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Museum mit Bühne, Rang und Parkett
- 100 Jahre Moskauer Künstlertheater
Produktion Radio Bremen 1998
Feature von Klaus Kuntze
KK Autor
St. Stanislawski
1. Sprecher (Zitator Kaiser, Musil, Efros, Tschechov, Kortner)
2. Sprecher (Zitator Döblin, Dantschenko, Zar, Meyerhold, Smeljanski)
O-Töne
KK :
Frühmorgens bollern Lieferwagen zum Blumengroßmarkt, über
den Tag gibts Publikumsverkehr beim Arbeitsamt und abends, wenn andernorts
die Vorstellungen beginnen, zieht in dieser Ecke Berlins, nur wenige Meter
vom ehemaligen Checkpoint Charly entfernt, völlige Ruhe ein. Man muß
genügend Phantasie haben, sich vorzustellen, daß hier, am Ende
der Charlottenstrasse, an der Grenze zwischen den Bezirken Mitte und Kreuzberg,
bis Anfang der dreißiger Jahre einmal das "Berliner Theater"
mit seiner prächtigen Fassade stand.
O-Ton Russische Bühnenarbeiter / Atmosphäre
KK :
Im Januar 19o6 ziehen in das vorübergehend nicht bespielte Haus für
einige Wochen Gäste ein.
St :
Die Theaterarbeiter hatten eine äußerst primitive Vorstellung
von der russischen Kunst; offensichtlich verwechselten sie uns mit Akrobaten
oder einem Zirkus und wunderten sich, daß wir weder Trapeze noch Leitern
mitgebracht hatten und keine Drahtseile, um darauf zu tanzen. Die von uns
bestellten Dekorationen waren nicht fertig. - Uns halfen die Arbeiter ...
die mit uns gekommen waren. In einigen Nächten angestrengter Arbeit
( tagsüber war das Theater von einer deutschen Truppe in Anspruch genommen
) bewerkstelligten vier Menschen das, was uns eine Fabrik in einem Monat
nicht gemacht hätte.
KK :
Ungehaltener als in diesen, seinen viele Jahre später veröffentlichten
Erinnerungen, klingt Konstantin Stanislavskij in einem Brief aus jenen Tagen.
St :
Es gilt, eine Kneipe in eine anständige Einrichtung umzuwandeln. Die
Genauigkeit der Deutschen, ihre Sauberkeit, ihre Fähigkeit zu arbeiten
- alles das ist Mythos. In keiner einzigen Provinz habe ich eine so zügellose
Bande gesehen wie hier : wir werden nicht nur ausgeplündert und beraubt,
sondern zugleich verhöhnt und in jeder Weise beleidigt.
O-Ton Szene aus "Zar Fedor" ( russisch )
KK :
Nach intensiven Proben hebt sich am 23.Februar 19o6 der Vorhang zur ersten
Vorstellung, gegeben wird "Zar Fedor Ioannovitsch" von Aleksej
Tolstoj. Gespielt wird selbstverständlich in russischer Sprache. Das
ist offenkundig kein Hindernis. Vierzehnhundert Plätze zählt das
"Berliner Theater", und die sind an diesem Premierenabend sämtlich
besetzt.
Der Ruf des Künstlertheaters - räumt Stanislavskij ein - habe
mit diesem Abend im Ausland, wie in Rußland auf dem Spiel gestanden.
Das Ensemble hat gewissermaßen die Brücken hinter sich abgebrochen.
Die Lage in Rußland ist für das privat wirtschaftende Theater
zu jener Zeit alles andere als rosig. Man schreibt zwar schon das Frühjahr
19o6, aber das heißt nur, daß es da gerade erst wenige Monate
her ist, seit Rußland vom japanischen Kaiserreich im Krieg besiegt
wurde und an seinen innenpolitischen Unruhen, der ersten Revolution, noch
immer heftig würgt. Es sind sogar erst wenige Wochen her, daß
in Moskau ein Aufstand niedergeschlagen wurde. Soziale Unruhen. Das riesige
russische Reich Zar Nikolaus' II. hinkt der europäischen Welt in seiner
inneren Verfassung um Jahrzehnte nach.
Von Moskau hat sich das Künstlertheater-Ensemble auf Reise nach Deutschland
begeben. Fast neunzig Personen : Direktion, Schauspielerinnen und Schauspieler,
Bühnenbildner, die Facharbeiter. Parallel rollen über die zweitausend
Kilometer lange Strecke nach Berlin Dekorationen und Requisiten, die sieben
Bahnwaggons füllen.
Es geht ums ganze. Erfolg im Ausland bedeutet, die in Moskau, im eigenen
Haus in Ebbe geratene Kasse wieder zu füllen und sollte man erfolgreich
sein, hieße das, nach der Rückkehr Aussicht auf bessere Einnahmen
zu haben und damit weiter arbeiten, weiter bestehen zu können...
St :
Der Erfolg der Aufführung wuchs mit jedem Akt. Und am Ende der Vorstellung
unzählige Herausrufe und alle übrigen Attribute eines großen
Erfolges ! Ein völliger Umschwung in dem Verhalten der Bühnenarbeiter
und des gesamten Personals des Theaters uns gegenüber setzte ein; an
Stelle der früheren Mißachtung war fast Vergötterung getreten.
KK :
Haben sie damit ihr Glück gemacht ? An den folgenden Abenden setzen
die Moskauer zwar mit dem erfolgreichen "Zar Fedor" , einem Stück
über die frühe Geschichte des russischen Reiches, fort, Parkett
und Ränge sind jedoch nur noch halb gefüllt. Dann wird "Onkel
Wanja" gespielt, aber Anton Tschechov, den die Welt später einmal
als einen der bedeutendsten Dramatiker der Moderne feiern wird, - Tschechow
kennt 19o6 in Deutschland kaum jemand. Und selbst bei Maxim Gorkijs sensationellem
Stück, "Nachtasyl", bleibt das Berliner Publikum fern, zieht
dem russischen Original Max Reinhardts Einstudierung dieser Szenen aus einem
dunklen Moskauer Elendsviertel vor. "Drei Schwestern ", eines
der wichtigsten Stücke Tschechovs, bringt es nach der Premiere noch
auf eine einzige Wiederholung, dann werden sogar schon die Kulissen nach
Moskau zurückgeschickt.
