Maurice mit Huhn
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Leseprobe:
Immer wieder ist es verblüffend, mit
welchem Gleichmut der Mensch seit Tausenden von Jahren seine kurz
bemessene Zeit verbringt, sitzend, liegend, belangloses Zeug redend,
ohne Appetit Kleinigkeiten knabbernd, ohne Durst an Flüssigkeiten
nippend, Dinge betrachtend, die ihm nichts sagen, sich auf Wege
machend, die ihn an Orte führen, wo er nichts verloren hat, im festen
Glauben verankert, er sei ein vernunftbegabtes Wesen und mache sich
Gedanken über dies oder jenes, dabei aber in Wahrheit nichts denkend,
nur so vor sich hin tuckernd, ewig die gleichen falschen Schlüsse
ziehend, sich im Kreis drehend seit Tausenden von Jahren, von
Nebentischen Gesprächsfetzen aufschnappend, Sonnenbrillen betreffend
oder Tierfelle, rohes Fleisch, Regale, das Wetter, bis plötzlich einem
von ihnen alles zu viel wird, einer Mutter beispielsweise, sie wandert
spätabends durch ihre Wohnung, zieht Kleidungsstücke aus, begießt sie
mit Brennsprit, zündet sie an, läßt sie hinter sich zu Boden fallen,
dann kommt ihr der neunjährige schlafende Sohn in den Sinn, der nicht
bei Bewußtsein verbrennen soll, sie holt aus der Küche einen Hammer,
geht ins Kinderzimmer und schlägt dem schlafenden Jungen mit dem Hammer
den Schädel ein, erschrickt beim Geräusch der splitternden Knochen,
schlägt sich selbst auf den Kopf, aus Wut, bekommt Mitleid mit dem
zuckenden Bündel vor sich, schleppt es an ein Fenster in der Stube,
öffnet es, damit das Kind nicht im Rauch erstickt, weckt blutüberströmt
den zweiten, ein Jahr älteren Sohn und schickt ihn zur Feuerwehr, der
kriegt einen Schock, rennt los, die Feuerwehr kommt, löscht und bringt
den jüngeren Knaben ins Krankenhaus, wo festgestellt wird, dass dessen
Hirn eingedätscht und das Sprachzentrum zerstört ist, er wird nie mehr
sprechen können, die Mutter wird interniert ... Der Mensch sitzt
weiterhin da, auf Gartenstühlen, an Frühstückstischen, an Werkbänken,
trinkt Bier, schimpft über das Wetter, redet von Autofelgen und
Überschwemmungen, von Versicherungsbetrug und preisreduzierter
Sommerware, die Sonne geht auf, die Sonne geht unter, der Mensch
zwitschert, ein Spatz auf dem Dach, hüpft hierhin, dorthin, pickt
Brosamen, stopft sich voll ohne leer gewesen zu sein, legt sich hin
ohne müde zu sein, erhebt sich ohne ausgeruht zu sein, trottet über
Plätze, bellt, springt in Gewässer, schwimmt eine Strecke, legt sich
zum Trocknen an die Sonne, weiß ganz und gar nicht, was er tut,
behauptet, sein Vater sei schuld an allem oder seine Mutter, schuld an
was, er weiß es nicht, an sich, er glaubt nachzudenken, weiß aber
nicht, wie das geht, das Nachdenken, setzt sich, legt sich hin, steht
auf, läuft über Plätze, trabt an Häuserfronten entlang, klingelt,
wiehert etwas, ißt tüchtig, läßt sich vor Karren spannen, zieht bis zum
Umfallen, man kann ihm Fäßchen um den Hals binden, er scharrt in
Lawinen, gräbt Artgenossen aus, und plötzlich vergißt sich wieder
einer, zerfetzt im Büro ein paar seiner Arbeitskollegen, wird
eingesperrt, um dann zu sterben, wieder andere stürzen sich in ganz und
gar höllische Aktivitäten, um mit ihrer Plackerei das viel
Bedrohlichere in ihrem Inneren zu übertönen, das Ungeklärte, um nicht
endgültig den Verstand zu verlieren, was unweigerlich geschehen würde,
wenn sie sich schutzlos der Wirklichkeit aussetzen würden, diese
merkwürdigen Wesen, die Menschen, die sich auf einmal vergessen und
andere zerhacken. (S.138ff.)
© Ammann Verlag & Co., Zürich. Alle Rechte vorbehalten.
Wundertüte des
Alltäglichen
Matthias
Zschokkes Roman "Maurice mit Huhn"
Niels Höpfner
Alle
drei, vier Jahre, immer im Frühjahr, legt der Schweizer Dichter Matthias
Zschokke (mittlerweile 51) seine Tarnkappe ab und zeigt sich der lesenden Welt.
Diesmal präsentiert er den Roman "Maurice mit Huhn", sein achtes
Prosawerk. Alles fing an mit dem übermütigen Schlingel "Max"
(Robert-Walser-Preis 1981), der nun nicht mehr von seinem Moritz, pardon,
Maurice amputiert ist. Das heilige Paar: endlich komplett. Der Übermut:
gedämpft.
Der
Roman entlehnt seinen Titel einem Gemälde des Schweizer Malers Albert Anker (1831-1910),
der in dem Drei-Buchstaben-Dorf Ins lebte, wo Zschokke als Kind aufwuchs. Ein kleines
Museum erinnert noch heute dort an den Maler. Auf dem Bild ist sein kleiner
Sohn zu sehen, der mit Kulleraugen erwartungsvoll-neugierig in die Welt blickt,
in den Patschhänden eine fette Henne. Ein Bildausschnitt schmückt den Band als
Cover.
Zschokkes
"Maurice mit Huhn" ist als Roman vieles nicht: keine der beim
Publikum so beliebten Familiensagas; kein Entwicklungs- oder Bildungsroman;
kein psychologischer Reißer; kein Beziehungskrisenopus; kein Wende-Elaborat;
kein Generationenreport; keine Vergangenheitsbewältigungsschnulze. Was denn? Allenfalls
versucht Maurice die Gegenwart zu bewältigen, und das nicht ohne Ächzen.
Maurice
betreibt ein "Kommunikationskontor" in einer schäbigen Gegend
Berlins, im Wedding, wie durch den oft genannten Nettelbeckplatz kenntlich
wird. Kleinen Leuten hilft er bei amtlichen Korrespondenzen. Reich ist er damit
nicht geworden, im Gegensatz zu seinem persischen Internatsschulfreund Hamid,
dem er in Briefen aus seinem Leben berichtet, was Zschokke als auktorialem Erzähler
Verschnaufpausen bietet und den Roman kurzweiliger, bunter macht.
Nein,
kein "klassischer" Roman, mit Klimax, Peripetien usw. Es rauscht kein
mächtiger Erzählstrom, der ewige. Durch eine Reihung von Miniaturen wird die
traditionelle Romanfabel gründlich ruiniert. Diese Dekonstruktion zeichnet
Zschokkes Roman aus als ein Werk der Moderne.
Ein
pointillistisches Pastell des Lebens, gemalt mit Wörtern. Wie schön sich Bild an Bildchen reiht (Trakl): das vom Schauspieler
Flavian Karr, der sich beim Film als Nazi-Kleindarsteller verschlissen hat und
nun in Stadtmagazinen "Einzelcoaching" und Kurse zur "Befreiung
der eigenen Stimme" anbietet; das von Carola’s
Schreib-Shop (mit Apostroph), der Pleite geht; das vom Niedergang der
Druckerei des Ehepaars Doberan; das
von einem grotesken Arztbesuch, bei dem Maurice sich eine Alterswarze entfernen
lassen will; das vom piefeligen Café Solitaire,
wo Maurice Zeitungen liest, das dichtmachen muss. Und außerberlinisch ein "Städtetrip"
nach Turin und ein satirischer Kongressbericht… Zschokkes Wundertüte des
Alltäglichen ist bodenlos.
Und
Maurice taucht ein ins Mikrokosmische: "Spatzen fliegen heran und wälzen
sich in der trockenen Erde unter einem der Sträucher, einem abgestorbenen. So
ein Staubbad von Spatzen kennt er noch nicht. Neugierig schaut er zu und freut
sich, etwas Neues geboten zu kriegen. Wie Pferde, Katzen oder Schweine, wälzen
sich die Spatzen in der Topferde."
Aus
der Beobachtung, die Maurice gemacht hat, entwickelt Zschokke seine Poetologie:
"Das Lustige an den Spatzen ist nicht, was sie getan haben. Das Lustige an
ihnen ist, daß Maurice die Zeit hatte, sie wahrzunehmen. In jedem Augenblick
tun Spatzen, Menschen, Elefanten und Meere, was sie tun. In jeder Sekunde
geschieht alles, doch wir sehen es nicht und empfinden Stillstand. Wir glauben,
interessant sei das Außergewöhnliche, die Rhythmusstörung, der Aussetzer. Das
Grandiose ist aber der Rhythmus, der Fluß, die Allgegenwart. Wenn wir jederzeit
offen genug wären, zu sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben voller
Überraschungen, den Traum eines Lebens, einen Roman, ein ewiges Abenteuer. Man
stelle sich bloß vor, wir würden, wo immer wir gehen und stehen, Spatzen sehen,
Hunde, Winde, die sich merkwürdig verhalten, Mücken, Menschen – immer wieder
natürlich und vor allem Menschen, von denen wir am allermeisten glauben, längst
zu wissen, wie sie sind, die wir für unseresgleichen halten und demnach nicht
für weiter beachtenswert; doch wie sie sich verhalten, ist immer neu ganz und
gar unbegreiflich."
So
geht es auch durchaus hart zur Sache. Leben und Sterben in Berlin: "Eine
Greisin an einem Fenster erweckt den Anschein, in diesem Buch die Rolle von
Maurice’ Mutter übernehmen zu wollen." Zschokke zeichnet ein gnadenloses
Mutterporträt. Von Millionen Müttern. Wofür Peter Handke ein ganzes Buch ("Wunschloses Unglück") brauchte,
reichen ihm wenige Seiten, die erzählerisch zweifellos der grandiose Höhepunkt
sind. Und auch Hamid, der Freund, stirbt, krebszerfressen, da hilft ihm alles
Geld nicht mehr.
Zschokke
hat einen ureigenen Sprachsound. Er schreibt Sätze, deren ausgebuffte Unschuld
umwerfend ist: "Irgendwann hat Maurice damit begonnen, sich seine eigenen
Gedanken zu machen. Je länger er sich darin übte, desto schwerer tat er sich
damit. Zu allem fiel ihm das eine oder andere ein, gleichzeitig aber auch immer
dessen Gegenteil, weswegen er, weil er sich immerzu selbst ins Wort fiel,
schließlich die Lust verlor, überhaupt noch etwas zu sagen. Andere, die mit ihm
älter geworden waren, redeten im Unterschied zu ihm mehr und mehr."
Oder:
"Immer wieder ist es verblüffend, mit welchem Gleichmut der Mensch seit
Tausenden von Jahren seine kurz bemessene Zeit verbringt, sitzend, liegend,
belangloses Zeug redend, ohne Appetit Kleinigkeiten knabbernd, ohne Durst an
Flüssigkeiten nippend, Dinge betrachtend, die ihm nichts sagen, sich auf Wege
machend, die ihn an Orte führen, wo er nichts verloren hat, im festen Glauben
verankert, er sei ein vernunftbegabtes Wesen und mache sich Gedanken über dies
oder jenes, dabei in Wahrheit nichts denkend, nur so vor sich hin tuckernd,
ewig die gleichen falschen Schlüsse ziehend, sich im Kreis drehend seit
Tausenden von Jahren, von Nebentischen Gesprächsfetzen aufschnappend,
Sonnenbrillen betreffend oder Tierfelle…" - insgesamt fast zwei Seiten,
diese Thomas-Bernhard-Tirade [siehe oben]. Wie jener ist Zschokke ein Moralist,
was er jedoch, davon selbst erschrocken, mit Scherzen camoufliert.
Sein
Roman "Maurice mit Huhn" hat eine Aura heiterer Grausamkeit, die den
Leser rasch (und auf Dauer) in ihren Bann zieht. Bravourös gelingt dem Autor
die Erfüllung seines selbst erklärten Vorsatzes: "Denen, die noch leben,
erzählen, wie es war, als sie lebten."
Maurice
lauscht immer wieder einem Cellospiel in der Nachbarschaft. Das zieht sich
leitmotivisch durchs ganze Buch. Gern wüsste er, wer da spielt, an künstlerisch
eigentlich unpassendem Ort, ist es ein Mann oder eine Frau: "Besuch beim
Cellisten: Ein etwa fünfzig Jahre alter Mann öffnet die Tür. Er hat weiche,
volle Lippen. Die Mundwinkel hängen leicht nach unten. Lefzen, denkt Maurice. …
Besuch bei der Cellistin: Eine etwa fünfundzwanzigjährige Frau öffnet die Tür.
Ihr Körper ist der eines Mädchens…" Unvermeidlich ein geiles Sexabenteuer,
zur höhnischen Befriedigung der Lesererwartung. Natürlich hat Maurice die
Besuche phantasiert. Kopfkino und kein Geheimnisverrat, der nur in profaner
Banalität enden könnte. Das Cello bleibt Sehnsuchtsmetapher.
Am
genüsslichsten wohl liest man Zschokkes wunderbaren Roman "Maurice mit Huhn",
wenn man zur Lektüre Bachs Cellosuiten auflegt, vielleicht gespielt von Pablo
Casals.
"Titel - Magazin für Literatur und mehr". Karlsruhe, 17.4.2oo6
Die neue Leichtigkeit des Seins
Matthias Zschokke schickt in seinem Berlin-Roman seinen Helden auf Reisen
NICOLE HENNEBERG
Im ruhigen Sog des Erzählens, mit spürbar schweizerischem Sprachklang,
finden Engel und Spatzen, Mörder und Einsame, Schwätzer, Penner und
Liebende zusammen. Mittendrin: Maurice, der Eigenbrötler. Maurice steht
vor dem Spiegel und rasiert sich, er will mit einem Freund essen gehen.
Viel lieber wäre er zu Hause geblieben, in seiner stillen Wohnung, ohne
mit jemandem reden zu müssen, denn was soll man sich erzählen? Die
Tage, Wochen, Jahre vergehen, doch sehen sie alle gleich aus, meint er,
und sie werfen nichts ab, das zu einer Abendunterhaltung taugt. Soll er
vielleicht erzählen, wie gern er die Abenddämmerung mag, wenn die
Farben anfangen, dunkel ineinander zu verschwimmen und über den Dächern
«Gebete, Seufzer und Flüche (…) aufsteigen wie Rauch im Winter»? Oder
soll er vom Cellospiel erzählen, das er durch die Wand seines Büros
hören kann? Er kennt den Musiker nicht, doch er hat ihn sich oft
vorgestellt - es könnte ja auch eine junge, hübsche Frau sein,
vielleicht sollte er ja doch versuchen, sie zu finden? Dass der
Eigenbrötler Maurice ausgerechnet ein «Kommunikationskontor» betreibt,
ist schon Ironie genug; aber Matthias Zschokke verlegt es auch noch in
eine Gegend Berlins, die kurz vor dem Kollaps zu stehen scheint: «Die
Schuhe in den Auslagen hier oben machen einen gesundheitspolizeilich
fragwürdigen Eindruck, Tapetenläden dekorieren ihre Fenster aufs
absurdeste, die Tiere in den Zoologischen Handlungen erregen Mitleid,
(…) Drogeriemärkte erinnern an Gefängniskioske, wo es für Inhaftierte
das Nötigste zu kaufen gibt, Supermärkte an Lebensmittelausgabehangars
in Flüchtlingslagern.»
HÄSSLICH. Die Cafés in der Nachbarschaft sind grotesk hässlich, doch
Maurice besucht sie trotzdem: Nirgends kann er, anhand deren
beiläufigen Gesten, mehr über Menschen erfahren als hier. «Maurice mit
Huhn» heisst der neue Roman von Matthias Zschokke, und es geht darin,
wie der Autor anmerkt, um Gott und die Welt und den ganzen grossen Rest
- was angesichts des entschlossenen Blickes des kleinen Maurice auf dem
Buchumschlag unmittelbar einleuchtet: Das Huhn auf seinen Armen trägt
er so sorgsam, als wäre es die Weltkugel selbst.
IDYLLISCH. Ausser Romanen und Erzählungen hat Matthias Zschokke, der
1954 in Bern geboren wurde und seit 1980 in Berlin lebt, Theaterstücke
geschrieben und Filme gedreht, und oft lag seiner Prosa eine szenische
oder eine Bild-Idee zugrunde wie dem kleinen Roman «Loses Glück»
(1999), der auf einer Jacht auf dem idyllischen Bielersee spielt: Vier
langjährige Freunde versuchen, einander ihr Leben zu erzählen; doch mit
ihrem Sprechen erreichen sie einander nicht. Es sind nach-beckettsche
Einsame, die monologisierend auf ihrem Unglück bestehen gegen den Rest
der Welt, der sie um ihr luxuriöses Leben beneiden würde. In seinem
neuen Roman öffnet Zschokke hingegen ein bewegtes Sprach- und
Zeitpanorama, das eine Welt einfangen will, deren innerer Zusammenhang
sich jeden Tag, unter Sturzbächen von Meinungen und Gefühlen, neu und
anders aufzulösen scheint. Maurice lebt bescheiden, mit den Figuren aus
dem 2001 erschienenen Erzählungsband «Der neue Nachbar» vergleichbar,
die sich in schäbigen Zimmern verkriechen, um mit niemandem sprechen zu
müssen. Doch die Welt lässt sich, trotz konzentrierter Bemühungen,
nicht aussperren: Wie bei Maurice sind es die Töne eines Cellos, die
den unfreiwillig Lauschenden zurück in die Welt locken.
