Matthias Zschokkes drittes Theaterstück trägt den ingeniösen
Titel Die Alphabeten (Uraufführung: 25. September 1994 in Bern - Deutsche
Erstaufführung: 1. Oktober 1994 am "Deutschen Theater"/ Berlin).
Auch diesmal bleibt der Autor, der für dieses Stück mit dem Gerhart-Hauptmann-Preis
1992 ausgezeichnet wurde, seinem General- & Lieblingsthema treu, und
das lautet: die bleierne Schwerkraft der Verhältnisse. Aber, auf dem
Theater zumindest, bringt er sie zum Tanzen, mit Phantasie & Komik.
Eine Literaturpreisverleihungsfeier. Die Szene ist eine zum "Kulturzentrum
umfunktionierte GOTISCHE KIRCHE". Ein Literaturverweser namens Dr.
Samuel Seet präsentiert die gekürte Jungautorin Susanna Serval.
Das edle Raubtier gibt sich widerborstig in der Dankesrede: ein Mädel
aus der Vorstadt (Nestroy), hochgespült vom Literaturbetrieb.
Nachdem die kulturelle Notdurft befriedigt ist, verlangt die leibliche ihr
Recht: vor den Klos kommt es zu einem Stau. Mit vulgärer Eleganz inszeniert
Zschokke einen Toiletten-Slapstick. Kultur-Groupies, Kunst-Dunstkreis-Existenzen
treibt es vom kalten Buffet zum Abort, die preisgekrönte Autorin kriegt
Ohrfeigen vom Establishment. Wen feiern Preisverleiher eigentlich: die oder
den Ausgezeichnete/n- oder sich selbst?
Immerhin sind bei der repräsentativen Kulturveranstaltung auch noch
zwei Menschen anwesend, die in direkter Verbindung mit dem gemeinen Leben
stehen: ein JUNGER MANN (22), der Martin heißt (und ein Schlawiner
& Filou ist) sowie eine veritable (Kriminal-)KOMMISSARIN, mit dem eventuellen
(unvergeßlich schönen) Namen Baltensberger. Beide sorgen für
eine gewisse "normale" Ausgewogenheit unter Zschokkes Bühnenpersonal.
Die Preisverleihungsfeier dauert ein Viertel des Stücks. Dann schwebt
erst einmal am Bühnenhimmel eine barocke Deus-ex-machina-Wolke vorbei,
auf welcher FRITZ-DER-VERBRECHER sitzt. Er ist ein Bruder der spannenden
Kommissarin und berichtet von noch spannenderen Verbrechen, die er beging,
ehe er sich nach Südamerika absetzte. Eine Wolke später sitzt
er hinter Gittern. Später räkeln sich dann noch Martin und Dr.
Seet auf Wolken. Mehr oder weniger komfortable Wolkenkuckucksheime: Imaginationen
der Susanna Serval.
Und wie nun fort zu Lande, auf dem Boden der schwankenden Realitäten?
Im Zeitraffer: Fräulein Serval darbt in ihrer dunkel-feuchten Souterrainwohnung.
Martin bandelt mit der Jungpoetin an, lockt sie ins Freie. Fräulein
Serval findet Einlaß in Dr. Seets saturierte Privatsphäre ("Beletage,
Parkett, Bücherwände"), sogenannte tiefe Konversationen,
bei denen aus der Tiefe auch immer wieder die Kommissarin auftaucht.
Fräulein Serval und ihr Meister in einem "Tanzpalast". Fräulein
Serval auf dem Rummelplatz als Horváth-Schießbudenfigur, mit
der klassischen Nummer Susanna im Bade, frei nach Bibel und Rembrandt, angezettelt
von Martin- aus Übermut und für ein paar Mark. Und Dr. Seet, er
echauffiert sich darüber maßlos: die erlebte Geschmacklosigkeit
verschlägt ihm den Appetit. Muß ins Krankenhaus, der so arg gebeutelte
Kultursuppenkasper. Aber selbst im "Barocksaal" des Hospitals
verweigert er die Nahrungsaufnahme, selbst im gewohnten kulturträchtigen
Ambiente mundet das "Kalbsbries mit zerlassener Salbeibutter und Mangoldschaum"
nicht mehr.
Danach folgt noch eine Satyrspiel-Szene: Auf einer "PREISVERLEIHUNGSWOLKE"
kann nun auch der nichtsnutzige Martin nicht mehr den kulturellen Fallenstellern
entkommen. Prompt sind ebenfalls die alten Literatur-Groupies zur Stelle.
Alle sehen inzwischen ein bißchen tot aus. Aber das Kulturtitanicorchester
schrammelt stoisch weiter. Bis in alle Ewigkeit.
"Die satirisch-kabarettistische Oberfläche täuscht, denn
hier liegt eine ganz und gar schwarze Komödie vor, mit viel Scherz,
Satire und schreckensstarrer Melancholie. Ein Jux mit Gänsehaut, in
dem die Fröhlichkeit des Aschermittwochs herrscht", schrieb der
Theaterwissenschaftler Klaus Völker über das Stück, dem er
eine mit Franz Molnárs Liliom vergleichbare "Leichtgewichtigkeit"
attestierte.
