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25.09.: Ein Vorkämpfer der Schwulenbewegung


"Hundert Jahre Schwulenbewegung'' hieß eine Ausstellung, die im Sommer 1997 in der Berliner Akademie der Künste zu sehen war. Sie sollte an die Gründung des "Wissenschaftlich-humanitären Komitees'' erinnern, das der Berliner Sexualforscher Magnus Hirschfeld im Jahr 1897 ins Leben gerufen hatte, um für die Abschaffung des Homosexuellenparagrafen im Deutschen Strafgesetzbuch zu kämpfen.

Doch eigentlich hätte man dreißig Jahre früher ansetzen und als Stichtag den 29. August 1867 wählen müssen. Damals eröffnete ein Mann namens Karl Heinrich Ulrichs die Geschichte der homosexuellen Emanzipationsbewegung mit einem Paukenschlag. Er sorgte auf dem Deutschen Juristentag in München für einen Eklat, als er dort öffentlich für die "reichseinheitliche Straffreiheit gleichgeschlechtlicher Beziehungen'' plädierte. Das war den versammelten Herren zu viel; durch laute Zwischenrufe nötigten sie Ulrichs zum Abbruch seiner Rede. Dennoch hatte er damit ein Tabu gebrochen.

Wer war dieser Ulrichs, den der Frankfurter Sexualwissenschaftler Volkmar Sigusch den "ersten Schwulen der Weltgeschichte'' genannt hat? In der Buchhandlung Erlkoenig machte der Münchener Historiker Wolfram Setz seine Zuhörer mit Ulrichs' Leben und Werk bekannt und berichtete darüber, wie man in München an diesen Pionier der Homosexuellenemanzipation erinnert.
Immerhin wurde dort inzwischen ein öffentlicher Platz nach Ulrichs benannt. Doch München war nur eine Station im unruhigen Leben des 1825 im ostfriesischen Aurich geborenen Juristen, Privatgelehrten und Schriftsteller. Trotz hervorragender juristischer Qualifikationen schied er 1854 aus dem öffentlichen Dienst des Königreichs Hannover aus, um einem Disziplinarverfahren wegen "Erregung öffentlichen Ärgernisses'' zuvorzukommen. Das bedeutete nichts anderes als: Berufsverbot wegen Homosexualität.

Obwohl sich Ulrichs im Folgenden mit Gelegenheitsjobs herumschlagen musste und nie über ein geregeltes Einkommen verfügte - mit der Diskriminierung wegen seiner sexuellen Neigungen wollte er sich nicht abfinden. Er begann eine publizistische Tätigkeit, die nur ein Ziel hatte: die rechtliche und soziale Gleichstellung homosexueller Männer.
Zunächst unter einem Pseudonym, später unter eigenem Namen veröffentlichte er insgesamt zwölf Bücher unter dem übergreifenden Titel "Forschungen über das Rätsel der männlichen Liebe''. Er fand Leser vor allem im gebildeten Adel und Bürgertum, und zwar weltweit. Auch als Dichter versuchte er sich, schrieb Novellen und besang in griechischen Versmaßen die "schwellenden Glieder'' von Matrosen und Soldaten.

Als Ulrichs 1867 seine Rede auf dem Münchner Juristentag hielt, gab es den Begriff Homosexualität noch nicht. Ulrichs hatte sich für die Bezeichnung "Uranismus'' entschieden; die männerliebenden Männer nannte er "Urninge''. Tastend versuchte er eine eigene Theorie der gleichgeschlechtlichen Liebe zu entwickeln.
Sah er da zunächst einen "animalischen Magnetismus'' am Werk, so sprach er später von der "weiblichen Seele im männlichen Körper''. Schließlich gab er das Klassifizieren auf und postulierte eine gleitende Skala von sexuellen Orientierungen und Identitäten, die schon den Ansatz des amerikanischen Sexualforschers Alfred C. Kinsey vorwegnimmt.
Es überrascht daher nicht, dass Ulrichs in den USA als Vorkämpfer für die Gleichberechtigung der Homosexuellen gewürdigt wird, wie Wolfram Setz zu berichten wusste. Inzwischen gibt es sogar eine Website über ihn.

Doch es gebe in dieser Geschichte auch einen Bezug zu Stuttgart, teilte der Referent aus München seinen Zuhörern im Erlkoenig mit. 1880 kehrte Karl Heinrich Ulrichs Deutschland endgültig den Rücken und suchte im freieren Italien sein Glück. Er starb 1895 in Aquila in den mittelitalienischen Abruzzen und liegt dort auch begraben. Doch in den Jahren davor zwischen 1870 und 1880 hat er in der Silberburgstraße Nr. 102 im Stuttgarter Westen gewohnt. Für neugierige Lokalhistoriker gibt es da also vielleicht noch einiges zu entdecken.

Von Rolf Spinnler

(Quelle: Stuttgarter Zeitung, 25.09.2000)

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