NEUGIERIG. Diesmal ist der Held neugierig auf das Leben, ja er liebt
sogar dessen Brüchigkeit: Zwischen Duden und Zeitung, zwischen
Strassenbeobachtungen, Erinnerungen und Fantasien kann er sich frei
bewegen. Und mit dieser neuen Leichtigkeit schickt der Autor ihn sogar
auf die Reise in sein Heimatdorf, wo er die alte Sprachvertrautheit
geniesst und trotzdem ein Aussenstehender bleibt, der sonderbare Fragen
stellt. Von diesem archimedischen Punkt aus gelingt sogar die Liebe:
«Und wir wachen auf und sagen das Gleiche, und wir schlafen ein,
nachdem wir das Gleiche gesagt haben, und manchmal kommt ein neuer
Gedanke hinzu, der uns überrascht, eine neue Redewendung, die uns
gefällt …»
VERSTÖREND. Es ist die Sprache, die die Welt aus ihren
zusammenhanglosen Bruchstücken immer wieder neu und anders
zusammenfügt. Der Autor jongliert mit den verschiedenen Möglichkeiten,
ist bestrebt, alle gleichzeitig in der Luft zu halten, und beschwert
sich mitunter über larmoyante Entgleisungen seines Helden. Manchmal
klagt er auch selbst über die Mühen, all die Details in eine
angemessene Form zu bringen («Um den Abschnitt zu einem Rondo
kurzzuschliessen …»). Man fühlt sich beim Lesen an eine Bach-Sonate
erinnert, doch immer wieder blitzt die pure Gewalt auf, ohne dass der
Erzähler merklich die Stimme höbe - was einen verstörenden Effekt
ergibt, den wir schon von Zschokkes Geistesverwandtem Robert Walser her
kennen. Anders als Wilhelm Genazino, der sarkastisch die
kleinbürgerlichen Marotten kommentiert, und anders als Markus Werner,
dessen Figuren von einem inneren Furor geschüttelt und getrieben
werden, glaubt Matthias Zschokke an die tiefere Wahrheit des
Beiläufigen, in deren ruhigem Sog sich, mit spürbar schweizerischem
Sprachklang, Engel und Spatzen, Mörder und Einsame, Schwätzer, Penner
und Liebende zusammenfinden.
"Basler Zeitung", 14.2.2006
Matthias Zschokke
Sensationen des Alltags
Es ist die «Rhythmusstörung», die den in
Berlin lebenden Schweizer Schriftsteller interessiert - sein neuer Roman,
«Maurice mit Huhn», ist ein Protokoll der Ereignislosigkeit
Von Ulrike Baureithel
Man müsse das Buch auf
jeder Seite aufschlagen und lesen können, wünscht sich Matthias Zschokke. «Jeder
Teil steht für sich, doch die Gesamtkomposition ergibt einen erkennbaren
Rhythmus.» Ich mache also den Versuch und schlage Zschokke auf, Seite 73. «Dass
sich gehenlässt, wer sich geliebt weiss», heisst es da. Der vierzehnzeilige
Abschnitt handelt vom nachlässigen Aufzug angejahrter Liebender («zerbeulte
Hosen», «zerdätschte Frisuren»), die wissen, dass sie nicht mehr gefallen
müssen, weil sich der liebende Partner daran erinnert, dass man ihm einmal
gefallen hat. Ein weiteres Mal zu gefallen, hiesse, «in die Abgründe einer neuen
Leidenschaft gerissen zu werden». Von dieser Furcht zurückgehalten, «vergisst
man oft, liebenswürdig zu sein». - Eine der vielen kleinen philosophischen
Betrachtungen, die Zschokkes neues Buch, «Maurice mit Huhn», bereithält; und man
sollte den Abschnitt nicht missverstehen: Der Autor dieser wohl gefeilten, wenn
auch nicht wohlfeilen Stücke will gefallen, auch wenn er keine Lust hat, die
obligatorischen Schubladen zu bedienen.
Sein «Roman» genanntes Buch
hebt damit an, dass Maurice lieber in seinem Büro sitzen bliebe und vor sich
hinstarrte, als das Hemd zu wechseln, sich zu rasieren, um seinen
Schauspielerfreund Flavian zu treffen, mit dem er nichts auszutauschen hat. Denn
was gäbe es schon zu erzählen von Maurices Existenz im Berliner Nordosten, wo
die Blumen welk in den Läden hängen, die Ärzte und Apotheker blass aussehen und
selbst das Café Solitaire um die Ecke, wo Maurice «seine Zeit absitzt» und
tätige Müssiggänger beobachtet, in Agonie fällt. «Wer es nicht schafft,
rechtzeitig wegzuziehen», so das vernichtende Urteil über die Gegend,
«versickert und verendet hier.»
Welke Blumen,
blasse Ärzte
Mit Maurice teilt Matthias
Zschokke die Vorliebe für Café-Häuser, und als wir uns, nicht im Berliner
Nordosten, sondern im alten Westen in einem traditionsreichen Literaturcafé
treffen, kommt der winterblasse Mann gerade aus dem entgegengesetzten Ende der
Republik zurück. Einfacher, erzählt er, sei dort das Leben gegenüber dem
anstrengenden in Berlin, wo es im Winter besonders dunkel ist (was offenbar
immer nur SchweizerInnen aufzufallen scheint, die Stadt nimmts gelassen). Seit
1980 sitzt der 1954 in Bern geborene und im Aargau aufgewachsene Autor und
Filmemacher nun seine Zeit ab in dieser Stadt, in die es ihn verschlagen hat,
weil es eben eine Grossstadt hatte sein sollen, Berlin damals billig war und
Schweizer Markenware gefragt. Mittlerweile, findet er, sei die Schweizer
Literatur hier allerdings wie überhaupt in Deutschland randständig geworden.
Vielleicht ist auch das ein Grund dafür, dass die zschokkeschen
Dichterexistenzen, von denen er erzählt, seit Jahren eher an der Peripherie als
im Zentrum angesiedelt sind.
Billig ist Berlin
inzwischen nämlich nur noch in den Randbezirken, in Wedding zum Beispiel, wo
Maurice sein «Kommunikationsbüro» unterhält, weil er sich eine bessere Adresse
nicht leisten kann und hier die legasthenische Kundschaft lebt, die seine
Dienstleistungen nachfragt. Wenn er nicht gerade im «Solitaire» sitzt oder
heimlich den baren Fussabdrücken einer jungen Frau folgt, die am Spreeufer
spaziert, verschanzt sich Maurice in seinem heruntergekommenen Hinterhofbüro und
lauscht den Tönen eines unsichtbaren Cellos, das auf den folgenden 250 Seiten
das Leitmotiv liefert. In Zschokkes vor vier Jahren erschienenem Erzählband «Der
neue Nachbar» hatte das Cello schon einmal für kurze Zeit die erzählerische
Führung übernommen, war auf dem Höhepunkt allerdings einfach abgebrochen, mit
der vom Publikum nicht sehr ernst genommenen Ankündigung: «Fortsetzung folgt.»
Rätselhaftes
Cello
Nun hat Zschokke die
Fortsetzung also tatsächlich nachgereicht, auch wenn dabei, wie er versichert,
ein neuer Grundton das Motiv dominiert und eine neue Melodie entstanden ist. Um
dieses Cello und ihre Töne erzeugende Urheberin kreisen Maurices Fantasien:
Handelt es sich um einen Mann, eine Frau? Um ein unentdecktes Talent, ein Genie
gar? Ist es, wenn es schweigt, endgültig verstummt, gestorben oder nur ins
wohlhabende Zehlendorf gezogen? Warum ertönt plötzlich ein Klavier, dann wieder
ein Fagott? Maurice führt lange Monologe mit dem Cellisten, treibts mit der
Cellistin auf dem Balkon, unternimmt aber keinen wirklichen Versuch, dem
geheimnisvollen Spiel auf die Spur zu kommen. «Maurice träumt von der
Sensation», erklärt Zschokke, «und hat deshalb Angst, das Rätsel zu lösen.»
Dafür beobachtet Maurice
seine Umgebung, registriert jedes kleinste Zeichen des Verfalls in der stehen
gebliebenen Zeit, abseits des Metropolenaktionismus. Den Berliner
Durchsteckschlössern wird dabei die gleiche erzählerische Aufmerksamkeit zuteil
wie dem Abstieg des Buchdruckers Doberan, den Maurice in Briefen an den fernen
Freund Hamid protokolliert, wobei er sich als Ich-Figur endlich ins Spiel
bringen darf. Je weniger passiert, desto dringlicher fordert die
Ereignislosigkeit, dieses «müde Trotten durch ödes Einerlei», Rechenschaft.
Selbst wenn Maurice Reisen unternimmt, zum Beispiel an die Kindheitsstätten in
der Schweiz, handeln sie vom Stillstand in der Zeit - der Titel des Romans,
«Maurice mit Huhn», ist einem Genregemälde von Albert Anker entlehnt.
Am Genre kaut Zschokke denn
auch heftig herum: Ihn langweilten die gut gebauten, fertigen Geschichten mit
Anfang, Höhepunkt und Ende, diese Stückware, die in den Leipziger oder
Oldenburger Schreibwerkstätten hergestellt wird. Nicht die Sensation «ist das
Grandiose», sondern «die Rhythmusstörung, der Aussetzer» und das am Rande
Aufgesammelte, Belanglose, in dem sich das Ganze verbirgt. Zschokke plädiert für
eine «philosophische, essayistische» Romanform, die Einsprengsel, Abschweifung,
Mehrstimmigkeit, Perspektiv- und Zeitenwechsel und das lange Verweilen im
Augenblick erlaubt. Die barocke Erzähltradition wird dabei ebenso geplündert und
in den Roman geschmuggelt wie das Theaterfach, aus dem der gelernte Schauspieler
Zschokke ursprünglich stammt. Wenn er seitenweise von den schmerzenden Füssen
der Besitzlosen berichtet, die die falschen Schuhe tragen, dann meint er das
Leben in den falschen Schuhen ebenso wie die falsche «passende» literarische
Form. Wie Hühner, die absichtslos picken, oder Töne, wenn sie ohne Zuhörer
gespielt werden und nicht gefallen wollen, muss also Literatur im besten Sinne
zweck- und absichtslos sein, nicht erziehen wollen oder nur unterhalten.
Dafür allerdings sind
Zschokkes Sätze zu massgeschneidert und seine Beobachtungen viel zu
wahrnehmungsbesoffen und hintersinnig. Absichtslos wird hier kein Wort gesetzt,
«jeder Satz», beharrt der Autor, «gehört genau so, wie er da steht». Das macht
das Lesen mitunter auch zur Anstrengung. Gerade weil der Text so unstrukturiert
und absichtslos dahinzufliessen scheint, wird der Leser in ständige
Alarmbereitschaft versetzt. Schwächer ist der Roman - wie schon die Erzählungen
- dort, wo es um Politik geht. Vielleicht haben politische Ereignisse - der
Krieg in Jugoslawien ebenso wie die Entschlüsselung des Genoms - eine kurze
Halbwertszeit, und vielleicht sind ja wirklich alle Theater mittlerweile «von
Händlern» besetzt: Doch dass deshalb Maurices Meinung über Fahrräder die
Wichtigkeitsskala umkrempeln könnte, wäre noch zu beweisen.
Das allerdings sollte kein
ernst gemeinter Einwand gegen die Lektüre sein. Wer sich auf Zschokke einlässt,
sollte sich nicht auf eine «runde Geschichte» freuen, dafür auf eine
melancholisch gestimmte, wahrnehmungsintensive Entdeckungsreise machen, auf der
Unscheinbares attraktiv, Belangloses sensationell und Abseitiges bedeutungsvoll
wird und die viel Lebensklugheit bereithält.
"WOZ - Die Wochenzeitung", Zürich, 23.2.2oo6
Liebenswerte Gleichförmigkeit
Matthias Zschokke präsentiert ein
Buch über die kleinen Tragödien und Komödien, die sich nebenan abspielen
Der in Berlin lebende Berner Schriftsteller,
Filmemacher und Theaterautor Matthias Zschokke setzt in «Maurice mit Huhn»
seine Alltagsbeobachtungen mit heiter-ironischer Melancholie fort.
Gibt es einen Diminutiv für Leben? Das
Lebenchen, das Lebenlein? Unsinn. Auf so abwegige Gedanken kann einen nur so
einer wie Matthias Zschokke bringen, der sich auch im jüngsten Buch wieder als
geistvoller Flaneur, unermüdlicher Kuriositätensammler, unerschöpflicher
Ideenspinner und spöttisch distanzierter Beobachter des Alltags erweist, und
zwar zumeist in Berlin, wo er seit nunmehr dreissig Jahren lebt, aber auch auf
kleineren Reisen oder wenn er Kindheitserinnerungen wieder belebt, die ihn
zurück ins Seeland und ins Anker-Dorf Ins führen. Weshalb denn auch sein Buch
den Titel «Maurice mit Huhn» trägt, wie wiederum ein Gemälde von Albert Anker
heisst.
«Unfassbarste Tragödien»
Was dem Exilberner Paul Nizon, Jahrgang
1929, Paris bedeutet, das ist für den ein Vierteljahrhundert später ebenfalls in
Bern geborenen Matthias Zschokke Berlin geworden: Ort des Lebens, der
Erfahrungsfülle immer wieder, der Geistesabenteuer dann und wann und deren
Vereinnahmung und Verwirklichung durch die Sprache. Für die Leser wiederum
heisst das auch, bei Zschokke wie bei Nizon, Rückkehr zu Örtlichkeiten,
Situationen und Beziehungen, die schon in früheren Werken aufgetaucht sind. Im
Falle Zschokkes zum Beispiel ist das die Wohnung, in die immer wieder die schwer
zu lokalisierenden Klänge eines Cellos dringen. Aber anders als bei Nizon, wo
Erotik und Leidenschaften in der Sprachwerdung sich zum singulären Ereignis
auftürmen, ists bei Zschokke in der Regel das Alltagsgleichmass, das ihn
beschäftigt, das ihn unterhält, lächert und handkehrum abstösst. «Wer sich
Rechenschaft über sein eigenes Leben ablegt», schreibt er, «kommt zum Schluss,
es gleiche sich tagaus, tagein, es sei ein müdes Trotten durch ödes Einerlei
aufs von jeglicher Überraschung bare Ende zu.» Und weiter: «Wer etwas genauer
hinschaut, wird feststellen, dass sich in seiner unmittelbaren Umgebung die
unfassbarsten Tragödien und Komödien ereignen und er gar nicht ins
Phantasiereich der anderen auszuwandern bräuchte, um angeregt zu werden.»
Ja, solches Sinnieren über das «Leben» und ab und zu sonstwie ein nachdenkliches
Traktätlein über das eine und andere Phänomen des Daseins kommen auch vor in
Zschokkes Kollektion aus «Tagen süsser Trostlosigkeit» (wie er, bzw. der
zuschauende, notierende und Briefe schreibende Maurice sie nennt); aber meistens
handelt es sich doch eher um das distanziert teilnehmende Beobachten konkreter
Individuen und realer Geschehnisse, von Beständigem und Veränderlichem in der
Nachbarschaft, von Stimmungen des Lichts, Gerüchen, Geräuschen, Aromen der
Stadt.
Das grosse
Abenteuer
Sogar so etwas wie
leibhaftige Brunst scheint Maurice einmal zu übermannen. Der Spieler des Cellos
im verwinkelten Nachbarhaus, den Maurice endlich aufspürt, der erweist sich
nämlich als eine Spielerin, und schon nach kurzem Geplauder gibt diese sich ihm,
auf dem Balkon des Hauses, mit Wonne hin. Maurice erlebt endlich, endlich sein
grosses Abenteuer, der banale Werktag explodiert mit Wucht – bloss, er gesteht
es am Ende, ist der ganze Vorgang reine Phantasterei, blosses Wunschdenken,
Traumbegehren, das den Klängen des verborgenen Cellos entsprungen ist. Maurice,
der zwar bei Gelegenheit eine Freundin zur Seite hat und mit einem Freund zu
korrespondieren pflegt, bleibt der ewige Einzelgänger, der abseits steht, dabei
ein bisschen traurig ist, weil nichts sich als so tief und so vollkommen
erweist, wie man sichs erträumt hat, und daneben ist er auch ein bisschen
amüsiert, weil die Leute gerade in ihrer Unvollkommenheit so komisch sind. Wenn
man beim Lesen sich Maurice so vorstellt, wie er in seiner kahlen Behausung
aufschreibt, was ihm widerfahren oder eben auch nicht widerfahren ist, da kommt
einem unwillkürlich ein kleines Gedicht von Robert Walser in den Sinn (wie ja
überhaupt bei Zschokke manche Klänge an Walser erinnern): «Ich mache meinen
Gang; / der führt ein Stückchen weit / und heim; dann ohne Klang / und Wort bin
ich beiseit.»
Charles Cornu, "Der Bund", Bern, 23.2.2oo6
Der Mann im Café Solitaire
«Maurice mit Huhn» - Matthias Zschokkes berückender Roman
Matthias Zschokke hat eine
leichthändige Romankomödie geschrieben. Sie ist witzig, doch lauert am
Rande die Finsternis. Nichts Menschliches fehlt. Göttliches scheint
kaum auf - es sei denn als der reine Klang eines Cellos, das von
irgendwoher durch die Wände dringt. Miniaturdramen folgen aufeinander,
gelebt von anrührenden Leuten, vor allem von Maurice, der Hauptfigur.
Einer liebenswürdigeren Gestalt begegnet man in der neueren Literatur
nicht leicht. Nicht einmal bei Zschokke selber. Dabei gibt er sich
Mühe, seinen Protagonisten auch ein bisschen lächerlich erscheinen zu
lassen.
Hintersinnige Geschichten
Aber nur ein bisschen. Maurice hat den überlegenen Charme der
Erfolglosen, die den Erfolg durchschauen und darum verweigern. Er ist
ein trauriger Clown, über den man laut lachen kann, auch dann, wenn man
mit ihm leidet. Manchmal lacht man qualvoll. Weil er so Recht hat mit
seinen schwarzen Gedanken zum Leben, zum Heute, zum Ort, wo er wohnt,
Berlin. Maurice stammt aus der Schweiz, aus dem gleichen Dorf wie der
berühmte Maler, der in Paris einst Furore machte mit Bildern von
Bauernkindern. Dieser malte auch Porträts seines Sohnes Maurice. Darum
trage er diesen Namen wie viele andere in jenem Dorf im Grossen Moos
beim Städtchen L., erklärt der Romanheld. «Maurice mit Huhn»: das Bild
Albert Ankers ziert den Umschlag.
Der Autor - auf einer neuen Höhe seiner Kunst - lässt seinen
Mann schreiben. Maurice fährt von der Wohnung beim Bahnhof Zoo täglich
mit dem Fahrrad zum Büro im öden Nordosten Berlins.