Am 19.März 19o6 sieht man Wilhelm II. in der Loge des "Berliner
Theaters", der Kaiser folgt der Empfehlung seiner Gemahlin und der
Kronprinzessin. Nur an diesem Abend hat er Zeit. Henrik Ibsens "Volksfeind",
den die Moskauer eigentlich angesetzt haben, verschwindet vom Programm,
die Plakate werden eilends überklebt und da steht nun als Stücktitel
"Zar Fedor" zu lesen - und groß darüber : "Auf
Wunsch seiner Majestät des Kaisers".
1.Sp.:
Ich wußte nicht, daß es möglich ist, so einfach auf der
Bühne zu sprechen. Kunst ist das, ohne leere Gesten. Ich hätte
nie geglaubt, daß das Theater mir auf so brilliante Weise mehrere
Bände Geschichte darbieten könnte.
KK :
Natürlich ist es die Prominenz der offenkundig zufriedenen Majestät,
die den Künstlern um Stanislavskij im weiteren in Berlin, dann in Dresden,
Leipzig und Wiesbaden mit zu glänzendem Erfolg verhilft. Oder sind
es außerdem noch dero allerhöchste Anmerkungen ?
O-Ton Theaterfoyer / Atmosphäre
KK :
Was haben denn eigentlich die berufsmäßigen Kritiker zu den Aufführungen
zu sagen ? Was sagen prominente Schriftsteller, die sich 1922, als das Gastspiel
mit nahezu den gleichen Stücken wiederholt wird, unter den Zuschauern
sitzen und in den Pausen das Erlebte abwägen ?
2.Sp.:
Es handelt sich um ein Wunder ! Ich habe "Das Nachtasyl", "Drei
Schwestern", "Die Karamasoffs" gesehen und es gehört
zu den stärksten Erschütterungen und den tiefsten Augenblicken
des Glücks, welche die Kunst, welche das Leben zu geben vermag. Trotzdem
ich nicht ein Wort verstand. Es ist die Vollkommenheit des Schauspiels.
KK :
Das ist der Verfasser des Romans "Der Mann ohne Eigenschaften".
Danke, verehrter Robert Musil !
1.Sp.:
Um es einfach zu sagen : es ist ein untadeliges Theater. Ein außergewöhnliches
Spiel. Man sieht ein Theaterstück als ganz unteilbares, als in einem
Guß gegossenes Werk. Es gibt keine Hauptrollen und Nebenrollen. Man
sagt, daß Caruso gelegentlich in Nebenrollen einsprang, und so dezent
sang und keinen Mißbrauch mit seiner fabelhaften Stimme trieb, daß
niemand sein Mitwirken erkannte. So ist in diesem Theater der Russen schwer
zu sagen, wer vorzüglich, minder vorzüglich, schwach oder wer
der stärkste sei.
Ins Auge fällt überhaupt keine schauspielerische Leistung : die
Fragestellung nach dem Einzelnen ist falsch. Man bemerkt nur das ebenmäßig
ablaufende, gleichmäßig gerundete, immer und in allen Stücken
gekonnte Spiel.
KK :
Das ist der Verfasser von "Berlin Alexanderplatz". Danke, Alfred
Döblin !
2.Sp.:
Ist eine naivere Verkennung dessen denkbar, was Kunst ist ? Man will den
lebendigsten Eindruck hervorrufen und häuft eine Unzahl kleiner Details.die
keine andere Bedeutung haben, als das sie im Leben allenfalls vorkommen
können. Man ist im alten Irrtum befangen, daß das letzte Ziel
der Kunst die Wiederholung der Wirklichkeitszüge sei.
KK :
Siegfried Jacobsohn ,der Kritiker der "Schaubühne".
Und da ist der Kritikerpapst der Weimarer Republik, der seinen Ruf schon
lange vor dem 1. Weltkrieg begründete. Guten Abend, Alfred Kerr !
2. Sp.:
Ich sah niemals die Eintönigkeit eines fahlen Lebens gewissermaßen
so spannend dargestellt. Nie hat mich die Darstellung der Öde so gepackt.
Diese Moskauer sind vor allem groß in ihren, musikalisch ausgedrückt,
Fermaten. Groß in der Art, wie sie die Stille des Daseins tönen
lassen. Groß durch die Ferne in ihrem Spiel; die Ferne, das schmucklose
Verrauschen, das in ihrem Zusammenwirken durch alle Dinge und hinter den
Dingen entlangzieht; sie sind die Künstler des verwehten, lautlos entrinnenden
Lebens; sie gestalten die große Kunst der Lebensinhaltslosigkeit;
zugleich ihrer tragikomischen, verstummenden Humore.
KK :
Was später, speziell in den sechziger und siebziger Jahren dann, Doktorarbeiten
anschwellen und manchen Kritiker sich schon vorkommen läßt, als
sei er der Christoph Columbus des zeitgenössischen Theaters, das nimmt
Kerr in diesen Zeilen anschaulich vorweg. Denn da haben die Klassiker einiger
vorangegangener Jahrhunderte erst einmal ein beträchtliches Stück
beiseite rücken müssen, um dem 186o geborenen Dramatiker, von
dem Kerr spricht, einen gebührenden Platz einzuräumen, nämlich
von Anton Pavlovitsch Tschechov.
Bevor es eine annähernd deckungsgleiche Ebene mit diesem Dramatiker
erreicht, durchläuft das Moskauer Künstlertheater eine Phase,
die nun betrachtet werden soll. Wieder begegnet man dabei dem Namen des
schon mehrfach genannten Konstantin Sergejevitsch Stanislavskij.
