DER MANN UND DIE SONNE

Max wacht auf, atmet und öffnet vorsichtig seine Augen. Dieser harmlose Reflex schaltet plötzlich den Schmerz in seinem Kopf, seinem Magen und seiner Blase ein. Im Halbdunkel schaut er auf seine Uhr. Es ist 6 Uhr 30. Er weiß, dass es Zeit ist, sich für die Arbeit fertigzumachen und dieser Gedanke entfacht eine Welle der Hoffnungslosigkeit. Max ist ein Gefängniswärter. Es ist der beste Job, den er finden konnte. Er weiß, dass er ein anständiger und vernünftiger Mann ist, der aber seine Tage eingesperrt mit Dieben, Mördern und Perversen verbringt. Er kann sich keine eigene Wohnung leisten und lebt mit seinem jüngeren Bruder Alexei zusammen. Als er sich im Bett aufrichtet, kann er sich vage an einen Nachmittag erinnern, an dem er, in einem nahegelegenen Gartenlokal, zuerst Bier und dann Wodka mit Alexei getrunken hat. Es gibt keinen Grund zu versuchen sich an mehr zu erinnern.

Sie können jeden in der Nachbarschaft über Max fragen und sie werden Ihnen erzählen, dass er ein Verlierer, ein Verrückter und ein Trinker ist. Die einzige Person, die diese Meinung nicht teilt, ist Max. Er hält sich für einen gewitzten und schlagfertigen Burschen, der gut aussehend und charmant ist und der eine gute Partie für jede Geschäftsfrau sein würde. Er würde zugeben, dass er manchmal zu viel trinkt, obwohl er sicher ist, dass Alkohol kein Problem ist.

Wenn er seine Uniform angezogen hat, betrachtet er sich im Spiegel und er sieht sein durchhängendes Gesicht. Er riecht seinen eigenen Atem und fühlt sich wackelig. Er ist noch betrunken. "Warum bin ich noch betrunken", fragt er sich selbst. Dann lehnt er sich näher an den Spiegel, um sich eingehender zu betrachten. Die Dinge sind nicht wie sonst an diesem Morgen.

Max geht langsam in Richtung Gefangenenlager und Arbeitsplatz. Obwohl seine Arbeitsstelle nur ein paar Minuten entfernt liegt, verspätet er sich oft. Das Problem ist, dass er am Gartenlokal vorbeigehen muss und das ist nicht einfach, besonders nach dem Zahltag, wenn Max Bargeld in seiner Tasche hat. Er wünscht sich, dass sein Weg nicht am Café vorbeiführen würde, aber es gibt nur eine Straße. Er bleibt an der Straßenecke stehen und sagt zu sich selbst: "Ich muss schnell vorbeigehen. Ich darf nicht stehen bleiben, um eine Flasche Bier zu trinken." Er denkt an den Tag im letzten Monat, als er Bier getrunken hatte und nicht zur Arbeit gegangen war, weil es immer ein Bier mehr zu trinken gab.

Er betrachtet den Horizont, während er an der Straßenseite steht und er sieht den Rand der Sonne. Für einen Moment denkt er über die ewige Frage nach, ob sich die Sonne um die Erde oder die Erde um die Sonne dreht. Er kann nur an diese Frage denken. Sein herumtastender Verstand kann keine Antwort hervorbringen. Er ist Minuten von seinem Arbeitsplatz entfernt, er starrt den Horizont an und alles, was er tun kann, ist wie angefroren dazustehen, während die großen Fragen des Lebens in seinem Kopf herumschwirren.

Dann ist er vollkommen verwirrt. Irgendetwas stimmt nicht mit der Sonne. Was kann falsch sein? Die Sonne ist die Sonne, der gleiche unveränderliche Himmelskörper, den er jeden Tag sieht. Aber heute stimmt etwas ganz sicher nicht mit der Sonne. Irgendetwas stimmt mit den Leuten nicht. Und etwas stimmt mit dem Licht auf der Straße nicht.

Max möchte in das Café rennen und eine große Menge Bier und Wodka trinken, damit das schreckliche Gefühl verschwindet. „Alles ist verrückt und steht auf dem Kopf. Wie kann ich vorbeigehen, ohne anzuhalten, um nur ein Bier, zur Beruhigung meines Verstandes, zu trinken? Wie werde ich rechtzeitig zu meiner Arbeit kommen?“ Dann schnauft er.

Er betrachtet blinzelnd die Sonne am Horizont und zu seinem Entsetzen stellt er unerwartet fest, dass die Sonne ihre Richtung geändert hat. Die Zeit rennt rückwärts. Die Sonne geht nicht auf. Sie geht unter. Es ist nicht Morgen. Es ist Abend. Dann, als ob Scharen von Engeln alles offenbart hätten, ergibt alles einen Sinn und das Universum ist wieder richtig.

„Ich habe nur ein paar Stunden geschlafen,“ denkt er. „Deshalb bin ich immer noch betrunken! Alexei und ich haben getrunken und ich bin für ein Nickerchen nach Hause gegangen!“

Niemals hat ein begnadigter Gefangener eine solche Freiheit gefühlt. Niemals hat sich ein Kind mehr über ein Geschenk gefreut. Die Last von Max`s Job verschwindet wie Dampf aus einem Kessel. Seine Realität ist jetzt eine grenzenlose Bestätigung von Freiheit und Anerkennung. Max lacht freudig und schreitet grinsend Richtung Café und einer guten Nacht männlichen Trinkens.





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