«Kommunikationskontor» heisst seine Firma. Er bestreitet sie allein,
erhält hie und da Aufträge von Einwanderern, für die er amtliche
Briefschaften erledigt. Daneben richtet er Briefe an Hamid, seinen
ehemaligen Geschäftspartner, der in Genf längst einen besseren Job hat.
Er schildert Hamid seinen Alltag in dem tristen Quartier, das dieser ja
kennt. Er erzählt vom Café Solitaire, wo er trotz Sauerbratengerüchen
täglich seinen Milchkaffee trinkt, von den Läden, die immer wieder
aufgeben müssen, von den Bewohnern, für die es kein Entrinnen gibt aus
dieser Randzone. Er berichtet von ihren Verlusten und Widersprüchen,
auch von der Greisin, die, am Fenster ihres Hinterhofes kauernd, auf
Maurice wartet. Sie bildet sich ein, er sei ihr Sohn.
Lauter verrückte und hintersinnig gewöhnliche Geschichten. Es
sind diese tausendundein Geschichten, die bewirken, dass sich Maurice
doch nicht unter die S-Bahn wirft. Denn er ist ein verkappter
Schriftsteller. Wenn er schreibt, lebt er gern. Hierfür verbringt er
seine Tage im Büro. Da gewinnt er seine eigene Sicht auf die Dinge,
seine eigene Sprache. Ein Satz müsse stumm für sich allein stehen;
sobald er vor Dritten geäussert werde, klinge er falsch. Darum schreibt
er lieber, als er redet. Er ist ein zarter dichterischer Philosoph.
Aber er wird nie abstrakt, sondern kleidet alles in grossartige
Exempel.
Er erzeugt Spannung mit fast nichts. Zu einem Leitmotiv wird
die Musik, die ihn manchmal mit Macht ergreift. Maurice phantasiert
deren Urheber herbei, noch lieber deren Urheberin. Mit der «Cellistin»
erträumt er eine Liebesstunde, deren üppige Schilderung jedem
Erotikthriller wohl anstehen würde.
Dieser Roman ist dicht angefüllt mit Wirklichkeiten. Doch
liegt auch ein Zwielicht darüber. Das kommt von Maurices fahler Seele.
Er erfährt die Welt als «Zwischenreich», wie er einmal sagt, als eine
Art Purgatorio. Überall nimmt er das Vergehen wahr. An den Uhren frisst
der Rost, Autos schmelzen vor seinen Augen zu Klumpen zusammen. Dass
nichts Bestand hat hienieden, ist an abgewetzten Orten augenfälliger.
Weil er Oberflächen durchsichtig macht, liest man ihn gebannt, aber
auch beklommen. Er erzählt auf so hartnäckig hinterhältige Weise, dass
man bald an Beckett, bald an Robert Walser denkt. Das sind grosse
Massstäbe, gewiss, aber Matthias Zschokke wird ihnen gerecht.
Kostbare Lektüre
Abgesehen von den eingeschobenen Briefen verzichtet der Autor diesmal
auf jede aufwendige Erzählkonstruktion. Er erfindet kein Boot als
Kleinstschauplatz wie im «Losen Glück», und er lässt auch keinen dicken
Dichter sterben. Er beschränkt sich auf die Darstellung eines etwas
kauzigen Daseins, das ab und zu unterweltlich fratzenhaft wird. Wenn er
etwa erklärt, wieso in dem Quartier so viele Amputierte anzutreffen
sind. Junge Ärzte brauchten für ihren Abschluss eine Brust, eine Niere,
ein Raucherbein und bezögen ihre «Fälle» gern aus Randbezirken. Nicht
dass die Leute bezahlt würden für ihre Körperteile. Doch die Aussicht
auf ein warmes Essen und saubere Leintücher gewinne fast jeden für
einen chirurgischen Eingriff. «Wer überlebt, flaniert hinterher durch
die Quartierstrassen, die Versehrungen stolz zur Schau stellend wie
solche aus einem grossen, ehrenvollen Krieg.»
Es gibt aber auch die «würgende Geborgenheit» des Schweizer
Heimatidylls, in das Maurice hie und da zurückkehrt und wo er der
merkwürdigsten Auftritte gewahr wird. Etwa in der Begegnung mit einer
Schulklasse, die mit Koffern übers Feld zieht. Die Kinder müssten
erfahren, was es heisse, vertrieben zu werden, erklärt der Lehrer dem
verdutzten Auslandschweizer. Darum habe er sie nach Unterrichtsbeginn
gleich wieder heimgeschickt und ihnen befohlen, innert kürzester Frist
das Nötigste einzupacken.
Der pädagogische Einfall entspricht ungefähr der Forderung
nach mehr «Erfahrenshintergrund», wie sie gelegentlich an verwöhnte
Schriftsteller gestellt wird. Maurice liest darüber in der Zeitung im
Café Solitaire. Etwas Krieg würde jeder Dichtung gut tun, so die
Theorie eines «am deutschen Geisteshimmel neu aufsteigenden
Denksterns».
Zschokkes Prosa ist auch diesmal nicht leicht zu fassen. Sie
lässt die Welt fast banal erscheinen und rückt sie dabei unauffällig
aus dem Lot. Der Menschenkosmos, den sie in Schieflage bringt, ist der
unsere. Eine kostbare Lektüre.
Beatrice von Matt
"Neue Zürcher Zeitung", 25.2.2oo6
Vogelfrei vor Glück
Matthias Zschocke erzählt mit Schweizer Charme vom Berliner Stillstand
Von Ulrike Baureithel
Es ist natürlich eine Übertreibung,
dass sich HartzIV-Geschädigte aus dem Berliner Wedding in der „Aussicht
auf ein helles, warmes Zimmer, wochenlang frische Laken, regelmäßige
Kost, menschliche Zuwendung drei mal am Tag und funktionierende
Fernsehgeräte“ im nahe gelegen Universitätsklinikum ihre Glieder
amputieren lassen. Auch die in den Schweizer Bergen handelnde
Geschichte, in der inhaftierte Mörder und Betrüger Sänften aus
Fahrradteilen zusammenschweißen, um auf karitativer Basis Gelähmte zu
Bergtouren auszuführen, ist eine Mär und in diesem Fall, so ihr
Erfinder, dem besonderen Schweizer Humor geschuldet.
Tatsächlich kann man Matthias Zschokkes neues Buch „Maurice mit
Huhn“, mit dem sich der seit 1980 in Berlin lebende Autor nach
vierjähriger Pause zurückmeldet, auf jeder beliebigen Seite aufschlagen
und eine mehr oder minder skurrile Geschichte, eine lebenskluge
Betrachtung oder einen entlegenen Wahrnehmungssplitter finden: blutvoll
genug, um eigenständig bestehen zu können, zugleich „in schönster
Rondomanier“ in die anderen Teile eingebunden.
Den erzählerischen Grundton übernimmt dabei ein Cello, das schon in
Zschokkes 2002 veröffentlichtem Erzählband „Ein neuer Nachbar“
eingeführt und mit dem Versprechen „Fortsetzung folgt“ versehen wurde.
Nun also erklingt dieses Cello erneut, versteckt in einem Hinterhaus im
Berliner Nordosten, wo es Maurices Aufmerksamkeit erregt. Dieser
Maurice, der sich selbst als „unscheinbar und uninteressant“ empfindet,
unterhält dort ein „Kommunikationsbüro“, wo er, da er sich keine
bessere Adresse leisten kann, seine Dienste anbietet. Meist allerdings
sitzt er untätig am Schreibtisch, im Café „Solitaire“ am nah gelegenen
Nettelbeckplatz oder flaniert durch den Kiez. Denn im Hauptberuf ist
Maurice Wahrnehmungssensor, der den langsamen Niedergang seiner
Umgebung – den Wechsel der Pächter, den Ausverkauf der Läden und die
fehlgenährte Blässe der Bewohner - minuziös registriert: „Wer es nicht
schafft, rechtzeitig wegzuziehen, versickert und verendet hier.“
Allerdings leidet Maurice auch an einer Sprechhemmung, die um so
dramatischer wird, je mehr die Zeit um ihn herum stillzustehen scheint.
Mit seinem Schauspieler-Freund Flavian mag er sich schon nicht mehr
treffen, weil er das „dumme Zeug“, das dann aus ihren Mündern stürzt,
nicht mehr ertragen kann. Die Frau, die ihm gegenüber sitzt und die
„die Rolle seiner Geliebten übernommen hat“, liebt er schweigend;
soziale Kontakte hält er für eine Zumutung. Nur in den Briefen an den
fernen Freund Hamid, der seine Büromiete finanziert, spricht er von
seiner Befindlichkeit und sagt „ich“.
Maurice erzählt in diesen Briefen auch vom Cello hinter der Wand, von
seiner Freude am Spiel, von der Betrübnis, wenn es ausbleibt: In
welchem Haus mag es sich verbergen, von wem wird es gespielt, ist ein
Talent, gar ein Genie am Werk, und hat es in diesem dahindümpelnden
Teil der Stadt überhaupt eine Chance? Maurice führt lange Monologe mit
dem Cellisten und treibt’s mit der Cellistin auf dem Balkon. Verstummt
das Cello einige Tage, fürchtet er, es sei ermordet worden oder ins
angemessenere Zehlendorf verzogen. Seine Versuche, das Instrument
aufzuspüren, bleiben halbherzig und im Ansatz stecken; lieber blättert
er im Duden nach vergessenen Wörtern, widmet sich der akkuraten
Beschreibung Berliner Durchsteckschlösser oder einer Kamelie, die,
obwohl kleinwüchsig und verkrüppelt, „Winter für Winter die schönsten,
sehnsuchtsvollsten Blüten aus sich heraus“ erzeugt.
Dieses süchtige Sehnen in der dahin- tröpfelnden Zeit, in der Sekunde
für Sekunde „alles geschieht“ und die doch nur als Stillstand empfunden
wird, ist Zschokkes Thema und Erzählprogramm. Gleichgültig, ob er von
der siechen Greisin am Fenster berichtet (in der Rolle von Maurices
Mutter), Maurice an die Stätten seiner Kindheit zurückreisen oder
einfach nur das still gestellte Genregemälde „Maurice mit Huhn“
aufleben lässt, überall treibt ihn die Frage, „wofür wir leben, wenn
wir bleiben, was wir waren“.
Dieser zutiefst barocke Weltzweifel ruft ein Teatro mundi auf, auf dem
die Spieler ihre Füße in „schmerzende Schuhe“ zwängen, weil es
„Anstrengung und Kühnheit erfordert“, von Schuhen und vom Leben „zu
verlangen, dass sie passen“. So„verkürzen sie sich ihre lange Weile“
mit erfundenen „Geschichten mit Hand und Fuß, Anfang und Ende, Aktionen
und Reaktionen, Ursachen und Wirkungen“.
Solche „handwerklich gut durcherzählten, schnellen Geschichten“, in
denen die „Rhythmusstörung“, der „Aussetzer“ die Form diktiert,
interessieren den 1954 in Bern geborenen und im Aargau aufgewachsenen
Matthias Zschokke erklärtermaßen nicht. Dabei haben das Theater- und
Filmgewerbe, in dem er sich ebenfalls einen preiswürdigen Namen gemacht
hat, sichtlich ihre komischen Spuren hinterlassen: Chirurgische
Schnitte unterbrechen den Wahrnehmungsfluss, maßgeschneiderte Sentenzen
stören das treibende Erzählgut, Distanzgesten die Illusion – und
schwebende Motive geben Rätsel auf.
Hühner gehören übrigens seit seinem ersten [recte: letztem] Roman „Das
lose Glück“ (1999) zu Zschokkes Lieblingsmotiven. „Gerupfte Hühner, die
nicht wissen, dass sie sterben“, heißt es dort programmatisch, „die
ganz und gar damit beschäftigt sind, Hühner zu sein, sich in den Sand
zu hocken, wieder aufzustehen, das Gleichgewicht zu halten … vogelfrei,
im losen Glück.“ Listig hat Zschokke das Huhn nun Maurice in den Arm
gelegt, auch dieser nichts weiter als „ein Wissenskörner pickendes
Huhn“. Vielleicht sollte man dieses Buch genauso lesen: pickend über
die Seiten schreiten, sich hinhocken, wieder aufstehen und dabei nicht
das Gleichgewicht verlieren.
"Der Tagesspiegel", Berlin, 26.2.2oo6
Das Leben ist ein Mysterium
Matthias Zschokke: "Maurice mit Huhn"
Rezensiert von Jörg Magenau
In dem neuem Buch des
Berliner Autors Matthias Zschokke, "Maurice mit Huhn", geht der Leser
zusammen mit dem Flaneur Maurice auf eine Entdeckungsreise in der Großstadt
Berlin. Das Alter Ego des Autors Maurice erlebt nicht viel Spannendes, es
ist vielmehr der Rhythmus und Fluss des Lebens, den er mit Präzision
liebevoll dokumentiert. Als schweizerischer Erzähler in der Tradition Robert
Walsers begegnet Zschokke dem Mysterium "Leben" staunend und erzählend.
In Matthias Zschokkes Erzählungsband
"Ein neuer Nachbar" gab es eine Geschichte mit dem Titel "Das Cello". Sie
handelte von einem Mann, der durch die Wand seines Büros immer wieder die Töne
eines Cellos hört. Die Klänge faszinieren ihn, und er stellt sich vor, wer
dort im Verborgenen übt.
Es gelingt ihm nicht zu lokalisieren, woher die Musik kommt: irgendwo aus dem
Nachbarhaus in einem verwinkelten Berliner Hinterhofkomplex. Doch eigentlich
will er es auch gar nicht wissen. Seine Suche bleibt halbherzig, und die
Phantasien um eine schöne Cellistin sind zu kostbar, als dass sie durch eine
Enttäuschung in der Wirklichkeit aufgewogen werden könnten.
Die Geschichte endete mit dem lakonischen Vermerk: "Fortsetzung folgt". Der
Roman "Maurice mit Huhn" ist nun diese Fortsetzung, wenn man bei einem Buch,
das allerlei Geschichten, Beobachtungen, Empfindungen, Reflexionen und
Aphorismen versammelt, überhaupt von einer Fortsetzung reden kann. Eine
nacherzählbare Handlung gibt es nicht. Vielmehr geht um das Leben selbst, um
das Verstreichen der Zeit, den Alltag und das Altern und um die Wahrnehmung
der Dinge.
"In jeder Sekunde geschieht alles",
heißt es an einer Stelle, "doch wir sehen es
nicht und empfinden Stillstand. Wir glauben, interessant sei das
Außergewöhnliche, die Rhythmusstörung, der Aussetzer. Das Grandiose ist aber
der Rhythmus, der Fluss, die Allgegenwart. Wenn wir jederzeit offen wären, zu
sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben voller Überraschungen."
Also kann in diesem außergewöhnlichen Buch alles interessant werden: die
Spatzen, die im Sand baden, ein Besuch beim Arzt, die Veränderungen in der
benachbarten Konditorei, der Wechsel der Jahreszeiten und die Läuse im Efeu,
das notorische Fensterputzen und eben auch die Töne eines Cellos.
Matthias Zschokke wurde 1954 in Bern geboren und lebt seit 30 Jahren als
Schriftsteller, Filmemacher und Theaterautor in Berlin. Mit Maurice hat er
sich ein Alter Ego geschaffen, einen Flaneur in der Großstadt, der gerne mit
dem Fahrrad unterwegs ist und der die abgelegenen Gebiete bevorzugt. Im
Wedding hat er einen Büroraum gemietet, wie Zschokke selbst. Allerdings ist
Maurice kein Schriftsteller, sondern betreibt ein "Kommunikationskontor".
Dort übernimmt er die Amtskorrespondenzen für "ausländische und orthographisch
benachteiligte Mitbürger". Das heißt: Er hat so leidlich sein Auskommen, sitzt
aber sehr oft einfach nur herum, denkt nach und schreibt ein paar Briefe an
seinen Freund Hamid (der am Ende stirbt). Der erste Satz des Romans ist
Programm: "Wieder nichts zu tun gehabt."
Zschokke ist ein sehr schweizerischer Erzähler in der Tradition Robert
Walsers. Action- und spannungsorientierte Leser müssen vor ihm gewarnt werden.
Alle anderen können in seinen Büchern auf Entdeckungsreisen gehen. Maurice
preist die Stille und möchte am liebsten, wie alle echten Indianer, unhörbar
sein, wenn er sich durch die Welt bewegt. Menschen zu begegnen und gar
Gespräche führen zu müssen ist ihm zuwider. Reisen hält er eigentlich für
überflüssig, unterzieht sich aber dennoch immer wieder dieser Anstrengung.
Mehrmals reist er in sein Schweizer Heimatdorf, wo er Seltsames erlebt: Eine
Schulklasse mit Koffern in der Hand marschiert durch den Ort, weil die Kinder,
wie der Lehrer erklärt, begreifen sollen, was es bedeutet, vertrieben zu
werden. In diesem Ort bei Bern löst sich auch das Rätsel des Romantitels:
"Maurice mit Huhn" ist ein Bild des hier geborenen Malers Albert Anker, eines
Naturalisten aus dem 19. Jahrhundert. Ihm, der einst häufig nach Paris reiste,
ist es zu verdanken, dass auch heute noch die Züge hier halten und dass die
Jungen im Ort häufig "Maurice" heißen.
"Maurice mit Huhn" ist ein Roman, der wie eine Wundertüte funktioniert. Er
enthält großartige Geschichten - ob vom sterbenden Präsidenten Mitterand oder
von homoerotischen Kindheitserfahrungen. Die Töne des Cellos aus dem
Nachbarhaus verbinden die disparaten Momente. Das Leben ist ein Mysterium, dem
man nur staunend - und das heißt: erzählend - begegnen kann. Doch das
Verstreichen der Zeit lässt sich nicht fassen.
"Nicht einmal das Leichteste, nicht einmal
meinen Schatten und meinen eigenen Geruch kann ich halten, nichts, alles löst
sich auf", notiert Maurice.
"Deutschlandradio Kultur", Berlin, 27.2.2oo6
Das Aussergewöhnliche im Alltag
In allen Sparten und Tönen gewieft: Der in Berlin
lebende Berner Matthias Zschokke hat einen wunderbaren Roman über die Frage
nach der Identität geschrieben. Am 6. März stellt er seinen «Maurice mit
Huhn» in Bern vor.