Die Alphabeten- auch eine Groteske. Eine Literatur-Farce. Gewiß. Und
doch wesentlich mehr. Mühelos transzendiert Zschokke das Thema seines
Stückes- der Literaturbetrieb als Metapher.
Ähnlich verfuhr Alexander Kluge in seinem Film Die Artisten in der
Zirkuskuppel: ratlos (wo es ja auch nur eher beiläufig um Zirzensisches
geht).
Das Sesam-öffne-dich!-Zauberwort zum Verständnis von Zschokkes
Theaterstück heißt: DAS LEBEN. Ob sie die (mittlerweile zur Phrase
heruntergekommene) Altfrankfurter Maxime, es gebe kein richtiges Leben im
falschen, nur ahnen oder auch kennen, so umkreisen Zschokkes Theaterfiguren
unablässig vitale Probleme. Mühsam buchstabieren sie herum im
Alphabet des Lebens und versuchen, die Hieroglyphen des Lebens zu entziffern.
Verzweifelte Lebensleser, diese Alphabeten.
Die ,Kulturenthusiasten' haben durch ihre Idolatrie a priori eine originäre
Identität verspielt; die Jungschriftstellerin ringt noch um ihren existentiellen
Status: "...kein Leben überhaupt, sondern Lebensdarstellung?!
Und ich kann die Rollen nicht! ...und gönnte dem Leben nicht den Triumph,
an ihm zu zerbrechen..."; Fritz-der-Verbrecher hat das ,total andere
Leben' gewagt, das kriminelle, muß also zwangsläufig bestraft
werden; Martin ist das, was man so leichtfertig einen ,Lebenskünstler'
nennt, er ,schlägt sich durchs Leben' als Claqueur & Statist- irgendwie
hat er als parasitäre, kunstlose Existenz ,das Leben begriffen'; Dr.
Seet ist völlig ,lebens f r e m d', befindet sich "auf den Fersen
des Lebens", wie die Kommissarin einmal mutmaßt. Und Seet selbst:
"Ich... lebe davon, daß ich Nachwuchs ranziehe... Was ich tue,
tue ich schlecht im Leben ...die Serval ...Sie wird's nicht aushalten, das
Leben! ...Ein Freund der Bücher, der sein Leben nichts anderes getan
hat, als Bücher zu vernichten und zu verhindern!..."
Und die Kommissarin? Sie jagt gesellschaftlich ganz konkret verfehlte Lebensexistenzen,
um sie der Strafinstanz zuzuführen (so paßt die anfangs Fremde
doch noch sehr exakt ins Stückkonzept), und auch privat hat sie ihre
Malaisen ,mit dem Leben': "Manchmal fürchte ich, wir benehmen
uns alle wie außen vor! - Leben nicht, sondern spielen lebendig, nach
alten Regeln, unsinnig gewordenen?... Leben das Leben, als hätten wir
es gelernt, so wie man lernt, mit Messer und Gabel zu essen? So routiniert,
als hätten wir es schon ,zigmal getan? Reihen Gesten und Wörter
aneinander, ohne Inhalt? - Hinkende Ruinen!"; und dann, ganz profan,
nach Urlaubsphantasien: "Irgendwie bin ich danach ein ganzes Jahr wieder
zu gebrauchen für dieses Leben hier..."
Wie Hofmannsthals Komödie Der Schwierige, in der sich alles ums Reden
oder Schweigen dreht, sind auch Zschokkes Die Alphabeten thematisch stringent
durchkomponiert. Und obwohl es in dem Stück um eine so ernsthafte (und
entsetzliche) Angelegenheit geht wie ,das Leben', dürfte/ sollte/ müßte
man viel gelacht haben, wenn die Aufführung vorbei ist (allein schon
im Text sind zahllose Lacher versteckt, von nestroyscher Qualität).
Es darf aber auch geweint werden. Zschokke zeigt nämlich auf der Bühne
lächerliche Menschen: mit charmanter Brutalität zeigt er uns.
Die Kritikerin Sigrid Löffler merkte zu den Alphabeten an: "Richtige
Dichter. Echte Kommissare. Ganze Kerle. Wahre Kunst. Große Worte.
Tolle Typen. Das pralle Leben. Geht das überhaupt noch auf der Bühne?
Heutzutage? Natürlich geht es nicht. Natürlich ist es nie gegangen.
Die Zeiten sind nicht danach. Wo jeder nur noch den Abklatsch seiner selbst
simuliert und die Realität sich nur noch imitierend an ihren eigenen
Abziehbildern orientiert, kann auch die Schaubühne höchstens Zitate
herbeizitieren und Menschendarsteller darstellen. Vorgetäuscht wird,
was ohnehin austauschbar ist. Unfertige Gestalten. Halbe Portionen. Windige
Typen. Knallige Kopien. Individualitäts-Schwindler. Redefiguren. Worthülsen.
Leere Ausgänge. Ein Leben in Gänsefüßchen."
.
Bei den 2o. Mülheimer Theatertagen erhielt Zschokke für seine
Alphabeten den Übersetzungsförderpreis des Goethe-Instituts, so
daß sein Stück seit 1996 auch auf englisch, französisch, spanisch, belarussisch, chinesisch und japanisch vorliegt. Paradoxerweise blieb es auf deutsch ungedruckt und
ist nur als Bühnenmanuskript zugänglich.