St.:
Ich wurde in Moskau im Jahre 1863 geboren - an der Grenze zweier Epochen.
Ich entsinne mich noch der letzten Überbleibsel der Leibeigenschaft,
kenne noch Talglichter, Petroleumlampen, die ungefügen altmodischen
Reisewagen, die Kurier- und Reisepost, Steinschloßgewehre und kleine
Kanonen, kaum größer als Spielzeug.
Vor meinen Augen entstand in Rußland die Eisenbahn mit Kurierzügen,
wurden Dampfer, elektrische Scheinwerfer, Automobile, Flugzeuge, Panzerschiffe,
U-Boote, Fernsprechverbindungen, Funkanlagen, Telegrafenstationen und zwölfzollige
Geschütze gebaut.
Mein Vater, Sergej Wladimirowitsch Alexejew, ein reinblütiger Russe
und ein Kind Moskaus, war Fabrikant und Industrieller. Meine Mutter - Elisabeth
Wassiljewna Alexejewa, mütterlicherseits Französin - war eine
Tochter der seinerzeit sehr bekannten Pariser Schauspielerin Varley, die
während einer Gastspielreise in Moskau weilte.
KK :
Der geborene Aleksejev, der sich später den Künstlernamen Stanislavskij
zulegt, zeichnet in seinen Erinnerungen eine Linie, die vom kindlichen Puppenspiel
und Zirkus bis zu Maskeraden und szenischen Darbietungen im Kreis der Familie
reicht, dadurch aber nicht aus dem üblichen Rahmen eines bürgerlichen
russischen Hauses fällt. Nein, Stanislawski machen die künstlerische
Begabung, eine schon als fanatisch zu bezeichnende Theaterleidenschaft und
- das scheint entscheidend zu sein - eine ständige Ungeduld und Unzufriedenheit
allem Erreichten gegenüber. Das hat zur Folge, daß er sich selbst
ständig kritisch überprüft und begierig nach jeder Gelegenheit
greift, neue Erfahrungen zu machen. Tags arbeitet der junge Mann in dem
Unternehmen seines Vaters, jede freie Minute aber gehört dem Theater.
Er reift in Liebhaberaufführungen als Darsteller, Spielleiter und Organisator,
wobei er sich an Schiller, Shakespeare und Moliere zwar mitunter verhebt,
dabei jedoch seinen Zugang zur dramatischen Literatur erkennbar schult.
Mit zunehmender Reife wächst Stanislawskijs Ehrgeiz, den professionellen
Bühnen gleichzuziehen oder sie sogar zu überragen. Und daß
dies nicht die pure Vermessenheit ist, sondern nüchterner Einschätzung
entspricht, wird Moskau alsbald erfahren. Nun jedenfalls, gegen Ende des
vergangenen Jahrhunderts, hat Stanislawskij die Antenne ausgefahren...
Das hat seinerseits auch Vladimir Ivanovitsch Nemirovitsch-Dantschenko getan.
Den komplizierten Namen trägt ein damals recht erfolgreicher Dramatiker,
1858 geboren, mithin fünf Jahre älter als Stanislavskij, Leiter
der Schauspielschule der Moskauer "Philharmonischen Gesellschaft"
.
Im Juni 1897 erhält Stanislavskij von Dantschenko eine Einladung zu
einer Unterredung. Sie beginnt wenige Tage danach, am 22.Juni, um 2 Uhr
mittags, in dem traditionsreichen, im Stadtzentrum Moskaus gelegenen Restaurant
"Slavjanskij Basar"...
Man kennt einander, und was ihn veranlaßt, sich mit Stanislavskij
zu treffen, hat Nemirowitsch-Dantschenko bereits in seinem Brief gesagt
: ein neues Theater, gebildet aus der Laiengruppe Stanslawskijs und einer
hervorragenden Klasse von Schauspielschülern, die im Laufe des Jahres
1898 abschließen sollte. Die beiden verschanzen sich in einem stilleren
Raum des Restaurants, und es geht ohne Schnörkel zur Sache.
2.Sp.:
"Da haben wir z.B. den Schauspieler Afanasjev. Halten Sie ihn für
talentiert ?"
St.:
"In höchstem Grade ."
2.Sp.:
"Würden Sie ihn in Ihr Ensemble aufnehmen ?"
St.:
"Nein, auf keinen Fall ."
2.Sp.:
"Warum nicht ?"
St.:
"Er ist nur auf Karriere aus, hat sein Talent ganz nach den Forderungen
des Publikums geformt, seinen Charakter vollkommen dem Unternehmen angepaßt
und sein ganzes Ich auf billige Theatralik abgestellt. Wer mit diesem Gift
einmal infiziert ist, wird immer daran kranken ."
2.Sp.:
"Und was sagen Sie zu der Schauspielerin Bolschakova ? "
St.:
"Eine gute Schauspielerin, aber für uns nicht geeignet ."
2.Sp.:
"Warum nicht ?"
St.:
"Sie liebt nicht die Kunst, sondern nur sich selbst in der Kunst ."
2.Sp.:
"Und die Schauspielerin Korovina ? "
St.:
"Kommt für uns ebenfalls nicht in Frage. Sie ist eine unverbesserliche
Schmierantin ."
2.Sp.:
"Aber der Schauspieler Denissov ?"
St.:
"Den empfehle ich zu beachten."
2.Sp.:
"Wieso ?"
St.:
"Er hat Ideale, für die er auch zu kämpfen gewillt ist ;
er gibt sich nicht mit dem Althergebrachten zufrieden, sondern ist ein Mensch
der Idee."
2.Sp.:
"Ich bin der gleichen Meinung und deshalb will ich ihn, wenn Sie erlauben,
in die Liste unserer Kandidaten aufnehmen."