JOHANNES KÜNZLER
Maurice ist ein Prachtexemplar, ein wahrer Antiheld. Im
trostlosen Nordosten Berlins betreibt er ein «Kommunikationskontor», eine
Schreibstube für weniger Wortgewandte. Ab und zu fährt er ins Schweizer
Seeland, wo er die Orte seiner Kindheit besucht. Maurice findet, er führe ein
unspektakuläres Leben. Gerne schlendert er herum, beobachtet das nahe Liegende
– und freut sich daran. Doch oft überkommt ihn das Gefühl, das richtige Leben
ziehe an ihm vorbei.
Nach jedem Ausbruchversuch, die
«Wirklichkeit» zu spüren, findet er sich schon in Kürze am Schreibtisch und in
seine Gedanken versunken wieder. Von irgendwo drüben hinter den Wänden tönt
sanft ein Cello herüber, Maurice möchte den Cellisten oder die Cellistin
aufsuchen – er tut es nicht. Lieber denkt er sich Szenen einer solchen
Begegnung aus. «Wissen ist grauenvoll, erholsam dagegen das Ahnen», meint er.
Blubbern im Kopf
So ist Maurice – dieser exemplarische Protagonist aus
Matthias Zschokkes Figurenkabinett. «Irgendwann hat Maurice damit begonnen,
sich seine eigenen Gedanken zu machen. Zu allem fiel ihm das eine oder andere
ein, gleichzeitig aber auch immer dessen Gegenteil, weswegen er, weil er sich
immerzu ins Wort fiel, schliesslich die Lust verlor, überhaupt noch etwas zu
sagen.» Und Maurice’ Gedanken- und Redefluss mäandert immer fort.
Lässt er sich zuerst von einem
Erzähler vorführen, nimmt er diesem unvermittelt das Wort, um selber
weiterzusprechen. Das Spiel mit der Erzählperspektive – das Matthias Zschokke
bereits in früheren Romanen getrieben hat – geht so weit, bis die Erzählfigur
perplex bemerkt: «Was für ein Durcheinander. Wer hat dazwischen gesprochen?
Maurice’ Freund? Ein Jugendfreund? Ein weiterer Maurice?»
Dem 52-jährigen Berner Seeländer Matthias Zschokke, der seit 1980 in Berlin
lebt, geht es weniger um das Autobiografische, obwohl auch in diesem Roman
einige Passagen auf seinen Lebenslauf verweisen. Im Mittelpunkt steht die
Frage, wie Identität zu fassen ist: Nur punktuell, aus verschiedenen
Blickwinkeln, muss die Antwort lauten. Ganz so, wie Zschokkes Roman kein
klassisches Roman-Ganzes ergibt, sondern sein «Panorama» aus unzähligen
Fragmenten zusammensetzt, wobei die Leser die Lücken und Sprünge selber
ausmalen dürfen.
Ganz nach Zschokkes Manier gibt es in «Maurice mit Huhn» keine eigentliche
Handlung, sondern vielmehr ein träumerisches Assoziieren und Collagieren
zahlloser Szenen, Geschichtchen und Gedankenfetzen: Wie zäh sich in der
Sommerglut die Spree durch Berlin schiebt, wie sich ein Arbeitsloser im Café «Solitaire»
beschäftigt gibt, welchen Genuss ein Gnagi verspricht und dies nicht halten
kann und so weiter.
Stöbern im Alltag
Somit sind Buch und Figuren fest in unserer Welt verankert:
Wenn die Rede auf jenen unseligen 11. September, die Flexibilisierung der
Arbeitswelt oder etwa auf die Frage kommt, warum Albert Ankers Bilder gerade
in den Sammlungen «konservativer, politisch reaktionärer Kreise»
wiederzufinden sind, manifestiert sich sogar ein Realismus, den heute so
manche Schriftsteller geradezu demonstrativ aussparen, fürchtend, es würde
ihre Kunst herunterziehen. Matthias Zschokke geht damit ohne Scheu um und
lässt sein Sprachrohr Maurice festhalten, dass im Alltäglichen das
Aussergewöhnliche stecke und dass es bei der Kunstproduktion ja um die
Behandlung des Stoffes gehe und nicht um den Stoff an sich.
Verwandlung der Welt
Zschokke ist in allen Sparten und Tönen gewieft: Für seine
Romane, Theaterstücke und Spielfilme ist der ausgebildete Schauspieler deshalb
mit Preisen geradezu überschüttet worden. Nicht zuletzt wegen der brillanten
Technik sprudelt auch das neue Werk trotz melancholischem Grundton schalkhaft
und gewitzt. Die Beschreibungen sind meisterhaft. Nur ab und zu möchte man
nörgeln, die Sprache sei etwas gar überkandidelt, doch vergisst man das
Kriteln sofort wieder, da einen der Schreibe Fluss einfach weiterreisst.
Auch dass der Autor da und dort
auf Motive und Szenen bereits erschienener Erzählungen zurückgreift, tut der
Sache keinen Abbruch. In einen neuen Zusammenhang gestellt und/ oder neu
formuliert, verwandelt sich Zschokkes Welt gerade selbst. Dieses Dichten
funktioniert; es ist klug und gut gemacht und überaus anregend.
"Berner Zeitung", 27.2.2oo6
Der Genuss,
loszulassen
MATTHIAS
ZSCHOKKE: »Maurice mit Huhn«
Von Heide Grasnick
Sie können ihn aufschlagen, wo Sie wollen, und werden erleichtert spüren, wie
Sie beim Lesen loslassen, weil da endlich einer ... nicht um Ihre Gunst buhlt«.
So Matthias Zschokke über Robert Walser, nachzulesen in seinem Band, »Der neue
Nachbar«. In Bern geboren, wohnt und arbeitet der Autor seit fast 25 Jahren in
Berlin. Für seine Theaterstücke, Filme, Erzählungen und Romane hat er
renommierte Literatur- und Theaterpreise eingesammelt. Aufschlagen, wo man will
und beim Lesen loslassen, in diesen Genuss kommt auch der Leser von »Maurice mit
Huhn«.
Der Autor und ein Ich-Erzähler durchstreifen den Berliner Wedding, eine Welt,
die sie dem Leser in alltäglichen Episoden, witzigen Beiläufigkeiten,
ernüchternden Betrachtungen nahebringen. Den Wedding hat Zschokke sich
regelrecht vorgenommen. Die Verkäuferinnen im Supermarkt sind samt und sonders
krank, die Pächter des Cafés um die Ecke wechseln ständig. Wer hier wohnt, will
nur weg. So brillant schwarz und vernichtend räsonierte, deklamierte und
schwadronierte sonst nur der Übertreibungskünstler Thomas Bernhard. Die
wichtigsten Personen: Maurice, Schweizer Schriftsteller. Sein Freund, der
Schauspieler Flavian; der persische Geschäftsmann Hamid, den Maurice aus der
gemeinsamen Schweizer Internatszeit kennt und der ihn finanziell unterstützt.
Die Freundin von Maurice. Eine Greisin, die seine Mutter ist.
Maurice radelt jeden Morgen in den trostlosen Berliner Nordosten und entdeckt
auf dem Weg in sein »Kommunikationskontor«, das im Hinterhof eines ehemaligen
Fabrikgebäudes liegt, die unscheinbarsten Dinge. Er erledigt für ausländische
und andere orthographisch unsichere Mitbürger die Korrespondenzen mit Behörden,
Krankenkassen und Vermietern. Maurice kann davon leben, mehr schlecht als recht.
Schlechter ergeht es dem Kleindarsteller Flavian, dessen Gesicht bei den
Castingagenturen inzwischen als »verbraucht und nicht mehr vermittelbar« gilt.
Im Gespräch mit Maurice führt er das große Wort. Doch beide verstecken sich
voreinander, der eine hinter seinem Wortschwall, der andere, indem er schweigt.
Dem Überlebenskünstler Hamid dagegen kann Maurice in langen persönlichen Briefen
von sich erzählen. Reden kann Maurice mit der namenlos bleibenden Freundin,
einer friedlich freundlich, blassen Figur, sein Halt. Die Mutter liebt ihren
Sohn bedingungslos, doch er nicht sie: »Ihr Körper ist ausgeweidet von
Dummheit.« Nüchtern, mit sich schützender Distanz, beobachtet er den
körperlichen Verfall seiner Mutter, erinnert sich an ihr armseliges,
angstbesetztes Leben. Lässt sie aber beim Sterben im trostlosen Altersheim nicht
allein. Passagen, die für den Leser von verstörender Intensität sind.
Zschokkes Figuren sind müde. In ihrer Erfolglosigkeit glücklich eingerichtet,
»trödeln« sie auf ihrem Lebensweg herum, »dem Start viel näher als dem Ziel«.
Von Maurice heißt es, er sei bis heute dumm geblieben, lebe »in der beständigen
Angst, enttarnt zu werden als das, was er ist und am Ende gewesen sein wird: ein
Wissenskörner pickendes Huhn, das Huhn in seinen eigenen Armen«. Zu sehen als
Bild auf dem Schutzumschlag. Der Autor hängt an seinem Stadtteil, an dessen
Bewohnern, dem ganzen Ensemble. Doch drängt er sich dem Leser nicht auf,
zwanglos darf dieser durch seine Welt flanieren. Festlegen will der Autor sich
nicht, scheinbar wahllos lässt er die Figuren und Begebenheiten einander folgen.
Fragmente sind ihm wichtig. Dem mit Zschokkes Werk vertrauten Leser kommt vieles
bekannt vor. Er kennt den Berliner Nordosten, Hamid und den Cellospieler, der
über sein Leben und die Suche nach dem Talent philosophiert: »Talent reift
nicht. Es bleibt sein Leben lang eine Hoffnung«. »Warum ich das erzähle? Weil
einen manchmal das Leben erwischt mit unfassbarer Schönheit und weil ich es
wahrnehmen möchte, wenn es mir überraschend begegnet.«
"Neues Deutschland", Berlin, 15.3.2oo6
Dem Leben in die Augen schauen
Matthias Zschokke
erzählt im Roman «Maurice mit Huhn» vom Glück des Faulen
«Maurice mit Huhn»
ist ein Buch über das Naheliegende. Es lässt das Sichtbare und Fassbare, aus dem
die Wirklichkeit wird, vorüberziehen. Matthias Zschokke holt daraus das
Leseglück.
Eva Bachmann
Ist es ein
Missgeschick oder vielleicht der brandaktuelle Kommentar zur Zeit, wenn in
diesem Frühjahr der Vogelgrippe ein Buch erscheint, auf dessen Titelbild ein
Kind zärtlich und vertrauensvoll ein Huhn an sich drückt? Die Koinzidenz ist
zufällig – aber alles andere als unglücklich. Denn der Protagonist in diesem
Roman verweigert grundsätzlich, sich auf eine medial gemachte Wirklichkeit
einzulassen. Da werden sogar die einstürzenden Zwillingstürme zur Randbemerkung.
Wichtig ist nicht, was grossgeredet wird. Sondern, was ihm tatsächlich zustösst.
Und das ist nicht viel, aber eben real und darum wertvoll.
Die Gedanken
ziehen vorbei
«Maurice mit
Huhn» heisst das Bild von Albert Anker. Maurice, nach dem Sohn des Malers,
heissen viele Seeländer Buben. Vielleicht auch Maurice, der Ich-Erzähler des
Romans, der inzwischen in einem Aussenbezirk von Berlin gestrandet ist. Er mag
dieses Bild, in dem das Leben erstarrt ist: Den Bauch des Huhns stellt er sich
warm und prall vor, der Bub fühlt die weichen Flaumfedern an seinen Händen, er
ist wach, stolz auf das Huhn – und weiss, dass er sich nicht rühren darf, damit
das Bild etwas für die Ewigkeit wird. Ankers Kinderporträts werden heute hoch
gehandelt, hängen in Museen; «die meisten Originale befinden sich jedoch in
privatem Besitz. Wegen ihrer Motive und der naturalistischen Malweise sind es
eher konservative, politisch reaktionäre Kreise, in denen sie gesammelt werden.»
So fliessen die
Gedanken bei Maurice von einem zum anderen. «Maurice ist faul. Seinen Gedanken
vermag er nicht zu folgen. Sie kommen vorbei, sehen ihn dösen, lassen ihn in
Frieden und ziehen weiter.» Maurice hat nichts zu tun, er sitzt in seinem
Kommunikationskontor und hört einer unbekannten Cellistin auf der anderen Seite
der Wand beim Üben zu. Oder er fährt mit dem Velo durch Berlin, trinkt einen
Milchkaffee in der Cafékonditorei, wo auch ein Arbeitsloser unauffällig Pause
vom Nichtstun macht, zu Hause lebt er neben einer namenlosen Frau, die aus
Gewohnheit seine Geliebte ist. Alles zieht an ihm vorbei. Unstrukturiert wächst
sich das, was er sieht, in seinem Kopf aus und drängt in den Roman.
Eine Geschichte
gibt es nicht. Matthias Zschokke schreibt eine Reihe kleiner Genrebilder mit
einigen wiederkehrenden Motiven zu einem Buch zusammen. Als Stadtwanderer mit
einem Blick für das Unauffällige gleicht er darin Robert Walser, nur seine
Beobachtungen sind heutiger, es geht um Obdachlose, um billige Schuhe, das Gras
im Asphalt, die Glaspaläste der Banken. Doch wie bei Walser sind Perlen in diese
Prosa geknüpft, Sätze, die in aller Einfachheit von universell Gültigem handeln.
«Man weiss selten, dass man glücklich ist, meistens nur, dass man glücklich
war.»
Vom Wert des
Erlebens
Maurices
Lieblingsthema ist das Sein und Leben in der Wirklichkeit. In der Zeitung steht,
«dass ein am deutschen Geisteshimmel neu aufsteigender Denkstern öffentlich die
Meinung vertrete, ein Schriftsteller müsse erst etwas Herausragendes erlebt
haben, etwa eine Prise KZ-Luft geschnuppert, bevor er anfangen dürfe zu
schreiben.» Für Maurice ist der Duft von Lindenblüten im Juni herausragend
genug. «Wenn wir jederzeit offen genug wären, zu sehen, was uns umgibt, dann
hätten wir ein Leben voller Überraschungen, den Traum eines Lebens, einen
Roman.»
Maurice
verachtet jene, die sich in höllische Aktivitäten, gesellschaftliche
Verpflichtungen, endloses Reden stürzen, um das Bedrohliche in ihrem Inneren zu
übertönen, «um nicht endgültig den Verstand zu verlieren, was unweigerlich
geschehen würde, wenn sie sich der Wirklichkeit aussetzen würden». Maurice
überlässt sich der Wucht dessen, was von aussen auf ihn anstürmt, duldend, sich
freuend, meistens still. «Stumme, antriebslose Menschen sind nicht unbedingt als
solche geboren worden. Oft schaffen sie es bloss nicht länger, ihren von ihnen
als solchen erkannten Blödsinn weiterhin zu äussern.»
Sensationslos
Bei so einem Satz
müsste jeder verstummen – der Autor eingeschlossen. Matthias Zschokke, der seit
vielen Jahren in Berlin lebende Berner Schriftsteller, Filmemacher und
Theaterautor, schreibt zum Glück weiter. Den überragend konstruierten Plot hat
er sich auch in diesem Buch leichthändig geschenkt, er vertraut auf das Glück
des Flaneurs und seines Funds am Wegrand. Zum Glück für die Leser. Denn die
Sensationslosigkeit gibt auch uns Gelegenheit, nicht der Story hinterher zu
lesen, sondern auf den Rand zu achten. Auf die kleinen Kerben, die der Text dem
Zeitgeist zufügt. Oder auf Zschokkes aussergewöhnliche Beschreibungen, etwa
davon, wie sich die Farben der Dinge auf seinem Tisch verändern, wenn die Sonne
hinter einer Wolke verschwindet. Wer das liest, denkt nicht so schnell daran,
das Buch wegzulegen, um ein Tagwerk zu erledigen.
"St. Galler
Tagblatt", 10.4.2oo6
Wo
sich «nicht» auf «Licht» reimt
Peter Rüedi
Leben und leiden lernen beim Lesen: Matthias
Zschokkes «Maurice mit Huhn» macht’s möglich.
Was sollen wir von so einem halten? Er sitzt im Nordosten
der Stadt, wo Berlin am trostlosesten ist und sich längst aus dem Staub und Russ
und Mief und Moder gemacht hat, wer noch einen Funken Hoffnung in sich trug; in
diesem Niemandsland hockt der Mensch mit dem schönen Namen Maurice (einen Helden
wollen wir ihn nicht einmal im negativen Sinn nennen) am Schreibtisch eines
«Kommunikationskontors», den er vor undenkbaren Zeiten eingerichtet hat, um
ausländischen oder sonst in deutscher Rechtschreibung behinderten Mitbürgern im
Umgang mit der Welt, vor allem den Behörden, beizustehen. Er tut nichts.
«Wieder nichts zu tun gehabt»: So beginnt der «Roman». Die Leute können sich
seine Dienste längst nicht mehr leisten, in diesem grauen, fahlen,
petrolschwarzen, stumpfen, schlammfarbigen wüsten Land, wo «der Rost die Zeiger
der Uhr annagt, die draussen an der Mauer hängt, rechts vor meinem Fenster, wenn
die grünen Wiesen grau werden, die roten Dächer grau, wenn die Gebete, Seufzer
und Flüche darüber zart aufsteigen wie Rauch im Winter, all dieses Material, aus
dem das Bedürfnis nach Veränderung gekeltert wird». Alles fällt, an allem zieht
mächtig die Schwerkraft. «Seit ich meine Zeit hier absitze», lesen wir, und:
«Ich habe die letzten Monate wieder mit nichts als Aufstehen und Insbettgehen
vertrödelt, ohne dass mir auch nur eine Minute daraus zur Erzählung geronnen
wäre», und: «Maurice musste erkennen, dass auch er immer noch auf demselben Weg
herumtrödelte, auf dem er schon immer herumgetrödelt hatte, auf dem Weg zu sich,
und zwar wie alle: dem Start viel näher als dem Ziel.» Ein gnadenloser
Langweiler, dieser Berliner Oblomow.
