkte ungleichmäßig, wie auf einem Schachbrett; manche Orte blieben am Leben, andere mußten sterben. Es ist schwer zu sagen, wo das Märchenland anfängt.
Für mich beginnt es hinter dieser Brücke. Das ist ein ausgestorbenes Dorf, 60 Kilometer westlich vom Reaktor gelegen.
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