KK :
Um zwei Uhr mittags begonnen, endet diese Zusammenkunft nach achtzehn Stunden
am folgenden Morgen. Übermüdet, aber zufrieden haben die beiden
am Ende ein Protokoll in Händen, das Grundlage ihrer künftigen
Arbeit wird.
St.:
Wir protestierten gegen die frühere Art des Spielens, gegen die schauspielerische
Routine, gegen das verlogene Pathos, gegen die Deklamiererei, gegen das
schauspielerische Übertreiben, gegen die albernen Konventionen in Inszenierung
und Bühnenbild, gegen das Starsystem, welches das Ensemble verdirbt,
überhaupt gegen den ganzen gewöhnlichen Ablauf der Vorstellungen
sowie gegen den nichtigen Spielplan der damaligen Theater.
In unserem revolutionären, alles niederreißenden Drang erklärten
wir um der Erneuerung der Kunst willen aller Theaterkonvention den Krieg,
gleichviel in welcher Form sie sich auch zeigen mochte : im Spiel, in der
Inszenierung, im Bühnenbild, in den Kostümen, in der Auffassung
und Behandlung des Stückes und so weiter.
KK :
Nun ist, ein Programm zu entwerfen das eine, das andere, schwierigere wird
sein, es einzulösen. Die erste Premiere wird für den Oktober 1898
geplant. Stanislawski nutzt das noch verbleibende reichliche Jahr zu intensiven
Proben, nutzt es, seine künstlerische Programmatik umzusetzen und sich
als Regisseur Autorität zu verschaffen.
Nemirovitsch-Dantschenko organisiert, sucht finanzielle Unterstützung
bei den steinreichen Industriellen, obwohl das neue Unternehmen gerade diejenigen
anzusprechen und als Zuschauer zu gewinnen hofft, denen das Theater bis
dahin unzugänglich war.
Da widerspiegelt sich etwas von den selbst im nachhinkenden Rußland
spürbaren neuen gesellschaflichen Ideen. Zu erinnern ist nur daran,
daß es zu diesem Zeitpunkt erst etwas mehr als dreißig Jahre
her ist, seit die Leibeigenschaft aufgehoben wurde und ein ländliches
und städtisches Proletariat heranzuwachsen beginnt. Andererseits aber
schon von einem Bürgertum zu sprechen, das dem der entwickelten westeuropäischen
Länder vergleichbar ist, entspräche nicht dem Rußland jener
Zeit.
"Volkstheater" also als Traum oder wie es nachher heißt
:" Moskauer künstlerisches Theater für alle" .
Am 14.Oktober 1898 öffnet sich erstmals der Vorhang. Auf dem Programm
steht "Zar Fedor Iovannovitsch", Teil einer Trilogie, die Aleksej
Tolstoj, ein sehr entfernter Verwandter des berühmteren Dichters, Lev
Tolstoj, verfasst hat. Ein Stück aus der russischen Geschichte des
16.Jahrhunderts. Zar Fedor ist der schwächliche Nachfahre Ivans des
Schrecklichen.
Der Theaterkritiker Nikolaj Efros erlebt den Premierenabend, der auf der
Bühne überaus nervös beginnt...
1.Sp.:
Im Zuschauerraum hustete man leise, es wurde geflüstert und nicht sehr
aufmerksam hingehört ; die Augen gingen auf ungewohnte Details in der
szenischen Ausstattung. Die Reserviertheit wärmte die Bühne nicht
gerade. Und Wärme war noch das geringste. Meyerhold und Darskij, als
Wassilij und Andrej Schujskij, sprachen irgendwie betont deutlich, zu gleicher
Zeit aber auch zaghaft und traurig. Eine kurze Szene. Der Vorhang teilte
sich wieder und öffnete eines der bestausgearbeiteten Bilder des Stücks,
was Farbigkeit und historischen Stil betrifft : das goldene Gemach des Zaren.
Es zeigte Boris Godunov, die purpurne Mütze tief herabgezogen, die
sein außergewöhnlich Betrügerisches unterstrich. Es begann
interessant zu werden : der leuchtende Hintergrund und einzelne Gestalten
davor beeindruckten. Das Parkett reagierte, das Ohr erfasste in dem Geflüster
etwas Zustimmendes. Dann tritt Zar Fjodor auf, leicht atemlos, er legt den
kurzen Pelz ab, wischt mit einem lila-seidenen Tuch über Gesicht und
Hals. Ein Zaren-Männlein, das Haar wie eine Klammer am Kopf, das Gesicht
weichlich-rund und fahl gelblich, ein mageres, irgendwie unmännliches
Bärtchen, stille Augen, leicht verweint und kränklich ; auf den
nervösen Wangen lag schuldbewußtes Lächeln. Ein kaum wahrnehmbarer
Laut folgte jedem Wort. Mit bebender Stimme, aber schlicht, naiv und umgänglich
fragte er : "Warum hat sich mein Pferd aufgestellt ?" Wie ein
verwöhntes Kind befahl er unter gekünsteltem Lächeln der
Umstehenden kokett : " Keinen Hafer mehr geben ! Nur noch Heu !"
Dann übergoß eine so liebenswürdige Zartheit sein einfaches
Antlitz - : Na ,so ist das halt,ich verzeihe ihm. Eine Seele schimmerte
durch, falls einfältig, dann im Heilssinn.
Ich denke, in dieser Sekunde brach das Eis. Die ersten Risse traten auf,
wenngleich nur eben spürbar ...
O-Ton Szene aus " Zar Fedor" ( russisch ) L: ca 2.oo
KK :
Im festen Vertrauen darauf, daß sich etwas von der Aufführung
vermittelt, soll hier, obgleich in russisch und noch dazu in einer uralten
nur auf Schelllackplatte erhaltenen Aufnahme, in die Schlußszene hineingehört
werden...