Der ihn erfunden und mit dem einen oder andern autobiografischen Detail
ausgestattet hat (wie eine Voodoo-Puppe, deren Magie ohne ein paar Haare oder
intime Accessoires nicht funktioniert ), muss nach einer Reihe von
Prosaveröffentlichungen (u.a. «Max», 1982, «Der dicke Dichter», 1995), nach
mehreren Theaterstücken und einigen Filmen – Matthias Zschokke muss, bei allem
Lob, das ihm über die Jahre die Kritik zukommen liess, auch in seinem
fünfzigsten Jahr damit rechnen, dass er vom sogenannten Normalleser selbst für
einen Langweiler gehalten wird. Der ist zwar ein Phantom, der Normalleser, aber
ein weitverbreitetes, aus allen zusammengesetzt, die, eben weil ihnen das
«eigentliche» Leben von Alltag zu Alltag abhanden kommt, sich gern an
Geschichten halten mit Hand und Fuss, Anfang und Ende, Aktionen und Reaktionen,
Ursachen und Wirkungen, Leichen, Polizisten, Intrigen, Liebe, Leidenschaft,
Schicksal, Tod. Das ist ein Zitat Zschokkes, und so geht es weiter: «Diese
Geschichten schreiben sie nieder und verkürzen sich auf solche Weise immerhin
ihre lange Weile.»
Langeweile verlängert den Tag
Zschokke dagegen ist ein «Langweiler» aus Vorsatz. Ein Metaphysiker der
Langeweile und der Ereignislosigkeit. «In jeder Sekunde geschieht alles, doch
wir sehen es nicht und empfinden Stillstand. Wir glauben, interessant sei das
Aussergewöhnliche, die Rhythmusstörung, der Aussetzer. Das Grandiose ist aber
der Rhythmus, der Fluss, die Allgegenwart. Wenn wir jederzeit offen genug wären,
zu sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben voller Überraschungen, den
Traum eines Lebens, einen Roman, ein ewiges Abenteuer. Man stelle sich bloss
vor, wir würden, wo immer wir gehen und stehen, Spatzen sehen, Hunde, Winde, die
sich merkwürdig verhalten, Mücken, Menschen – immer wieder natürlich und vor
allem Menschen, von denen wir am allermeisten glaubten, längst zu wissen, wie
sie sind, die wir für unseresgleichen halten und demnach für nicht weiter
beachtenswert; doch wie sie sich verhalten, ist immer neu ganz und gar
unbegreiflich.»
Das liest sich wie eine in dieses Buch, «Maurice mit Huhn», eingeschriebene
Gebrauchsanleitung und ist auch eine – nicht ohne Selbstbewusstsein, ja, bei
aller Selbstverkleinerung, die Zschokke sonst in der unverkennbaren Nachfolge
Robert Walsers betreibt, nicht ohne eine gewisse Arroganz vorgetragen. Allein,
anders lässt sich diese Ästhetik der gleitenden Assoziationen und der
Beiläufigkeit nicht verstehen denn als ein Versuch, die Zeit anzuhalten in einem
Flirren von disparaten Partikeln, Erzählperspektiven und (relativen)
Verweigerungen von Aussergewöhnlichem. Die Preisgabe dessen, was die
Literaturwissenschaft «auktoriale Erzählinstanz» nennt, also der Verzicht des
Autors auf die Herrschaft über seinen Stoff, ist ein Akt der poetischen
Befreiung. Wie der bewusste Umgang mit der langen Weile.
Zschokkes Haltung ist mit der eines Kindes vergleichbar, das sich einen «ganz
langweiligen Tag» wünscht, weil «der nicht so schnell vorbei ist». Die
Langeweile, die Faulheit als Methode: Sie macht die Zeit bewusst (die andere in
ihrer Gier nach Ereignis und Spannung und Handlung totschlagen). «Maurice ist
faul. Seinen Gedanken vermag er nicht zu folgen. Sie kommen vorbei, sehen ihn
dösen, lassen ihn in Frieden und ziehen weiter. Er ist nicht in der Lage, einen
von ihnen festzuhalten. Sie sind zu schnell.» Und: «Was für ein befreiender Tag,
all die unterdrückten Dummheiten, die zurückgehaltenen Wörter und Laute auf die
offene Wiese hinauszutreiben, sie laufen zu lassen, sie galoppieren und Sprünge
machen zu sehen.»
Das ist, versteht sich, ein erzählerischer Trick. Eine Quadratur des Kreises.
Wie schön (und im Hinblick auf Zschokke bedenkenswert) der Satz von Racine ist,
nach welchem Kunst «etwas aus nichts machen» sei («L’art c’est faire quelque
chose de rien»), so gilt doch selbst in diesen flüchtigen Sphären zumindest im
übertragenen Sinn der Energiesatz: «Von nichts kommt nichts.» Das Nichts ist
nicht ein pathetisch beschworenes schwarzes Loch – lesen wir mal einen Satz wie
«Aus den geöffneten Fenstern gähnte schwarz das Nichts», nimmt sich der aus wie
ein Stilbruch, wie ein Rückwärtssalto in eine Art Expressionismus. Das Nichts
ist das Auge, wenn nicht eines erzählerischen Taifuns, so doch einer frischen
und unvorhersehbaren poetischen Brise. Bei allen Strategien der Verfinsterung
(sie bewirken gelegentlich einen geradezu heiteren Grimm, wie die Suaden von
Thomas Bernhard) hat Zschokke eine ungemein leichte Hand, die Gelassenheit, den
Wörtern, Gedanken, Sätzen die Zügel schiessen zu lassen und ein Klima der
Beiläufigkeit herzustellen. Einen Hang zur unvermittelten Idylle hat er auch.
Humor
hat er auch
Wie alle seine Bücher ist «Maurice mit Huhn» – der Titel ist der des berührenden
Porträts, das Albert Anker von seinem fünfjährigen Sohn gemalt hat, es ist auf
dem Schutzumschlag zu sehen: Einen Teil seiner Jugend verbrachte Zschokke im
Seeland, im Anker-Dorf Ins –; wie alle Bücher dieses Autors ist auch dieses eine
ganz unvergleichliche Mischung aus mutwilliger Verspieltheit und Melancholie
(mit zum Glück nur sehr gelegentlichen Ausrutschern ins Preziöse: «Er trank in
kleinen Schlucken und hatte dabei das Gefühl, in sich einen starken Vogel mit
schillerndem Gefieder zu tränken» – na ja). Die unzeitgemässe Verbindung von
Taugenichts und Weltschmerz («Eine gewaltige Trostlosigkeit ergreift ihn und
füllt ihn süss aus», heisst es einmal) macht diese Prosa nicht eben tauglich für
Hardcore-Inhaltisten oder auf «Handlung» Versessene unter den Lesern. Aber die,
die ein Ohr dafür haben (oder auch nur die Bereitschaft hinzuhören), beschenkt
sie mit einem eigenen erzählerischen Sound. Und mit einer auffallend
sprachgestischen Komik. Denn Humor hat Zschokke auch.
Ersparen wir uns die Sisyphusarbeit einer Nacherzählung. Ohne Anspruch auf
Vollständigkeit oder Systematik, mit der dieser fliessenden, spriessenden Prosa
ohnehin nicht beizukommen ist: Die Rede ist in «Maurice mit Huhn» vom Mann
Maurice und vom Bild dieses Namens; von einem in Genf weilenden reichen
Geschäftsmann, an den gelegentlich Briefe geschrieben werden; von paradiesischen
Ahnungen, die ein hinter einer Mauer erklingendes Cello auslöst (im Lauf des
Texts, den wir nicht eine Geschichte nennen wollen, verwandelt es sich in ein
Piano, zwischenzeitlich sogar in ein Fagott); von einer Begegnung mit dem
verbitterten Cellisten und der zauberhaften Cellistin (beide fantasiert:
Letztere in einer staunenswerten erotischen Slowmotion); von einer Frau, die die
Rolle seiner Geliebten, einer Greisin, die die seiner Mutter übernimmt (Zschokke
ist ausgebildeter Schauspieler mit einer Vergangenheit bei Zadek und anderswo);
von Mitterrands letztem Silvester-Abendmahl, bei welchem der Todkranke gierig
Ortolane verschlingt (geschützte Fettammern); von einem Städteflug nach Turin
und Kongressen in Flughafengebäuden; von einer Rückkehr ins Dorf der Jugend; von
einem fulminanten Lob der Trägheit und dem Porträt eines veritablen Heroen der
Faulheit; vom wunschlosen Unglück des Betreibers einer bankrotten Druckpresse.
Und immer wieder von bleichen, käsigen, verstummenden, zerfallenden Menschen in
den Kaffees, Bäckereien, Metzgereien oder Papeterien des «verfluchten Orts» im
Berliner Nordosten, von all seinen Grautönen und tiefen Himmeln und
Trostlosigkeiten. Und ja, das auch: Vom bleichen und etwas faden
unvergleichlichen Genuss eines original bernischen Gnagis erzählt es auch,
dieses Buch.
Wer wie Zschokke von nichts erzählt, erzählt von Gott und der Welt. Also von
allem.
"Die Weltwoche", Zürich, Nr.17/ 2oo6
Wonne der Langsamkeit
Hinreißend kritisch: Matthias Zschokkes
"Maurice mit Huhn"
VON HANSJÖRG GRAF
Maurice mit Huhn
heißt der neue Roman von Matthias Zschokke, dem in der Schweiz geborenen, aber
seit Jahrzehnten in Berlin lebenden Autor und Filmemacher. Der Buchtitel ist
ebenso erklärungsbedürftig wie das gleichnamige Bildmotiv auf dem Umschlag.
Porträtiert ist der etwa fünfjährige Sohn des Malers Albert Anker (1831 -
1910), der im gleichen Dorf des Kantons Bern aufgewachsen ist, aus dem
Zschokke stammt. Maurice, der mit seinem "blauen, rockartigen Bauernhemd" auch
ein Mädchen sein könnte, presst ein weißes Huhn an seine Brust; "nein, er
presst es nicht an sich, er trägt es vielmehr, liebevoll an sich geschmiegt
auf seinen Armen."
Wer dieses Bild "übersetzt", entdeckt in ihm eine zeitlich begrenzte Rückkehr
des Verlorenen Sohnes: Zschokkes Maurice, ein Oblomow des 21. Jahrhunderts,
zieht es hin und wieder an die Stätten seiner Kindheit; er gestattet sich
kleine Fluchten. Dennoch hält er am Provisorium Berlin fest, wo er im
Nordosten der Stadt ein "Kommunikationskontor" betreibt, doch alle sozialen
Kontakte meidet. Ist dieser Solitär ein Wanderer zwischen zwei Welten? Sind
diese Welten nur im Traum Realität?
Maurice macht sich nichts aus Fakten; aber ein Tag ohne Events wird für ihn
zum Ereignis. So erlebt er einen Sommertag in der Landschaft seiner Schweizer
Anfänge. Es ist ein "schöner Tag" für ihn. Im Gastgarten eines Hotels riskiert
er einen Smalltalk mit einer Dame vom Nebentisch. Der Gegenstand dieses nur
aus wenigen Sätzen bestehenden Gesprächs ist unverfänglich, ja nebensächlich;
bloß die Tatsache, dass es zustande kommt, zählt: "Er hätte ihr gern noch
gesagt, sie habe ihm Mut gemacht weiterzuleben, er habe ihr gern beim Essen
zugeschaut." Doch dazu kommt es nicht mehr.
"Die Grenzen meiner Sprache bedeuten die Grenzen meiner Welt", heißt es
bei Ludwig Wittgenstein. Das gilt auch für Maurice: "Kaum öffnet er seinen
Mund, macht er Fehler und verdirbt alles. Ein Fall für den Psychiater, sagen
einige. Vielleicht mag er sich aber einfach nicht erklären, weil ihm das
Ungeklärte lieber ist." Ohne Zweifel: Zschokkes Hauptdarsteller - die Kette
reicht von Max (1982) und Prinz Hans (1984) über ErSieEs
(1986) bis zum Dicken Dichter (1995) und dem Neuen Nachbarn
(2002) - leben in einer "Saturn-Zeit", um mit Anselm Kiefer zu sprechen; sie
hören den Hufschlag der apokalyptischen Reiter; ihre Schwermut ist von
Weltverständnis und Zeitkritik geprägt. Doch von Augenblick zu Augenblick wird
ihnen bewusst, dass es sich entgegen aller Erfahrung lohnt, da zu sein.
Maurice erlebt diesen Moment im Gastgarten eines Schweizer Hotels. Er entdeckt
die Poesie in der Prosa seines Lebens.
"Dem Ziellosen nachjagen, dem Unbrauchbaren, Überflüssigen. Sich noch einmal
und noch einmal wiederholen. Darauf beharren. Lieber sich zerstören lassen,
als eine bestimmte Richtung einzuschlagen. Lieber sich von ihm überrollen
lassen, als auf den Wagen der Vernunft aufzuspringen." Was Matthias Zschokke
auf den letzten Seiten seines Romans Maurice mit Huhn mit dem Nachdruck
von Maximen formuliert, entzieht sich einer eingleisigen Erklärung: Es sind
Leitsätze, die das Glück des Irregulären feiern; gleichzeitig erinnern sie
aber auch an das "Programm" eines Romans, der diese Gattungsbezeichnung nach
allen Regeln der Kunst ad absurdum führt. Was vorliegt, ist ein Pasticcio aus
Geschichten, Skizzen, Lesestücken und Denkbildern - um nur die wichtigsten
Varianten von Zschokkes Kleiner Prosa zu nennen. Von einem roten Faden kann
nicht die Rede sein, wohl aber von der Klammer, die Maurice' "Suche nach
Wirklichkeit" bildet. Was auf den ersten Blick plakativ wirken mag, präzisiert
schon der nachfolgende Satz, wo vom "Verlangen nach Welt, Blut, Luft, Strafe,
Schweiß" gesprochen wird.
Das Unscheinbare entpuppt sich als das Allumfassende. Zschokkes Minimalismus
erschließt einen Makrokosmos: Maurice, der alles sieht, ohne selbst gesehen zu
werden, beobachtet einen Rentner, der mit Hilfe eines Feldstechers einen
Plattenbau im Visier hat. "Warum der Rentner die Rede wert ist? Als er auf die
Straße trat, öffnete sich vor Maurice einen Moment lang der ganze kleine Tag,
das ganze Leben."
Zschokke beschreibt Maurice als einen, "der keinen Tag vergehen lässt, ohne
sich mit dem gewöhnlichen Leben zu beschäftigen". Das Leben als Lektion: Der
enzyklopädische Ansatz in Maurice mit Huhn äußert sich auch in
Gedankengängen, die von der Gentechnologie über Goethes Faust und den
Jugoslawienkrieg bis zu den Obdachlosen auf dem Berliner Nettelbeckplatz
reichen. Zschokke will denen, "die noch leben, erzählen, wie es war, als sie
lebten". Er fühlt sich einer großen aufklärerischen Tradition verbunden, indem
er rigoros zwischen Sein und Schein unterscheidet.
Die Polyphonie von Maurice mit Huhn - "Was für ein Durcheinander" -
schließt nicht aus, dass gerade in den Randbemerkungen und Klammersätzen sich
der Geist von Zschokkes Roman unmittelbar artikuliert. Im Beiseitesprechen
verwandelt sich die Marginalie in einen Schlüsseltext: "Was für ein Vergnügen,
in einer Stadt zu leben, die so gut duftet." So mutiert der Melancholiker zum
Hedonisten; Widerspruchsgeist und Sanftmut präsentieren sich als
Gegensatzpaar.
Wer sich auf Zschokkes siebenten Roman Maurice mit Huhn einlässt, darf
nicht mit Action rechnen; dafür tauscht er die Wonnen der Langsamkeit ein. Es
zahlt sich aus, mit Maurice auf die Suche nach einem Cello zu gehen, dessen
Klänge die Fantasie des Hörers in Trab setzen; das Tempo des Erzählers
verführt den Leser aber auch dazu, ganze Passagen und einzelne Sätze auf der
Zunge zergehen zu lassen. Doch wer sich über die Angemessenheit solcher
Vergleiche mokiert, lese den letzten Satz des Romans: Maurice und seine
Freundin besuchen ein Restaurant. "Dann betrachten sie glücklich das Essen vor
sich auf dem Tisch und schweifen in Gedanken ab."
"Frankfurter Rundschau",
3.5.2oo6
Der Mut des Hinschauens
Anna Stüssi
Maurice will schon auf der
ersten Seite lieber zuhause bleiben, als sich mit einem
Freund zum Nachtessen treffen - er habe ja nichts zu erzählen. «Wie
angenehm, mit niemandem reden zu müssen».
Der Einzelgänger findet sich selber
nichtssagend und langweilig, auch dumm
und faul, gemessen an denjenigen, die es
zu etwas gebracht haben und sich darzustellen und zu verkaufen wissen,
im boomenden Berlin und anderswo. Maurices Scham ist im Kern ein hoher
Anspruch an Wahrhaftigkeit, eine kritische
Verweigerung des Meinungs-Geschwätzes und der medialen
Wirklichkeitsbehauptung. Maurice denkt anders,
«zu allem fiel ihm das eine oder
andere ein, gleichzeitig aber auch immer
dessen Gegenteil», in seinem Kopf «blubbert» es. Für einen Autor wie
Zschokke ist diese Schwäche ein Glücksfall.
Er hält gleichsam sein Ohr an Maurices schweigenden Kopf, lauscht auf das
darin eingeschlossene Rauschen, die
hakenschlagenden Gedanken, das
Gefühlsgemenge und befreit sie in
angemessene Sprache. Wie Kälber im Frühling springen die «unterdrückten
Dummheiten» auf die Wiese hinaus, heisst es einmal. Es zeigt sich,
dass Maurices zielloses bescheidenes
Dahinleben seine ganz eigene Erlebnis
dichte
hat, allerdings nicht das gewichtige
Schicksal einer Romanfigur mit linearer Biographie. Maurice ist schweifendes
Sinnieren, Beobachten, Phantasieren.
Wenn er ein poetischer Mensch
ist, dann vor allem, weil die
Umstände ihm keine andere Möglichkeit lassen: der Unkommunikative hat in seinem
«Kommunikationskontor» wenig Kunden
und viel arbeitslose, leere Zeit. Zeit, in Zeitungen absonderliche Nachrichten und im Duden
Zufalls-Wörter aufzuschnappen, Briefe an Freunde zu
schreiben, die er lieber nicht trifft, oder im Quartier (es
handelt sich um den Randbezirk Wedding) den
wirtschaftlichen Niedergang und die Zeichen der Verwahrlosung zu
beobachten. Radikal, fast wie bei Beckett, ist der Blick auf Greisenköpfe in
Altenheimen, auf grausigen Zerfall, auf
Hässlichkeit und menschliche Bos- und
Dummheit. Hilfloser Zorn und verletzte Menschenfreundlichkeit ist spürbar.
