ANMACHE

"Verstehst du, der einzige Grund, wieso ich von zuhause abgehauen bin, waren die Männer, die ich getroffen habe. Ich konnte sie nicht leiden." Eine junge, hübsche Frau erzählt ihre Geschichte, während sie in der Zelle auf und ab geht:

"Die Jungs in meinem Dorf waren allesamt Spitzensportler, bestens trainiert für die Weltmeisterschaft im Saufen und Pennen. Wenn es Sich-bewußtlos-Saufen als olympische Disziplin gäbe, wären alle meine Freunde Goldmedaillenanwärter. Und was hatte ich zu bieten? Bei mir hieß es nicht: intelligent oder schön. Ich hatte beides. Ich wollte auch keinen Prinzen oder Weltraumfahrer, ich wollte einfach nur einen richtigen Mann... Und ich wollte Schauspielerin werden..."

Das Mädchen bleibt am Fenster stehen und schaut nach draußen. Das Gefängnis befindet sich in einem Industriegebiet, und sie kann nur Fabrikschlote und flache Dächer sehen. Diese Aussicht genießt sie nun schon seit fast sechs Monaten. Man nennt sie Ludy. Ihr Publikum ist eine Frau, eine Zellenkollegin, die erst gestern hier angekommen ist.

"Ich bin nicht in die Stadt gegangen, weil ich es mir leicht vorgestellt hätte", fährt Ludy fort. "Ich mußte mir meinen Lebensunterhalt verdienen und fand einen guten Job als Kellnerin in einem schicken Nachtclub. Groß und schlank, mit Manieren, Stil, Persönlichkeit – ich war durchaus begehrt in den besseren Kreisen, aber dank meines finsteren Humors, meiner Traute und meiner kleinstädtischen Offenheit hatte ich nie Beziehungen mit reichen oder wichtigen Männern. Ich wirkte unliebenswürdig, aber das war eben meine Art, mit dem Leben umzugehen, weißt du. Wenn mich ihr ewiges Einkommen oder ihre Eroberungen langweilten, erzählte ich ihnen, wie viele Waschschüsseln und Nachttöpfe ich in meiner Aussteuer hätte... Manche nennen das ,Charakter‘, aber mir hat meiner mehr geschadet als genützt.

Den Job habe ich schließlich verloren, und dann fand ich Arbeit in einer Bar in einem Teil der Stadt, wo man nur durch den Park gehen kann, wenn man sein Geld in einer Socke versteckt. Du kannst es dir vorstellen; die Parks, in denen man leicht mal ausgeraubt wird. Ich stellte mich geschickt an und bekam viel Trinkgeld. Bei diesem Job blieb ich, aber meinen Traum, Schauspielerin zu werden, verlor ich nie aus den Augen.

Ich versuchte sogar, auf eine Varieté-Schule zu kommen, aber ich hatte weder Beziehungen noch besonders Talent zum Singen und Tanzen, und so wurde ich abgelehnt."

Ludy schaut ihre Mitinsassin an, sieht, daß sie zuhört, und fährt fort. "Okay, einmal bin ich zu einem Filmstudio gegangen. Ich hatte ein Sommerkleid an und stand zwischen anderen Leuten und Fans und schaute zu, wie Leute sich den Film ansahen. Jemand kam zu mir und fragte, ob ich zum Film wollte; er sagte, er sei ein Produzent, raspelte Süßholz und fragte, ob ich ihn gerne näher kennenlernen wollte... Aus meinem Job kenne ich jede Menge blöder Anmachen. Diese war etwas anders als die anderen, sie berührte den heiligsten Teil meiner Träume. Ich setzte alle Hoffnungen auf den Typ, und wir gingen nach oben. Er öffnete eine Tür, und wir schlossen uns in einem Raum ein, wo ich für ihn Klavier spielte. Später hat er dann hinter dem Klavier seine Träume wahrgemacht...

Am nächsten Morgen ging ich zu dem Filmstudio und sah meinen neuen Freund, wie er Bäume pflanzte. Er war kein Filmproduzent, sondern Gärtner. Als er mich sah, lächelte er und sagte, auch er hätte mal den Traum gehabt, Filmschauspieler zu werden. Er konnte seine kleine Rede nicht zu Ende führen, weil ich ihm eine Schaufel über den Schädel zog. Er kam ins Krankenhaus, ich in den Knast. Morgen ist mein letzter Tag hier, und ich kann’s kaum erwarten, rauszukommen." Ein paar Minuten schweigen beide; Ludy hängt ihren Gedanken nach.

"Es tut mir nicht leid", sagt sie. „Mir tun nur die Dinge leid, die ich nicht getan oder wenigstens versucht habe. Dieses halbe Jahr Pause habe ich gebraucht in meinem verrückten Leben, ich mußte zu mir kommen und meine Gedanken sammeln." Ludy geht zum Spiegel.

"Ich habe hier und da ein paar Pfund abgenommen. Meine Figur ist in Bestform. Ich habe keinen Bauch mehr." Sie bewundert sich im Spiegel. "Der Bauch ist weg, dank der Knastdiät. Das bedauere ich doch etwas. Mein Bauch war sehr sexy, hat man mir gesagt, für manche war er das Zentrum des Universums. Die Männer haben sich gerne darin vergraben. Schade drum!"

"Mach dir um deine Pfunde keine Sorgen“, sagt die neue Zellengenossin, „in deinem Alter nimmt man leicht wieder zu. – Und was hast du nun vor, wenn du rauskommst?"

Ludy denkt kurz nach. "Mit meiner Ausbildung könnte ich sicher in einem Büro anfangen, aber ich mag in meinen Beruf nicht arbeiten. Ich bin keine Karrierefrau. Der kleine Teufel in mir will immer da sein, wo etwas los ist, in Minirock und mit dem Trinkgeld in einer Socke... Ich gehe wieder in die Barszene zurück."





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