Boris Godunov hält Zar Fedor davon ab, sich persönlich in die
Stadt Uglitsch zu begeben, wo der noch kindliche Tronfolger Dimitrij getötet
wurde, angeblich - ein Unfall. Die wichtigere Aufgabe sei es doch jetzt,
sämtliche militärische Macht dem Mongolen-Chan entgegenzusetzen,
der Moskau bedroht.
Entschloßen, sein Leben im Kloster zu beenden, entsagt Fedor der Krone
zugunsten seines Nachfolgers, Boris Godunov .
Die letzten Worte des Stücks richtet er an die Zarin :
2.Sp.:
Wir blieben kinderlos, Irina !
Durch meine Schuld verloren wir die Freunde !
Von der Warägerfürsten Herrscherzweig
Bin ich der letzte Erbe. Mit mir
Stirbt mein Geschlecht.
Durch meine Schuld geschah das alles ! Doch ich wollte
Einklang, Ausgleich - Gott ! Gott !
Warum hast Du zum Zaren mich gemacht ?
Warum ?
KK :
Was ist außer dem schluchzenden Fjodor-Darsteller, dem Schauspieler
Iwan Moskwin, in dieser Aufnahme zu hören ? Sturmglocken, eine Botenmeldung
über die Gefahr, kriegerische Kommandos und Trompetensignale, die das
russische Heer zum Sammeln auffordern, Entsetzensschreie der Menge, ein
mit Glockenläuten und Chorgesang einsetzender Bittgottesdienst.
Halten wir fest, daß das Künstlertheater einem nicht sehr überzeugenden
Stück zum Erfolg verhilft. Es erarbeitet dafür Mittel, die wie
hier zu hören war, akustisch den dramatischen Gehalt der Szenen steigern
sowie die Motive und die Stimmung ergänzen. Ähnliches läßt
sich von der Ausstattung sagen.
St.:
Vor allem machten wir uns an das Studium der Kostüme aus der Epoche
des Zaren Fedor. Alle Veröffentlichungen, Gravüren, Museen, klösterliche
und kirchliche Gewandtkammern sahen wir durch... Allein es wollte uns nicht
gelingen, diese kunsthistorischen Muster zu kopieren, und deshalb begannen
wir, alte Stickarbeiten, Kopfputze, Frauenhauben undsoweiter auf andere
Art und Weise ausfindig zu machen. Wir veranstalteten eine Expedition in
verschiedene Dörfer, zu Bauern und Fischern, in deren Truhen, wie man
uns sagte, viele schöne Dinge versteckt lägen. Die Expedition
erfüllte ihre Mission auch ausgezeichnet und brachte reiche Ausbeute
heim.
KK :
Man muß sich, um die Neuerung zu begreifen, vorstellen, daß
zu jener Zeit im allgemeinen nur wenige Grundmuster an Dekoration und zwar
als bemalte Kulisse verwendet wurden . Eine für jedes neue Stück
eigens erarbeitete Ausstattung kannte man nicht. Ähnlich war es mit
der Kostümierung ; Daumenregel : Stücke vor Christi Geburt werden
in Sandalen, zeitlich danach handelnde in Trikot und Stiefeln gespielt.
Um verschiedene Rollen von Schiller und Goethe zu unterscheiden, trug ein
gefeierter russischer Schauspieler des Kaiserlichen "Malyj Theater"
an drei aufeinanderfolgenden Abenden selbstverständlich das gleiche
Kostüm, aber einmal mit dem englischen Hosenbandorden, dann mit dem
Goldenen Vlies und schließlich mit dem Malteserkreuz.
Nun ist von einem weiteren Glücksfall für das Künstlertheater
zu reden. Bei der denkwürdigen Begegnung im "Slavjanski Basar"
haben sich die beiden Gründer im Interesse und im Schwerpunkt ihrer
Tätigkeit abgestimmt. Nemirovitsch-Dantschenko hat als Dramatiker ein
sicheres Gespür für das Literarische entwickelt und einen Schriftsteller
ins Auge gefaßt, der bis dahin als Verfasser treffender, humorvoller
Geschichten, nicht aber als Bühnenautor bekannt ist, den 186o im Süden
Rußlands geborenen Anton Pawlowitsch Tschechow . Stanislavskij kennt
ihn, mag ihn aber nicht sonderlich, was, nebenbei, umgekehrt ebenso zutrifft.
Stanislavskij ist also eines der Hindernisse, die Dantschenko zu überwinden
hat. Tschechows Stück " Die Möwe ", mit dem er in Moskau
herauskommen will, war zwei Jahre zuvor bei seiner Uraufführung in
St. Petersburg ein totaler Mißerfolg. Anton Tschechow, der sich in
Selbstzweifeln quält und keinen weiteren Reinfall will, stellt sich
gleichfalls als Hindernis in den Weg.
Trotzdem bleibt Dantschenko hartnäckig dran.
2.Sp.:
Wenn Du willst, komme ich vor den Proben zu Dir, um mit Dir über die
"Möwe" und meinen Aufführungsplan zu verhandeln... Benachrichtige
mich, um Gottes willen, schneller, das heißt - richtiger gesagt -
ändere Deine Antwort. Ich muß mir die Entwürfe ansehen und
schnellstens die Dekorationen bestellen.
KK :
Zwei Monate nach dem "Zar Fedor", also noch im Jahr 1898, hat
die "Möwe" im Künstlertheater Premiere. Wieder begleitet
als Kritiker, Nikolaj Efros, den Abend.
1.Sp.:
Ich glaube, ich gebe die Publikumsstimmung am Anfang der Vorstellung ziemlich
genau wieder. Eine Aufführung braucht ja bloß ungewöhnlich
zu sein, braucht bloß das Altbekannte nicht zu wiederholen, und schon
werden bestimmte Leute wütend und weisen das Ganze als "Mache"
zurück. Doch selbst diejenigen, die sich bereits zu dem Stück
hingezogen fühlten, die für seinen Zauber empfänglich waren,
fühlten sich ein bißchen unbehaglich. - Und doch, die Stimmungslage
des Publikums wurde allmählich immer sicherer und bestimmter. Die Andeutungen,
mit denen im Stück immer wieder gespielt wird, die "unvollendeten
Reden " , die "unfertigen Gefühle", bildeten allmählich
ein, wenn auch nicht fest umrissenes Ganzes .