Gibt es
einen Ausweg aus dem Laby
rinth
der Vergeblichkeit? Vielleicht ist es der
geheimnisvolle Cello-Ton, der bisweilen im Hinterhaus an Maurices Ohr
dringt. Zwar entzieht er sich der Nachforschung, lässt sich nicht orten,
aber gerade deswegen beflügelt er
Maurices Sehnsucht nach Glück,
Schönheit, Liebe, die sich in der Vorstellung entfaltet - und an der Realität
zerschellt.
Maurice kann sich zwar
durchaus im Alltag an Kleinigkeiten freuen,
am Fahrgefühl auf neuem Bodenbelag oder am
Duft der Lindenblüten; die Fussspur einer
Frau im Sand möchte er küssen und ein
Wollleibchen für seine treuen Dienste umarmen. Auch seiner Freundin ist
er ohne viel Worte zugetan. Man ist versucht,
in ihm den Lebenskünstler zu sehen. Dann wechselt der Ton, und Maurice
beisst sich grimmig fest an einer Zeiterscheinung, die ihm zuwider ist. Seine
nicht ganz freiwillige Musse erlaubt ihm, die
beiläufige Grazie des Daseins ebenso
wie die Symptome der gesellschaftlichen
Krankheiten genau, bisweilen satirisch
wahrzunehmen. Wenn er bemerkt, er habe zunehmend Freude an Tieren und
Pflanzen, so tut man gut daran, den
Nachbarsatz mitzuhören: «Er hat den Eindruck, seine Freude hänge
damit zusammen, dass ihn solche Anblicke
ermutigten, nicht zu verzagen.»
Ist
Maurices zurückgezogenes Dasein
verschwiegene Panik vor
Niedergang und Tod oder ist es Gelassenheit eines Weisen, der sich von den
Gesetzen der Tüchtigen nicht mehr drücken lässt? Klingt im Mut des Hinschauens
und in der Lust des Abschweifens hintangehaltene Verzweiflung mit? Man mag Maurice gerade darum so gern, weil
er sich und die Welt nicht erklären kann, aber hellwach träumend durch die
verstörende Wirklichkeit geht, in schwankender
Zuneigung, ohne es besser wissen zu wollen. Er hält sein Leben sozusagen im Arm
wie das Kind auf dem titelgebenden Anker-Bild sein Huhn, das stillhält für den
ewigen Moment der Kunst.
"Reformatio", Zürich, Nr.2/
2oo6
Prototyp Tunichtgut
Erotik des Zufälligen: Matthias Zschokke
flaniert durch Berlin
Pia Reinacher
Dieser Roman des Schweizer
Schriftstellers Matthias Zschokke übt einen subtilen Zwang zur
Langsamkeit aus. Wer seine poetischen Räume in Windeseile
durchschreiten will, wird bereits auf den ersten Seiten gebremst.
Eine Schule der Verzögerung, des Verweilens, des Sinnierens. Sein
Held, "Maurice mit Huhn", ist ein moderner Taugenichts, der in
seinem Büro in einem armseligen Berliner Stadtteil sitzt und
meistens nichts zu tun hat. Mit dem Fahrrad fährt er jeden Tag von
der Wohnung am Bahnhof Zoo in sein Kommunikationskontor, das er im
Alleingang führt. Er erledigt Schreibarbeiten für Einwanderer, die
Hilfe brauchen. Allerdings immer weniger. Ob sie sich seine
Unterstützung nicht mehr leisten können, ob sie ihm die Arbeit
nicht mehr zutrauen - es kümmert ihn nicht.
Was er wirklich mit Ausdauer
verfolgt, ist die Anstrengung, keine Panik aufkommen zu lassen
über das nutzlose Dahinkriechen der Tage. Ab und zu schreibt er
Briefe an Hamid, den ehemaligen Geschäftspartner. Dessen
Kaviarfirma hat sich zu einem Imperium entwickelt und ihn so reich
gemacht, daß er seine Frau, eine Berliner Schauspielerin,
verlassen und den Sohn in einem teuren Schweizer Internat
unterbringen konnte.
Schließlich hat er sich nach Genf
abgesetzt. Von da aus betreibt er lukrative Geschäfte und
jongliert gelenkig mit Gesetz und Übertretung. Mit Maurice
unterhält er eine Art Freundschaft, wenn auch eher einseitig.
Maurice schreibt, Hamid telefoniert oder taucht unvermittelt in
Berlin auf, um ihm einen Handel vorzuschlagen, bei dem sich
steuerliche Vorteile ergaunern lassen. Maurice nimmt solche
Angebote dankend entgegen. Moral ist nicht die Sache des kleinen
Schwindlers und Phantasten, der die Welt mit dem ihm eigenen Blick
abmißt. "Debauche", das französische Wort für "Ausschweifung",
heißt sein wahres Lebensmotto. Es führt das liederliche Leben
eines charmanten Flaneurs, der die Welt besichtigt, ohne sich an
ihr zu beteiligen. Nützlichkeiten erscheinen ihm fremd. Auf
Superlative reagiert er erschreckt, pathetische Gesten findet er
fragwürdig, Leistungen verdächtig. Jede Art von Abschweifung
dagegen begrüßt er mit hinreißender Begeisterung.
Der in Bern aufgewachsene Matthias
Zschokke, der zuerst Schauspieler wurde und seit 1980 als
Schriftsteller, Theaterautor und Filmregisseur in Berlin lebt,
spielte von den literarischen Anfängen an mit diesem leisen
Verweigerungston. Seine Helden waren schon immer Tunichtgute, die
sich - abgestoßen von geschäftigem Treiben und überbordender
Lebensgier - in ein poetisches Niemandsland absetzten. Mit dem
neuen Roman "Maurice mit Huhn" hat der Schriftsteller den Prototyp
seiner eigentümlichen Erzählmelodie geschaffen. Dabei orientiert
er sich an zwei Schweizer Vorbildern, die in der Berner Heimat
eine wichtige Rolle spielten: dem Maler Albert Anker und dem
Schriftsteller Robert Walser. Beide verbanden das Provinzielle mit
dem Weltstädtischen, beide camouflierten das Abgründige mit dem
Naiven.
Maurice, die Figur im Zentrum,
stammt aus dem gleichen Berner Dorf wie der Maler. Ankers Bild
"Maurice mit Huhn" lieh dem Helden den Namen und ist die Quelle,
aus der alle poetischen Beobachtungen sprudeln. Einmal beschreibt
der Schriftsteller den Knaben mit dem ruhigen, leicht
hypnotisierten Huhn auf dem Arm, die Beine hängend, den Kopf
abwartend geneigt - wobei es jeden Augenblick zum Leben erwachen
und dem Knaben mit den spitzen, starken Schnabel blutende Wunden
zufügen könnte.
Was ihm mit dem Motiv des Malers
gelingt, nämlich die poetische Aufladung des eigenen Textes mit
versteckten Bedeutungen, mißrät ihm allerdings mit dem
literarischen Vorbild. Diesem kommt er so nahe, daß er sich daran
verbrennt. Anstatt eine produktive Spannung zwischen Fremdem und
Eigenem zu erzeugen, entsteht ein leicht epigonaler Eindruck. In
Passagen, in denen sich Maurices Onkel bei seiner Gönnerin für
handgestrickte Socken bedankt oder der Held in heftige Zuneigung
zu engen, beigefarbenen, über den Boden tänzelnden Stöckelschuhen
entflammt, erdrückt das Original die Kopie.
Trotzdem übt Matthias Zschokkes
Romankonstruktion mit ihrer manchmal verbundenen, manchmal lose
assoziierten Reihung von Mikrogeschichten eine seltsame Magie aus.
Gewiß, das Buch hat einen Stich ins Altmodische, nimmt aber bei
genauerem Besehen durch seine unverdrossene Konsequenz und seine
fröhliche Zähigkeit doch wieder für sich ein. Die
Nebensächlichkeiten, Belanglosigkeiten und Beobachtungsfundstücke,
die vor den Augen des Lesers mit provozierender Nachlässigkeit
ausgebreitet werden, haben eine leicht anästhesierende Wirkung.
Zunehmend schwindet das Gefühl für die täglichen Aufgeregtheiten
und macht einer Empfänglichkeit für die schillernden Nichtigkeiten
und die Erotik des Zufälligen Platz.
Hinter dem freundlichen Plauderton
verstecken sich das Aufbegehren gegen den mechanisch ratternden
Alltag, die Auflehnung gegen das unverbindliche Surfen durchs
Leben. Damit gelingt es Matthias Zschokke für einen kurzen
Augenblick, die Welt aus den Angeln zu heben und die freie Sicht
auf das Poetische zu eröffnen.
"Frankfurter
Allgemeine Zeitung", 8.6.2oo6
Pandämonium von
Zeitgenossen
Die
Geldgierigen, die Rhetorik-Meister, die Sentimentalen, die Liebesschwärmer,
die Faulen...
Matthias Zschokke
beschreibt sie mit der Sachlichkeit des Illusionslosen
Sylvia M. Patsch
Ich liebe Menschen, die
alles um sich herum vergessen und nur an die eine Sache denken, die sie gerade
tun." Ein weiser Grundsatz. Auch fürs Lesen. Bei der Lektüre des neuen Buches
von Matthias Zschokke sollte die vollkommene Konzentration nicht schwer
fallen, besitzt es doch die verführerische Qualität, vom Leser unaufdringlich
Stellungnahme einzufordern.
Beobachten und Denken
Der Ich-Erzähler des Romans
"Maurice mit Huhn" ist ein Mann mit Zeit. Als Verfasser von
Behörden-Schriftverkehr für des Deutschen nicht mächtige Ausländer in Berlin,
einem selbst kreierten Beruf, hat er nicht übermäßig viel zu tun. So gibt er
sich dem Beobachten und Denken hin.
Ein Roman im klassischen
Sinn mit einer Handlung, die auf einen Höhepunkt zuläuft, und mit Charakteren
in Konflikten ist „Maurice mit Huhn" nicht. Eher ein Gedanken-Gemälde,
entsprechend dem Umschlag des Buches, das den Ich-Erzähler als kleines Kind
mit einem Huhn in den Händen zeigt, ein Bild, das der Vater des Ich-Erzählers
gemalt hat. Maurice malt mit Worten, aus denen ein tristes äußeres Panorama
Berlins entsteht und ein subtil getöntes vom Innenleben eines Unbestechlichen.
Was fesselt die Leserin,
wenn es keine Handlung, keine Konflikte, ja nicht einmal das übliche Erzähltempus,
die Mitvergangenheit, gibt, sondern nur das Präsens? Ein feines Gewebe
unerhörter, erschreckender, erheiternder, frecher, trauriger, ironischer
Gedanken. Von Anfang an spürt der Leser: Hier schreibt einer ohne Schere im
Kopf. Er räsoniert ohne Schaum vor dem Mund, mit der Sachlichkeit des
Illusionslosen: „An sich geht es mir gut, wenn da nur nicht Tag für Tag dieses
Leben wäre."
Illusionslos
Man kann nicht aufhören mit
dem Lesen, denn dieses Buch weckt von Thema zu Thema mehr die Neugier: Was hat
dieser 1954 in Bern geborene Schriftsteller, Theaterautor und Filmemacher, der
seit 30 Jahren in Berlin lebt, über den Zeitgeist zu sagen, über das Alter,
die Liebe, das Geld, die Freundschaft? Also eine Sammlung von Aphorismen,
eingekleidet in ein bisschen Ort und Zeit? Nein, dieses Buch drückt die
Sehnsucht nach einem Zustand aus, in dem das Innere mit dem Äußeren in
Einklang ruht.
Das Äußere
Das Äußere, das sind
Freunde, deren hohles Geschwätz der Erzähler schon auswendig kennt. Aber wer
hat den Mut, mit alten Freunden zu brechen? Maurice. Das Äußere ist die
Greisin, die Mutter des Ich-Erzählers, deren Ende der Sohn beiwohnt, um zu
erkennen, dass von Sterbenden keine „erhellenden Mitteilungen" erwartet werden
dürfen. Das Äußere, das sind die Macher, denen Zögern und Zweifeln fremd ist
und die aus dem Leben hinausstolpern, noch immer durchdrungen von der eigenen
Wichtigkeit. Die Geldgierigen, die Rhetorik-Meister, welche mit ihrer
Beredtheit ihre Gedankenknappheit vertuschen, die Sentimentalen, die
Liebesschwärmer, die Künstler, die Faulen, die Politiker und ihre
Redenschreiber, die politisch korrekten Pädagogen - was für ein Pandämonium
von Zeitgenossen: „Die Strahlungen, die heutzutage auf den Menschen einwirken,
sind vielfältig und stark, dass man in Bleianzügen herumlaufen müsste, um vor
ihnen gefeit zu sein. Ganz besonders von oben dringen sie, durch die
Schädeldecke, in uns hinein und bringen den Organismus durcheinander. Man muss
sich das vorstellen wie Mikrowellen aus dem All. Sie bringen unser Hirn in
Schwingungen und wärmen es, wodurch es zu Mus verkocht."
Kein Nörgler-Buch
Ein Nörgler-Buch?
Mitnichten der Ich-Erzähler erhebt sich nie über die anderen, er schaut nur,
hört, notiert, denkt z. B. warum es heute so wenige Genies gibt. Und
antwortet, indem er Schiller zitiert: „Gelegenheitlich muss ich anmerken,
dass ich nunmehr der Meinung bin, dass Genie, wo nicht unterdrückt, doch
entsetzlich zurückwachsen, zusammenschrumpfen kann, wenn ihm der Stoß von
außen fehlt."
Dieses Buch ist ein Stoß
von außen. Es wird keine Genies aus den Lesern machen, aber ihnen helfen, ihr
tägliches Leben mit dem nötigen inneren Abstand zu betrachten. Soeben hat
Zschokke für dieses leise Buch mir viel Sprengkraft den Solothurner
Literaturpreis 2006 erhalten.
"Die Furche", Wien, Nr.23/
8. Juni 2oo6
Wissen ist grauenvoll
UNTERWEGS. Matthias
Zschokke spaziert an den Rändern des Alltags.
Karin Grossmann
Am Ende sitzt Maurice mit
seiner Freundin in einem Restaurant. "Dann betrachten beide glücklich das Essen
vor sich auf dem Tisch und schweifen in Gedanken ab." Das Buch ist ein einziges
Abschweifen. Gentechnik und Goethes "Faust", die Faulheit und das Fensterputzen,
der Jugoslawienkrieg und die Schuhmode, alles muss langsam bedacht werden. Jede
Zeitungsnotiz löst einen sanften Assoziationsschub aus, jeder Spatz im Park.
"Das Kriechen einer Schnecke, das Glitzern frühmorgendlicher Sonnenstrahlen auf
deren Schleimspur, das, sagt Maurice, ist der Stoff, aus dem Kunst besteht.
In diesem Sinne ist der neue
Roman von Matthias Zschokke ganz zauberhafte Kunst. Er ist das achte Prosawerk
des Schweizer Schriftstellers, Theaterautors und Filmregisseurs. Ein stilles
Stück Widerstand gegen die Eilfertigkeit der Zeit. Zschokke, 52, verweigert
seiner Hauptfigur ein aufs Praktische, Prosaische und Effiziente gerichtetes
Dasein. Dieser Maurice geht als schwermütiger Flaneur an den Rändern des Alltags
entlang. Es sind profane Begebenheiten, denen sein aufmerksamer, leicht
kritischer Blick gilt. Er beobachtet unscheinbare Figuren: den Nachbarn und eine
Ladeninhaberin, einen Radfahrer und den Zeitungsleser im Café. "Wenn wir
jederzeit offen genug wären, zu sehen, was uns umgibt, dann hätten wir ein Leben
voller Überraschungen."
Sentenzen streut Zschokke
gern in seinen Text ein. Beiläufig wechselt er die Perspektiven, erzählt über
Maurice und lässt ihn selber in Briefen sprechen. Wie der Autor ist dieser Mann
aus der Schweiz nach Berlin gezogen. In einem heruntergekommenen Viertel
betreibt Maurice ein Büro, das er Kommunikationskontor nennt. Dort erledigt er
für andere die Korrespondenz mit Ämtern, Krankenkassen, Vermietern. Zumindest
behauptet er das. Mehr als ein möglicher Auftraggeber interessiert ihn jedoch
das Cello auf der anderen Seite der Bürowand. Für den Autor war es schon einmal
Thema einer Erzählung. Es könnte sein, dass dieses Cello ein griesgrämiger Mann
spielt. Oder eine erregende junge Frau. Matthias Zschokke erzählt mögliche
Begegnungen in wundersam bizarren Szenen. Alles kann auch ganz anders sein: das
Cello ein Klavier, die Freundin von Maurice ein Geliebter. "Wissen ist
grauenvoll, erholsam dagegen das Ahnen", heißt es im Buch. Der Autor gibt der
Fantasie ein Fest.
Den schwebenden Tonfall des
Wirklich-Unwirklichen hält Zschokke selbst dann durch, wenn er vom Sterben
schreibt. Dabei liefert er ein gnadenloses Mutterporträt. Maurice kehrt mehrfach
in die Kindheit zurück, nach Ins, wo um 1900 jener Maler lebte, von dem das Bild
"Maurice mit Huhn" stammt, Albert Anker. Er hatte in dem Bild seinen
fünfjährigen Sohn gemalt. Später nannten viele dort ihre Söhne Maurice. Dass
einer da seiner Identität nicht sicher ist, verwundert das?
"Sächsische Zeitung",
Dresden, 24./25.6.2oo6
Vogelfrei, im losen Glück
Matthias Zschokke
feiert mit seinem neuen Roman Erfolge. Dabei umkreist er in
«Maurice
mit Huhn»
liebenswert und zugleich bitterböse das Thema der Erfolglosigkeit.