KK :
Der Kritiker Efros läßt durchhören, wie unsicher er selbst
zu sein scheint, und er wird am Ende von dieser Aufführung und dem
Dichter des Textes ebenso hingerissen, wie offenbar das gesamte Premierenpublikum.
Nemirowitsch-Dantschenko telegrafiert jedenfalls noch in den Nachtstunden
an den erkrankten Tschechow.
2.Sp.:
Haben eben "Die Möwe" gespielt. Kolossaler Erfolg. Vom ersten
Akt an hat das Stück dermaßen eingeschlagen, daß danach
eine Reihe von Triumphen folgte. Endlos Vorhänge. Meine Erklärung
nach dem dritten Akt, daß Autor abwesend sei. Publikum forderte, Dir
ein Telegramm zu schicken. Wir sind wahnsinnig vor Glück.
KK :
Erfolg ! Auch finanzieller Erfolg, ganz Moskau reißt sich um Karten,
die Aufführungen sind einfach ausverkauft. Mit dieser Premiere setzt
das junge Künstlertheater sich selbst und Anton Tschechow durch, der
dem Haus mit seinen folgenden Meisterwerken "Onkel Wanja ", "Kirschgarten"
und "Drei Schwestern", wenngleich etwas reserviert, verbunden
bleibt.
O-Ton Moskau /Atmosphäre Kammerherrengasse
KK :
Wer heutzutage das Künstlertheater in Moskau sucht, der läßt
Roten Platz, Basiliuskathedrale und den Kreml im Rücken, und, einige
hundert Meter in die neunspurige Tverskaja-Strasse nach links, stößt
er in der Kammerherrengasse unübersehbar auf die in reinstem Jugendstil
gehaltene Fassade. Und was sieht man im Giebel der Hausfront ? In einem
steinernen Medallion - eine stilisierte Möwe. Ein Wahrzeichen, das
Enblem des Theaters - Tribut an Tschechow , an den künstlerischen Durchbruch.
19o2 konnte das Gebäude, das sich Stanislavskij und Nemirovitsch nach
ihren Vorstellungen eigens haben errichten lassen, eingeweiht werden. Noch
heute ist im Innern viel aus den erfolgsgeprägten Jahrzehnten nach
der Eröffnung erhalten geblieben.
O-Ton Vadim Kacalov / "Herrgottswinkel " L : o' 11
Und hier alle Witze, alle Dummheiten sollen aufhören. Stanislawski
sagte immer : Hier ist der Platz, wo die Seele geschminkt wird .
KK :
Vadim Katschalov, der den 1938 gestorbenen Stanislavskij noch persönlich
kannte, führt wie zu dieser Stelle, zwischen den Garderobenetagen und
dem Bühnenzugang, in einen Raum, den Stanislavskij selbst benutzte.
O-Ton Vadim Katschalow / Stanislavskijs Garderobe L: o'56
Das ist seine Garderobe, die er als seine Wohnung benutzt hat. Den ganzen
Tag war er hier. Hier hat er gearbeitet, an diesem Tisch hat er gesessen,
hier hat er geschlafen.
Und das war sein Schminktisch.
Und wenn Damen bei ihm waren, und er nicht ganz korrekt war, hat er diesen
Vorhang zugezogen und hat durch den Vorhang gesprochen. Er war immer sehr
korrekt, ohne Krawatte hat ihn keine Dame, außer seiner Frau, hat
ihn niemand gesehen, niemals.
Das ist seine letzte Perücke, in der er 1928 gespielt hat , sein Bart,
sein Schnurrbart, seine Schminke und seine Anzüge.
KK :
Ist das Künstlertheater in Gefahr geraten, ein bloßes Museum
zu werden ? wird Anatolij Smeljanskij, der heutige Chefdramaturg, gefragt
O-Ton Smeljanski ( russisch )
2. Sp. :
Die Idee des Künstlertheaters ist die eines zeitgenössischen Theaters
Das ist kein Theater für die Ewigkeit. Das ist doch kein Nationaltheater.
Das muß man verstehen. Daher die Verwirrung und das Zwitterhafte.
Man hat das Künstlertheater während der Sowjetzeit in ein Nationaltheater
verwandelt., das heißt in ein unsterbliches Theater, wie die Comedie
Francaise, wie das Deutsche Theater und ich weiß nicht, was noch.
Aber vom Wesen, von der Idee her war zu Beginn nicht beabsichtigt, ein Theater
für ein Jahrhundert zu gründen.
Zur Zeit ist es ein staatliches Theater, das vollständig von den Zuschußgeldern
lebt. Es riskiert überhaupt nichts. Das Künstlertheater vor der
Revolution riskierte mit jeder Spiezeit, weiterzuleben oder zu schließen.
Das ist ganz natürlich für ein Künstlertheater. Und so etwas
gibt es jetzt nicht, weil es ein Theater mit staatlicher Überlebensgarantie
ist, bei unbegrenzter Zahl an Schauspielern, selbst wenn es unter den gegenwärtig
schwierigen Bedingungen für die Riesenmenge an Personal nur ein minimales
Gehalt gibt. Freilich haben wir während der vergangenen sieben Jahre
keine Kopeke für eine neue Produktion bekommen.
So leben wir nicht und so sterben wir nicht. Es ist wie überall : kein
Bankrott, keine Schließung , die arbeiten, aber sie tun nichts. So
wird die Form des sowjetischen Künstlertheaters gestreckt, es trägt
die alten Klamotten auf, so wie unser ganzes Land die alten Lumpen der sowjetischen
Gesellschaft qualvoll zuendeträgt.
KK :
Was man als Erbe des Künstlertheaters bezeichnen kann, das bildet sich
eigentlich schon bei den Tschechov-Inszenierungen während des ersten
Jahrzehnts seines Bestehens heraus. Der Erfolg dieser Inszenierungen verdeckt
ein wenig, daß es um zwei Linien geht , von denen eine in Richtung
künstlerischer Wahrhaftigkeit läuft, die andere der dramatischen
Literatur der Moderne einen neuen Weg öffnet. Die Linien überschneiden
sich und produzieren auch Widersprüche.
So macht bereits stutzig, was Anton Tschechov, als er persönlich sein
Stück "Die Möwe" im Künstlertheater sah, bemerkte.
1.Sp.:
Stellenweise habe ich nicht glauben können, daß ich das geschrieben
habe.
KK :
Obgleich hier offenkundig ein Widerspruch anklingt, ist das Künstlertheater
bis in unsere Zeit von der Durchsetzung Tschechovs entscheidend geprägt
worden. Alfred Kerr war in Berlin früh schon dem Kern der Tschechovschen
Stücke auf die Spur gekommen, als er von der Inhaltslosigkeit des Lebens
sprach, dem entrinnenden Leben, der Tragikomik. Denn das ist es, was Tschechov
zu einem Begründer des Dramas der Moderne macht. Helden sucht man da
vergebens. die noch in der Lage wären, Handlung - im klassischen Sinne
- auszulösen .Bei Tschechow betritt der Mensch unseres sich neigenden
Jahrhunderts die Bühne.
Aber wenn das Künstlertheater Tschechov zum Erfolg verhilft, dann "passiert"
ihm das gewißermaßen, denn Stanislavskij ist noch lange nicht
so weit, wie der neugeborene Starautor der Hauses. Für spröde,
für wenig theaterwirksame Stücke hielt er nicht nur die "Möwe",
sondern auch "Onkel Wanja", "Kirschgarten" und "Drei
Schwestern". Daher bemühte er sich, den Stücken "aufzuhelfen".
Das geschah in bester Absicht, aus tiefster Überzeugung und absolut
nicht unredlich.
Stanislavskij hat bis dahin versucht, gestützt auf Kostüm, Dekoration
und Geräusche eine möglichst vollständige Illusion zu bewirken.
Die bleibt - und das ist nun seine geniale Erkenntnis - unerreichbar, solange
nicht in der schauspielerischen Darstellung ein paralleler Schritt getan
wird. Tschechov, so versteht ihn Stanislavskij anfangs, verlagert die herkömmliche
Dramatik ins Innere seiner Personen. Also , folgert Stanislavskij, müßen
wir im Innern der Darsteller Bereiche erarbeiten und aufdecken, die bis
dahin nicht gefragt waren.
Stanislavskij läßt bis zum Ende seines Lebens nicht mehr los,
danach zu suchen, wie der Schauspieler in sich etwas lockert, das ihn befähigt,
der Anforderung der Rolle gerechter zu werden. Und zweitens, wie der Schauspieler
bei dieser Selbstentdeckung zu einer Technik gelangt, die ihn noch bei der
zigsten Aufführung davor bewahrt, in Routine abzugleiten. Und in seinen
Sternstunden wird und bleibt das Künstlertheater ein Labor für
den schöpferischen Künstler, eine Werkstatt für Theater.
Der später nach Deutschland emigrierte Fedor Stepun weiß über
Stanislavskijs hartnäckig betriebene Improvisationsübungen, die
nur ein Teil seines später so genannten "Sytems" waren, zu
erzählen.
O-Ton Stepun L: 3'41
Also, ich unterrichtete damals in einem Studio. Studio der jungen Künstler,
eine reizende Gesellschaft, sie nannten sich junge Meister, denn sie wollten
als Jugend schon mehr bedeuten, als wirklich war. Und wir erwarteten dann
den großen Stanislavskij. Sie können sich vorstellen, diese Aufregung
und nun kam der große Mann an und das erste, was man empfand - er
hat nichts von seiner Größe gewußt. Er hat nichts gewußt
von seinem strahlenden Ruhm, er schien vergessen zu haben, daß er
in Europa gewesen ist, daß ganz Europa ihm zugejubelt hat, daß
seine Schauspieltheorie schon das Objekt eines akademischen Studiums ist.
Nun stellt er sich in unseren Kreis, nicht wahr, und begann zu reden. Er
hat immer so an seiner Nase mit den Fingern etwas herummodelliert, er war
so ein Stotterer, nicht wahr. Aber dann sagt er : "Genug der Rede,
ich will mal euch zeigen, wie man spielt. Da macht er was sehr einfaches.
Er hat eine Schülerin herausgerufen und sagte. "Da im Diwan steckt
eine Nadel. Jetzt gehen sie und tasten sie den Diwan vorsichtig an, daß
sie sich nicht stechen. Ich will beobachten, was sie machen." Sie ging
an den Diwan, fuchtelte mit ihrer Hand die Lehne ab, dann die Seiten. Er
unterbrach sie und sagte : "Sie haben sehr schlecht gespielt, kein
Mensch hat geglaubt, daß sie daran glauben, daß die Nadel wirklich
drin ist." Daraufhin nahm er eine große Nadel, wie man Schmetterlinge
aufsteckt und zeigte sie ihr, hieß sie, sich umwenden, hat die Nadel
wieder eingesteckt, und dann sagte er : "Na, suchen sie's noch einmal".
Und da hat man an der Vorsicht ihrer Hand bemerkt, daß sie an die
Nadel glaubte. Dann hat er ihre Gestik genau analysiert und mit seinen krummen,
ungefähren, mißverständlichen Worten diesen Unterschied
großartig herausmodelliert.