Thomas Feitknecht
Es kommt nicht jedes
Jahr vor, dass ein
Schweizer Autor für
ein Buch nacheinander
gleich drei Preise einheimst. Bei
Matthias Zschokke ist das mit dem neusten
Roman «Maurice mit Huhn» der Fall: Der 1954 in Bern geborene
Wahlberliner Zschokke wird morgen
Montag mit dem prestigeträchtigen, mit 20
000 Franken dotierten Solothurner
Literaturpreis ausgezeichnet, den
vor ihm u. a. Wilhelm Genazino (1995),
Christoph Ransmayr (1997) und
Christoph
Hein (2000) erhalten haben. Mitte
Juni hat Zschokke bereits einen Buchpreis
des Kantons Bern abgeholt, und im
September
kann er in Zürich einen Preis der
Schweizerischen Schillerstiftung
entgegennehmen. «Zschokke im Glück»,
verkündet deshalb der Ammann-Verlag
stolz auf seiner Internetseite. Doch
kein Autor weiss so gut wie Matthias
Zschokke, dass das ein «loses
Glück» ist (wie der Titel seines vorletzten
Buches lautet). Er hat das Thema des von der Kritik gelobten und
vom Publikum verschmähten Schriftstellers
immer wieder behandelt. Und «Maurice
mit Huhn» ist nicht zuletzt auch die Selbstdarstellung und -bezichtigung
eines im landläufigen Sinne
Erfolglosen.
Immerhin: Diesmal ist
mit dem«fulminanten Presse-Echo» (so
der Ammann-Verlag, der Zschokkes Werk seit
1999 betreut) auch ein
kommerzieller Erfolg verbunden. Der im Frühjahr
erschienene Roman «Maurice mit
Huhn» ist in den vergangenen Wochen
unter die zehn meistverkauften Bücher der
Schweiz vorgestossen und liegt
mittlerweile in dritter Auflage
vor.
Zerfallende Wörter
An den diesjährigen
Solothurner Literaturtagen
hatte einzig der südafrikanische
Literatur-Nobelpreisträger John
M. Coetzee einen
grösseren Zulauf als
Zschokke, dessen
Lesung mehr als
doppelt so viele
Eintritte zählte wie erwartet
und eilends in den grossen Konzertsaal
umdisponiert werden musste. Das dürfte
nicht anders sein, wenn Zschokke Anfang
August im Albert-Anker-Haus im
Seeländer Dorf Ins aus «Maurice mit Huhn» vorliest. Denn von dort kommt
«der Stoff, aus dem Kunst besteht», wie
der Autor in seinem Roman bemerkt:
«Kunst will nicht das Dramatische,
Grandiose, von allen Erkannte», meint er, sondern will dem
Unauffälligen, Unscheinbaren, Alltäglichen
nachspüren. Darum hat Zsc
hokke
als Titel und Leitmotiv auch das 1877
entstandene Gemälde des Seeländer
Malers Albert Anker gewählt.
Ankers Maurice ist
ein zarter Knabe mit feinen Lippen und
verwundert-wissend dreinblickenden Augen,
der ein weisses Huhn fest, aber
liebevoll in den Händen hält und dem
Maler präsentiert. Und diese
gegensätzlichen Züge prägen auch
den Protagonisten des Buchs. Dieser «Maurice» ist der
Konterpart, das andere Ich von «Max»,
der Titelgestalt von Zschokkes
erstem Buch. Aber er ist eben kein
böser Bube Moritz, sondern ein gealterter und
geläuterter Maurice, der weicher und
weiser, verletzlicher und nachdenklicher
geworden ist. Er lebt in Berlin und
betreibt ein wenig lukratives «Kommunikationskontor»,
er korrespondiert mit seinem viel
erfolgreicheren Schulfreund Hamid in
Genf, er beobachtet den Niedergang
der Geschäfte in seinem Stadtteil, er sitzt sinnierend im
Café «Solitaire», er besucht die greise
Mutter, er reist an ein
Klassentreffen in die Schweiz, er unternimmt mit der
Freundin eine Städtereise nach Turin
und stellt sich vor, wer wohl in der
Nachbarschaft so eifrig Cello (ein Motiv aus dem Erzählband «Der neue
Nachbar») und später Klavier spielt
Die Schilderungen
sind Momentaufnahmen,
festgehaltene Augenblicke wie das Bild des Malers. Das wirkliche
Leben, vorher und
nachher, ist anders,
und als Maurice am
Ende erfährt, wer
Cello geübt hat und
wer jetzt am Klavier sitzt, ist er
desillusioniert: «Das Geklimper von
nebenan stört ihn, seit er weiss,
von wem es kommt.»
Verglichen mit dem
manchmal geradezu
eruptiven «Max» ist die Sprache in
«Maurice mit Huhn» glatter und
geschmeidiger geworden, aber sie ist
ebenso hintergründig und skeptisch
geblieben. Im Roman «Der dicke Dichten»
(1995) schreibt der Autor, dass ihm «die Wörter zerfallen zwischen den
Zähnen» - ein indirektes Zitat von Hugo von
Hofmannsthals berühmtem «Brief des
Lord Chandos» (1902), der klagt, die Worte «zerfielen ihm im
Munde wie modrige Pilze». «Maurice
mit Huhn» hat als grosses Thema
ebenfalls die Frage, wie mit der Sprache
der Wirklichkeit beizukommen sei.
Erkenntnis ist stets nur im Rückblick, nicht im Augenblick möglich:
«Man
weiss selten, dass man glücklich ist,
meistens nur, dass man glücklich
war.» Wichtig wird das scheinbar
Unwichtige, das Schöne ist bloss
Schein, der Mutlose ist der wahrhaft Mutige, der
trotz allem weiterlebt. «Maurice hat nie
richtig denken gelernt. Er ist bis
heute dumm geblieben und lebt in der
beständigen Angst, enttarnt zu werden
als das, was er ist und am Ende
gewesen sein wird: ein Wissenskörner
pickendes Huhn, das Huhn in seinen
eigenen Armen.» Damit nimmt der
Autor ein Bild aus seinem vorletzten
Buch, «Das lose Glück», auf, wo er
«zerrupfte Hühner» beschreibt, die
über den Hof schreiten, «vogelfrei, im
losen Glück».
Sozialkritik
Dem Huhn, das Körner pickt, entspricht das
Erzählprinzip. Geschichten. Erinnerungen, Anekdoten und Ereignisse sind
scheinbar so lose and unerklärbar
aneinander gereiht wie im
«wirklichen» Leben. Was zunächst als
Faktum geschildert wird, nämlich eine
Sexszene auf dem Balkon zwischen
Maurice und der Cellistin, wird wenig
später als Phantasie entlarvt. Die Greisin
spielt bloss die Rolle der Grossmutter,
und die Frau, mit der Maurice zusammenlebt, jene der Geliebten. Und
zwischendurch hinterfragt der Erzähler
seine eigene Rolle und durchbricht
so die Illusion der Geschichte.
Immer wieder fragt Zschokke nach dem, was in
unserer Leistungsgesellschaft als Erfolg
gilt. Wenn er von der
Selbsteinschätzung und der Selbstüberschätzung spricht und sich über
künstlerisches Talent äussert, dann hat
das sehr wohl autobiografischen
Charakter. Denn als Schreibender zweifelt er immer wieder an sich selber
und misstraut den grossen Worten anderer.
Aber er ist gleichzeitig auch ein
politischer und sozialkritischer Schriftsteller, der mitunter mit sanften
Worten harte Wahrheiten über die
Gesellschaft sagt, etwa bei der
Schilderung der regen Bautätigkeit im wiedervereinigten
Berlin, die er mit der «Kunst des
Strassenbaus» im Dritten Reich in
Verbindung bringt, mit dem Fazit: «Strassen
sind in Deutschland dank der langjährigen
Erfahrung etwas geradezu Gefedertes,
Gedämpftes, Samtenes.» Das Dilemma der menschlichen Existenz schliesslich
ist in einer geradezu Dürrenmattschen Dialektik zusammengefasst:
«Wer soll einen mögen, der sich
selbst nicht mag. Wie aber soll sich einer
mögen, der erkannt hat, dass er nur dann gemocht wird, wenn er die ändern
dazu nötigt, ihn zu mögen.»
Gerade dieses
Vieldeutige und Subtile
in Zschokkes Prosatexten und Dramen
findet in der Romandie offene Ohren.
Drei Romane sind bei den Editions
Zoe erschienen, und
die Stücke werden in Genf und Lausanne
gespielt. Am 26.9. wird «L'lnvitation» («Die Einladung») am Théâtre
de Carouge (GE) von
Michel
Kullmann uraufgeführt. Schon vorher,
am 5.8., hat im Théâtre
de l'Orangerie in Genf «Bonheur flottant» (eine Theaterfassung von «Das
lose Glück») Premiere.
"Neue Zürcher
Zeitung am Sonntag", 2.7.2oo6
«Es hat alles meinen starken Akzent»
Matthias Zschokke richtet in
seinen
Filmen und
Büchern
die Aufmerksamkeit auf das Unbeachtete. Er schafft eine
eigene
Welt der Poesie,
voller
Abschweifungen.
Urs Bugmann
«Was Maurice noch sagen wollte:
Wissen ist grauenvoll, erholsam dagegen das
Ahnen.» Maurice, Erzähler und
Hauptdarsteller in Matthias Zschokkes
neuem Roman «Maurice mit Huhn» ist ein durch und durch Untüchtiger. Er
flaniert durch sein Leben, ein Aufmerksamkeitsflaneur,
dem das Nebensächliche auffällt und
dem das von allen für wichtig
Gehaltene entgeht. Das Ahnen, der
Blick auf das Scheinbare ist seine
bevorzugte Erkenntnisform. «Eine Greisin an einem Fenster erweckt den
Anschein, in diesem Buch die Rolle von
Maurice' Mutter übernehmen zu wollen.»
Was sich zur Gewissheit verfestigen könnte, rückt dieser Erzähler sofort
wieder weg ins Ungefähre, «weil ihm
das Ungeklärte lieber ist».
Ein Ort
zum Stranden
Maurice lebt
im Norden Berlins, am
Rande, wo nur
bleibt, wer nicht weiterkommt.
«Das ganze Leben besteht daraus,
seinen Ort zum Stranden zu
finden.» Den
hat Maurice gefunden. Er sitzt in seinem «Kommunikationskontor», schreibt Briefe «für ausländische und
orthografisch benachteiligte Mitbürger»
an Behörden und Amtsstellen.
Maurice ist
hängen geblieben. Seine
Briefe bringen ihm genug ein, um zu
überleben, und mehr braucht der Untüchtige
nicht. Von Nebensache zu Nebensache
geht er durchs Leben, schreibt in
Briefen an Hamid auf, was er sieht und
denkt, erzählt von Maurice mit dem
Huhn auf den Armen, den der erfolgreiche
Maler von Bauernszenen 1877 in seinem
Dorf gemalt hat. nahe der Provinzstadt L., aus
der Maurice kommt.
Leben im Erzählen
Seinen Namen
hat
dieser Erzähler und Nicht-Held aus der
Kunst, und sein Leben ist ein
Kunstleben: Er lebt nur im Erzählen,
seine Wirklichkeit ist die des Buchs.
Und doch hat sein Leben
Teil an der Welt au
sserhalb
- nur liegt das Gewicht nicht dort, wo
die Wichtigkeiten sind, sondern
im Innern, wo dieses
Äussere aus Ahnung und Anschein sich
verdichtet. «Er sehnt sich wie wir alle
nach einem Zustand, in dem sein Inneres
mit seinem Äusseren im Einklang ruht»,
sagt Maurice über seinen Freund
Flavian.
Flanieren im Grenzland
«Maurice mit
Huhn» ist ein Buch der
Abschweifungen. Sein Erzählen wächst
aus dem Warten, sein Flanieren vertreibt
im Grenzland zwischen Wissen und
Ahnen, vertreibt die Zeit und schafft
Leben. Es ist Poesie, was so entsteht
und sich im Entstehen feiert. In
einem Zeitungsartikel findet Maurice dazu eine
Parallele, wenn er über
ein
Bild von Max Liebermann
liest: «Nicht das Motiv, sondern die
Schwierigkeit, es abzubilden, reizte,
Kunst will nicht das Dramatische,
Grandiose, von allen Erkannte. Woraus man einen Film
drehen sollte, worüber man einen Roman
schreiben sollte, das ist nicht das,
woraus gute Filme, gute Romane
gemacht sind. Wovon man die Finger lassen sollte, woraus man nichts machen
solle, das ist offenbar der Stoff, aus
dem Kunst besteht.»
Das ist das
künstlerische Credo von
Matthias Zschokke, der seit 1980 als Autor
und Filmemacher in Berlin lebt. Vier
Jahre hatte er zuvor ein Engagement
als Schauspieler in Bochum. Nach
Deutschland ging er damals, «um mir
meinen starken Schweizer Akzent abzugewöhnen».
Mit der Schauspielerei wurde es
nichts, Zschokke blieb trotzdem in Deutschland. «Das Leben in
Berlin war damals sehr günstig, das gab den
eigentlichen Ausschlag.»
Ein
Knick in der Optik
Und der Akzent ist ihm geblieben.
Sein Berlin ist ein anderes als jenes, «das man heutzutage in Deutschland
meint zu kennen und zu wollen». Sein
Berlin nimmt er als ein ländliches wahr.
«Wo man lebt, ist weniger entscheidend. als wie man lebt.» Dieses Wie
schlägt sich nieder in den Filmen von
Matthias Zschokke, in seinen Büchern -
es ist sein Akzent: «.Alles, was ich
mache, erhält, ohne dass ich es will,
weiterhin meinen starken Akzent, den
ich mir nicht abgewöhnen konnte. Mein
Freund sagt, ich hätte einen Knick in der Optik. Einem selbst fallt das
natürlich nicht auf.»
Bildmächtige
Traumwelt
Dieser «Knick
in der Optik» lässt den Filmer Matthias Zschokke rätselvoll
schwebende Filme aus einer Welt zwischen einer erlebten und erinnerten
Wirklichkeit und einer bildmächtigen Traumwelt drehen und Bücher
und Stücke schreiben, die wie die Filme nach so etwas wie dem «reinen Stil»
suchen, nach einer Integrität, die frei ist
von Selbstbetrug, diesem Selbst aber
immer nah auf den Fersen bleibt. Deshalb ist es das Nebensächliche und
Unscheinbare, das sich darin zu Poesie
formt, denn das Selbst lebt nicht spektakulär
Und doch findet die schweifende und
ahnende Aufmerksamkeit des Flaneurs
bei sich die grossen und
bedeutenden Stoffe: «Wer etwas genauer
hinschaut», heisst es in «Maurice mit
Huhn», «wird feststellen, dass sich in
seiner unmittelbaren Umgebung die
unfassbarst
en
Tragödien und Komödien
ereignen und er gar nicht ins Fantasiereich der anderen auszuwandern
bräuchte, um angeregt zu werden.»
"Neue Luzerner Zeitung", 4.7.2oo6
[…] Der in Berlin lebende Schweizer Matthias
Zschokke hat mit "Maurice mit Huhn" einen grandiosen Roman vorgelegt und
flaniert mit seiner Geschichte, die kleine Beobachtungen und Träumereien zur
Hauptsache machen, auf Robert Walsers Spuren. Auf jeder Seite gibt es
Kostbarkeiten zu entdecken und kleine Wahrheitsschätze in die Arme zu schließen.
[…] Durch Berlin radeln, Briefe schreiben,
Celloklängen lauschen und die Geliebte treffen – wer nicht mit Maurice tauschen
kann und dennoch etwas vom Leben haben möchte, muss diesen Roman lesen. Nie war
das kalte Berlin gemütlicher, selten ein trauriger Held liebenswerter und seit
Langem kein Schweizer Autor mehr so grenzenlos gut.
Sonja Osterwalder, "Basler Zeitung", 1.7.2oo6
Belletristik: Kurz und knapp
Bedienungsanleitung: Nehmen Sie dieses Buch, wenn die Welt still geworden ist.
Öffnen Sie die Balkontür, so Sie eine haben. Horchen Sie in die Stille. Dann
lesen Sie los. Und nehmen Sie sich Zeit, dieses ist das langsamste Buch der
Saison. Sie müssen nicht unbedingt am Anfang anfangen. Muß gar nicht sein. Sie
können hier lesen. Oder da. Es wird Ihnen gehen, wie mit Ihren Erinnerungen vom
Tag. Bilder scheinen auf, Geschichten, Szenen, Dramolette,
Welterklärungsversuchsversuche. Maurice nimmt uns mit in seine Stadt, durch
seinen Kiez. Berlin. Nordosten. Maurice hört das Cello vom Nachbarn, Maurice
fährt Fahrrad, Maurice flaniert. Maurice blickt ins Auge des Stillstands, des
Niedergangs. Roman ist vielleicht die falsche Gattungsbezeichnung für dieses
allem erzählerischen Turbokapitalismus Widerstand leistende Wunderwerk. Ein
Wunderwerk ist es aber schon.
DW,
"Die Welt", Berlin, 22.7.2oo6
Blitzgescheites übers moderne Leben und seine Unübersichtlichkeit. Ein untüchtiger Held, zartsinnig verwickelt ins Alltägliche, Hässliche, Verlorene – und das Schöne darin. Lust der Augen, Lebensfeier ohne Pathos, federleicht und froh und traurig. Berlin hat wieder eine Flaneursprosa, würdig eines Hessel oder Auburtin.
Andreas Nentwich, Service Bestenliste - Alfred-Kerr-Preisträger empfehlen. "Börsenblatt", Frankfurt, 25/ 2oo6
Un songeur à Berlin
Jean-Maurice de Montremy
Suisse installé à Berlin, Matthias
Zschokke redécouvre la ville par les yeux d'un personnage rêveur, tendre et
velléitaire. Une songerie insolite et
doucement prenante.
Maurice vit à Berlin dans un quartier
du nord, empreint de cette monotonie propre à l'urba-nisme ordinaire des
lointaines années de guerre froide: quelques immeubles de l'ancien temps
rescapés des bombes, mal entretenus, se mêlent à des nouveautés indifférentes.
C'est une zone presque oubliée de la ville par laquelle transitent ceux qui
viennent de l'Est avant de disparaître vers le centre.
Maurice y travaille seul, très
vaguement, pour une vague soustraitance d'un négoce d'improbable champagne. Il
songe des heures durant, observe, écoute, puis écrit régulièrement à son associè
de Genéve - un certain Hamid, d'origine perse.
Quelque part dans l'immeuble ou dans
l'immeuble voisin quelqu'un joue parfois du violoncelle, s'accorde, arpège.
Alors la songerie de Maurice s'élève: «Plus les notes montent, plus je les
aime. Voilà des millénaires que l'être humain se donne du mal pour aligner et
superposer des notes comme personne encore ne les a arrangées avant lui [...]
alors qu'il pourrait tout simplement s'asseoir et jouer une gamme sur trois
octaves, et chaque auditeur sentirail alors son cceur s'ouvrir, la lumière
entrer dans sa tête, les larmes lui monter aux yeux et son nez se mettre à
picoter.»
Le plus souvent, Maurice observe le
quartier par sä fenêtre, fait le tour des quelques com-merces eux-mêmes passés
de mode, avec le charme désuet propre aux choses modernes déjà sorties de
l'Histoire. Il s'enquiert du violoncelliste - ou de la violoncelliste - sans
jamais parvenir à bien localiser d'où vient la musique, ni savoir qui joue, et
pourquoi. Son imagination fait le reste.
Maurice est seul mais pas vraiment solitaire.
Il a quelques camarades berlinois aux
destinées bizarres. Il a une tendre amie. I1 a beaucoup d'idées douces,
fantaisistes et discrètes. Chaque jour,«il se demande ce qu'il a expérimenté
d'essentiel aujourd'hui». Rien, évidemment - ou, du moins, c'est ce que
croit Maurice. Le lecteur, depuis les premières lignes, éprouve le sentiment
contraire: quelque chose d'essentiel s'expérimente au fil des phrases,
poétiquement traduites par Patricia Zurcher. L'angoisse, l'amour, la mort qu'il
faut affronter, tout Maurice qu'on soit, dans cette boucle perdue du fleuve XXIe
siècle.
Cette pastorale berlinoise orchestrée
par un Suisse d'origine paysanne prolonge la rêverie d'autres promeneurs
solitaires, eux aussi nourris de versets des Ecritures: Rousseau, Gottfried
Keller, Robert Walser. La politique ou les débats d'aujourd'hui y sont d'autant
plus perceptibles que Maurice feint de se résigner ou d'éviter ce qui fâche.
Né à Berne en l954, Berlinois depuis
1980, Matthias Zschokke est également dramaturge: cela se sent à la maniere de
traiter la « voix », la présence, de Maurice et des quelques personnages qui
gravitent autour de ses méditations. Il a réalisé trois films: cela se sent à la
qualité du regard.
Ce regard a déjà surpris le lecteur
dès la couverture du livre. On y remarque les yeux d'un garcon et l'oeil d’une
poule blanche: une tableau de 1877. Le garcon blond tient la poule dans ses
mains. L'oeuvre se nomme Maurice à la poule. Les réflexions et souvenirs
du Maurice berlinois s'acheminent peu à peu vers l'enfant suisse à blouse
bleue.«On voudrait avoir un fils et une poule comme ça; on voudrait savoir
peindre comme ça.» Et c'est précisément ce que réussit le narrateur du
livre. D'un banal faubourg d'une grande ville et de personnages «sans qualités»
il a fait une image grave et malicieuse du temps.
« LivresHebdo», Paris, 13.2.2oo9
Roman Samedi28 Février 2009 "Les Temps"/ Genève
Le vide peuplé par Matthias Zschokke
Par
Lisbeth Koutchoumoff
En quête de la
sensation d’exister, le personnage central de «Maurice à la poule» passe son
temps à regarder. Le troisième roman de Matthias Zschokke tient en haleine en
s’insinuant dans les creux de l’existence.
Genre:
Roman
Réalisateurs:
Matthias Zschokke
Titre:
Maurice à la poule
Maurice mit Huhn
Langue:
Trad. de Patricia
Zurcher
Studio:
Zoé, 258 p.
Peut-on être maître de son existence ou n’est-ce qu’un leurre? Faut-il même
aspirer à trouver un gouvernail, un fil conducteur aux journées qui défilent ou
au contraire se laisser porter par les éclats du kaléidoscope d’impressions, de
lumières, d’émotions, de notes de musique que la vie déverse jusque dans ses
plus infimes manifestations?
Maurice n’a pas
tranché. Il sait juste qu’il ne doit pas se laisser gagner par la panique et
s’habituer peu à peu au vide. Il passe en effet son temps à attendre des clients
qui ne viennent pas dans ce Berlin des quartiers nord où il a ouvert une échoppe
d’écrivain public. Dans ce néant apparent, il laisse venir à lui les mille et
une pensées qui surgissent dans son esprit, écrit à un ami de Genève, regarde
par la fenêtre, élabore toute une construction de réflexions sur tout et rien,
des informations lues dans les journaux, racontées par les amis sur les effets
protecteurs de la soie, sur les habitants de son quartier, leur envie farouche
d’en partir, l’accablement qui saisit ceux qui n’y parviennent pas. Et l’on
écoute d’emblée cette voix qui s’attarde sur l’infiniment petit, ces scènes de
rue a priori sans accidents, et qui dit en fait une méthode instinctive pour
conjurer la peur et se laisser rattraper par la vie comme on peut être surpris
par la marée montante.
Matthias Zschokke livre
bien un roman existentiel avec Maurice à la poule parce qu’il se cabre sur le
regard et ses résonances mentales. Parce qu’il est une invitation à se laisser
envahir plutôt qu’à partir en campagne. A admettre que les mots épuisent et que
la musique tient en éveil. Maurice n’assène rien du tout, attention, il laisse
affleurer. Il ficelle son flot d’images réelles et mentales avec un humour
permanent et immédiat. Car quoi faire d’autre que rire pour peu que l’on
s’arrête et que l’on regarde?
Maurice à la poule est
le troisième roman de Matthias Zschokke qui est un Bernois de Berlin ou vice
versa. Il écrit du théâtre aussi. D’ailleurs les Editions Zoé publient également
trois de ses pièces La Commissaire chantante, L’Ami riche et L’Invitation où
l’humour, la dérision, la capture de ces moments suspendus où l’on admet la
défaite, irrévocable, constituent la toile sous-jacente.
L’échec danse en
permanence sous les yeux de Maurice qui regarde par la fenêtre ou la porte de
son bureau des migrants en rade, des piliers de bar, des chômeurs en stage. Il
sait aussi qu’il doit tenir, lui. Dans l’inaction, il se fait suractif. Son
attente de la fin de la journée fourmille. En plus, Matthias Zschokke le met en
dialogue involontaire avec un narrateur qui l’observe. Au fil des digressions
qui bouclent et rebouclent, ce narrateur prendra de plus en plus massivement la
parole jusqu’à dire je et à raconter lui aussi sa propre sensation du temps
faite de croisement de micro-impressions, d’échanges loufoques avec un père
grabataire, de viande à paner et à faire revenir dans le beurre, de regards à sa
fille qui grandit.
La juste description de
l’empêchement à goûter le monde, de la fatigue qui découle du sentiment d’être
en permanence derrière la vitre (Maurice déteste laver les carreaux rongés par
les plantes grimpantes de son office), mais aussi de la libération qui surgit
une fois la défaite admise, les étés qui se déploient alors sur les trottoirs,
dans les trains, voilà sans doute ce qui plaque le lecteur, surpris, à ces riens
qui s’ajoutent au fil des pages.
Deux grandes zébrures
écartèlent le roman. La première est nostalgique. Maurice se souvient d’un
séjour au bord du lac de son enfance, près de Berne. Il a regardé les baigneurs,
les bateaux, un couple de jeunes amoureux, dans un café, dont les joues
rosissaient avec le soleil de plus en plus couchant. Le soir, il s’est senti
soûl de plénitude, rassasié de réalité, «inondé de l’intérieur». Ailleurs dans
le livre, il est longuement question du talent, à propos de musiciens,
d’écrivains. Qui laissent la vie les remplir et les noyer.
Le deuxième éclair qui
aveugle les pages est érotique. Il surgit sur un balcon, en plein jour, tandis
que les livreurs livrent en bas dans la rue. Inutile de préciser que la douceur
intense qui baigne la scène, et toute la scène d’ailleurs, est réellement
imaginaire.
Maurice à la poule
(Maurice mit Huhn)
de Matthias Zschokke
Maurice a une petite échoppe
d'écnvain public dans un quartier
miteux de Berlin. Chaque matin, il
traverse la ville sur son vieux vélo
grinçant, lui qui, enfant, s'était
pourtant juré de toujours être
silencieux comme un Indien. Maîs
l'essentiel est demeure chez Maurice
cette façon d'être au monde en
ouvrant de grands yeux et qu'on
peut appeler l'esprit d'enfance.
Pour qui n'a pas sa vie tendue
entre un début de journée et une
sortie de bureau, le monde est un
kaléidoscope d'images, d'odeurs
et de sons, comme cette musique
de violoncelle qui fait deviner à
Maunce une présence mysténeuse.
Il finit par rencontrer la personne
qui mame cet instrument, une
jeune femme qui devient à son
tour l'instrument d'une vision erotique.
Le rêve acquiert ici une
consistance romantique qui donne
sa matière au livre.
Ce troisième roman de Matthias
Zschokke, écrivain suisse né à
Berne en 1954 et qui vit à Berlin,
est composé de cercles qui, en se
croisant, délimitent des aires de
réflexions, des plages d'évocations
comme celle du tableau du
peintre Albert Anker qui donne
son nom au livre. Zschokke
nous fait sentir que le rien est
parfois plus dense qu'un hypothétique
tout. Un livre plein de
charme, léger et profond comme
ses trois pièces de théâtre traduites
(La Commissaire chantante ;
L'Ami riche et L'Invitation)
qui paraissent chez le même
éditeur.
Pierre Deshusses, Le Monde des Livres, Paris, 17.4.2oo9
Une trouée d'air frais dans une vie ronronnante
Légende photo: Mathias
Zschokke ou les soubresauts d'une écriture vagabonde.
Récemment paru aux éditions Zoé, «Maurice à la poule»,
roman de l'écrivain bernois Matthias Zschokke, dépeint la vie
excentrique d'un homme qui, pour notre plaisir, a oublié de s'ajuster à
la réalité.
C'est un roman qui finit comme il a commencé: dans un flou cotonneux.
Entre-temps, on aura vécu, les yeux écarquillés, le vertige d'une
existence. Celle de Maurice, un homme farouche et docile, drôle et
mélancolique, solitaire et ouvert, fou et sage. Un déphasé qui cultive
les paradoxes. L'un de ceux qui flottent dans la vie comme on flotte
dans un costume large.
Le plus surprenant, c'est que Maurice ne semble pas mal à l'aise dans
ce costume. Pas étonnant, car son créateur Matthias Zschokke vient du
monde du théâtre. Et il n'y en a pas deux comme lui pour vous arranger
une silhouette.
Le vêtement a donc son importance ici. Pas pour les raisons que l'on
soupçonne (élégance, séduction...), mais pour d'autres, celles-là
psychologiques. Maurice a plusieurs peaux et autant de rôles dans la
vie. Il endosse chaque habit avec beaucoup de sérieux, mais s'en échappe
quelques fois, histoire de laisser son corps s'aérer.
Fantasme
Le voilà donc dans sa nudité crue, face à une violoncelliste de 25
ans sur laquelle il fantasme obstinément. Entre la jeune femme et lui,
juste une cloison qu'il abat d'un geste érotique, avec la force d'un
homme qui n'a plus que ses rêves pour s'échauffer.
La musique de la petite, il l'entend depuis longtemps. Elle traverse
les murs de son bureau. Elle traverse aussi tout le roman de Matthias
Zschokke, lancinante, chargée des brumes du passé et des contraintes du
présent.
«Enfant, chaque été, Maurice était placé par ses parents dans un
centre de vacances, non loin de chez lui». Chez lui, c'était la Suisse,
que l'on devine bucolique, paisible et solitaire sous la plume de
Zschokke. Souvenirs d'une Suisse rurale d'avant la modernité, comme la
voyait jadis Robert Walser auquel on ne cesse de penser ici.
Cette Suisse-là, Maurice l'a quittée il y a bien longtemps. Il y a
bien longtemps qu'il est installé à Berlin où il a ouvert un «bureau de
communication», avec la complicité de Hamid, un ami d'enfance justement,
fils de Persans, sorti «tout droit des Mille et une nuits» et qui, lui,
vit à Genève.
Maurice tient la correspondance administrative du bureau. Rôle
ennuyeux qu'il compense par des lettres passionnelles, écrites en toute
audace et naïveté, à son associé Hamid. Une grande partie du roman
repose d'ailleurs sur cette correspondance à sens unique (le
destinataire ne répond jamais), reflet d'un délire existentiel où se
recoupent les multiples voix du héros.
De Berlin à l'Orient
Où circule aussi, dans l'enchevêtrement des rues berlinoises, la
pensée du romancier. Réflexions hilarantes sur la modernité puante des
grandes villes, sur la mode comme moteur puissant de l'économie, sur «la
fièvre de l'argent» qui frappe «tel le choléra asiatique», sur la
cupidité du corps médical...
Et puis subitement, une parenthèse s'ouvre dans ce monde en folie.
Débarque alors comme par magie, l'Orient, son «flegme fataliste», ses
hammams, «sex-clubs mal famés», occasion pour «une orgie sodomique».
A l'intrigue linéaire, Zschokke préfère les soubresauts d'une
écriture vagabonde, souvent incontrôlable dans ses embardées littéraires,
anecdotiques, philosophiques. Un style libre auquel il a habitué ses
lecteurs de théâtre. Certaines de ses pièces, comme «L'Heure Bleue ou la
nuit des pirates» et «La Commissaire chantante» (toutes deux créées en
français à Genève), ressemblent à des trouées d'air frais dans l'épaisse
couche d'une existence ronronnante.
Il en va de même de «Maurice à la poule», portrait d'un homme qui,
pour notre plaisir, a oublié de s'ajuster à la réalité.
Ghania Adamo, swissinfo.ch, 18.5.2oo9
"Le Canard enchaîné", Paris, 1.7.2oo9
Jitka Nešporová
Mathias [sic!] Zschokke: Maurice mit Huhn (Maurice s kuřetem), Zürich, Ammann Verlag, 2006, 240 s.
Nepřestává překvapovat, s jakou lhostejností člověk celá tisíciletí tráví svůj tak krátce vyměřený čas, sedí, leží, mluví o bezpředmětných banalitách, bez chuti ukusuje pochutiny, bez žízně upíjí tekutiny, pozoruje věci, které mu nic neříkají, vydává se na cesty, co vedou na místa, kde nemůže nic ztratit, a to s nezlomnou vírou, že je bytostí obdařenou rozumem, a přemýšlí nad tím nebo nad něčím jiným, přitom si ale ve skutečnosti nemyslí nic, jen se pomalu šine, věčně činí tytéž špatné závěry, motá se v kruhu celá ta tisíciletí, od sousedních stolů tu a tam pochytí útržky hovorů, o slunečních brýlích nebo kožešinách, o syrovém mase, o policích, o počasí, a najednou má toho všeho dost, matky například, co pozdě večer tápe po bytě, vytahuje jednotlivé kusy oblečení, polévá je hořlavinou, zapálí, hází je za sebe na podlahu, vtom si vzpomene na devítiletého spícího syna, který by neměl uhořet při vědomí, v kuchyni vezme kladivo, jde do dětského pokoje a spícímu chlapci kladivem rozbije lebku, vyděsí se zvuku tříštěných kostí, sama se udeří do hlavy, v záchvatu, pocítí lítost nad cukajícím tílkem, dotáhne ho k oknu, otevře je, aby se dítě neudusilo kouřem, celá zkrvavená probudí druhého, o rok staršího syna a pošle ho pro hasiče, ten z toho má šok, utíká, hasiči jedou, hasí a převezou mladšího do nemocnice, kde se zjistí, že má rozdrcený mozek a poškozené jazykové centrum, že už nikdy nebude mluvit, matku uvězní… A člověk tu pořád sedí, na židlích v zahradách, u stolu při snídani, za pultem v práci, pije pivo, nadává na počasí, mluví o autorádiích a záplavách, pojistných podvodech a sezonních slevách, slunce vychází, slunce zapadá, člověk cvrliká, vrabec na střeše, poskočí sem, poskočí tam, sezobe drobky, nacpe se, i když nebyl prázdný, natáhne se, i když není unavený, vstane, i když není odpočatý, mátoží se z místa na místo, štěká, skočí do vody, něco uplave, lehne si na slunce, aby oschnul, vůbec neví, co dělá, tvrdí, že vším je vinen otec nebo matka, čím vinen, to neví, prostě vinen, myslí si, že přemýšlí, ale neví, jak se to dělá, přemýšlet, sedne si, lehne si, vstane, pobíhá, žene se kolem řady domů, zvoní, chechtá se čemusi, spořádaně jí, nechá se zapřáhnout, táhne káru do zemdlení, kolem krku by mu mohli přivázat soudek, hledá v lavinách, vyhrabává těla, a najednou se zase někdo zapomene, rozcupuje v kanceláři pár kolegů, zavřou ho, aby stejně umřel, a jiní sklouznou do mnohem zrádnějšího nebezpečí, jen přehlušit své nitro, to, co zůstává nevysvětlené, jen aby definitivně nepřišli o rozum, což by se nevyhnutelně stalo, kdyby se bezbranní vydali všanc skutečnosti, tyto podivné bytosti, lidé, co se zničehonic zapomenou a druhého rozsekají.
Mauriceova přítelkyně v poslední době pláče vyčerpáním. Vypadá to krásně. Je to žena ve středních letech, ale pláče, jako by byla pořád dítě. Slzy se jí kutálejí po tváři, ústa se zkřiví, obličej se promění v grimasu a rudne. Skryje hlavu v dlaních a říká, já už nemůžu. S lety přijde únava na všechny a najednou si nedovedou představit, co s životem dál. Maurice někde četl, že prý vítr, který nám fouká do tváře, vane z ráje a zády nás žene vpřed do budoucnosti, zatímco před očima nám do nebe roste hromada zmarněných šancí a zbytečných nadějí. Sklíčenost mé přítelkyně s tím jistě bude souviset, myslí si. A když ho napadne říct, ale no tak, to víš, že můžeš, a ona přestane plakat, má z toho radost. Není to sice nic duchaplného, říct „ale no tak, to víš, že můžeš, to zvládneš“, ale někdy to stačí, a to je pěkné. Maurice se nikdy nenaučil pořádně myslet. Dodnes zůstal hloupý a žije v ustavičném strachu, že vyjde najevo, čím je, čím nakonec budeš také: slepicí, co zobe zrnka moudrosti, slepicí ve vlastní náruči.
iLiteratura.cz, 12.5.2o11