Dann machte er was zweites. Ein schönes Mädel saß da. "Kommen
sie mal her, improvisieren sie etwas. Spielen sie, was sie wollen. Irgendeine
Szene ." Sie lief ans Fenster, sie setzte sich hin, sie schaute zum
Fenster heraus. Man sollte glauben, sie wartet auf jemanden. Natürlich
auf den Geliebten. Er kam nicht. Sie wurde traurig. Er kam nicht. Sie wurde
wütend. Er kam nicht. Sie wurde trotzig, stampfte mit dem Fuß,
lief zum Sessel und fiel ohnmächtig in den Sessel. Sie hat gut gespielt,
die Provinz hätte applaudiert. Aber Stanislavskij sagte: "Das
ist alles sehr schlecht. Kommen sie mal her." Und da zog er ein Notizbuch,
begann es zu blättern, er suchte nach einem andern Thema für sie
und murmelte : "Das könnte sie machen. Nein, zu schwach. Vielleicht
dies." Sie wurde ganz aufmerksam. So hat er sie hingehalten, Drei,
vier Minuten. Und dann sagt er : "Sehen sie, das Erwarten der Rolle
haben sie großartig gespielt, denn sie haben wirklich gewartet, aber
den Liebhaber, den haben sie nicht geglaubt, das war eine dumme Komödie."
O-Ton Stanislavski / "Tartuffe"- Probe ( russisch )
KK :
Auf der Suche nach einer Aufnahme mit Stanislavskij in einer Rolle, also
als Schauspieler, fiel uns das einzige Tondokument, das seine Stimme festhält,
in die Hände und das war der Regisseur, der Theaterpädagoge. Stanislavskij
probt in seinem letzten Lebensjahr Molieres "Tartuffe ", die 4.Szene
des 1.Akts. - Nach einem kurzen Dialog zweier Schauspieler unterbricht Staniskavskij.
St. :
Stop ! Anhalten ! Hören Sie mal ! - Also jetzt mal... was haben Sie
gemacht, als Sie anfingen zu spielen ? Haben Sie sich einander vorgestellt
oder nicht ? Haben Sie sich irgendwie orientiert ? - Davon war wenig da
.
Sie haben gleich direkt damit angefangen, dem andern Ihre Meinung darzulegen,
und Sie haben nur gesprochen, gehört und geantwortet. Dabei sind aber
alle diese Worte bloß dazu da, die eigentliche Botschaft vorzubereiten.
Da kommen doch beide wie zwei Gegner zusammen, und der will ihm am Zeug
flicken und der will ihn loswerden. - Tja, und gab es in dem, was Sie gemacht
haben, etwas davon ? - Was war Ihr Fehler ? Sind Sie die Linie der Botschaft
gegangen oder hatten Sie die Idee, einfach nur eine Szene zu spielen ? Das
war nämlich das letztere.
KK :
Abgeschloßen hat Stanislavskij sein System der Schauspielerausbildung
nicht. Kaum aus Zweifel, eher im Gegenteil, er wußte sich auf der
richtigen Linie, die er aber immer noch ausweiten, vertiefen wollte. Wobei
er sich auch außerkünstlerischen Gebieten offen zeigte, fernöstliche
Lehren ebenso studierte wie die Psychoanalyse, um zu prüfen, wie weit
sie für den künstlerischen Schaffensprozeß fruchtbar zu
machen wären.
Das Künstlertheater steuert er freilich, vor allem anfangs, überzeugt
auf einem der kompletten Illusion dienenden Kurs des Realismus' , auf den
eine charakteristische Episode ihr Licht wirft.
2.Sp.:
Anton Pawlowitsch Tschechow ... sprach mit einem Schauspieler darüber,
daß in der "Möwe" hinter der Bühne die Frösche
quaken, Libellen surren, die Hunde bellen.
"Wozu das ?" fragte Tschechow mit unzufriedener Stimme. "Realistisch",
antwortete der Schauspieler. "Realistisch ?" wiederholte Anton
Pawlovitsch spöttisch lächelnd und sagte nach kurzer Pause : "Die
Bühne ist Kunst - in Krawitzky gibt es ein Sittengemälde, darauf
ist ein Gesicht vorzüglich gemalt. Was ist das, wenn man von einem
der Gesichter die gemalte Nase herausschnitte und eine lebende eingefügt
hätte ? Die Nase ist "realistisch", aber das Bild ist verpfuscht."
KK :
Sehr früh wendet sich Stanislavskijs wohl bekanntester Schüler,
Vsevolod Meyerhold, von der diese Episode nacherzählt , vom Künstlertheater
ab. Wenn man hier einmal hinsieht, wie sich Ursache und Wirkung zueinander
verhalten, dann hat die Einseitigkeit des Künstlertheaters zur Folge,
das Meyerhold darauf mit der konsequentesten Abweichung, der gerade in unserer
Zeit wieder entdeckten sogenannten "Biomechanik" antwortet. Das
ist ein Verzicht auf jeden realistisch-illusionistischen Ansatz in der Darstellung,
mithin eine der Wurzeln des zeitgenössischen Theaters.
Stanislavskij seinerseits ist viel zu fanatisch auf Suche nach einer Reform
der Schauspielkunst, um nicht auch unter eigenem Dach, neue Wege zu erproben.
Im Stammhaus bekommen Regisseure, die allem anderen als den Idealen des
Theaterleiters huldigen, Möglichkeit, sich zu verwirklichen. Das erste,
anfangs noch gemeinsam mit Meyerhold gestartete "Studio" scheitert,
während andere Ansätze Früchte tragen.
O-Ton Gozzi:" Turandot" / Vachtangov -Theater ( russisch )
KK :
Schon an dieser, nennen wir es "Ouvertüre", ist vernehmbar,
daß das folgende Stück kaum auf der Stammszene an der Moskauer
Kammerherrengasse gespielt wird. Es ist der Anfang der "Turandot",
eines Stücks, das der italienische Dichter Carlo Gozzi 1762 schrieb.
Jevgenij Vachtangov ist in Moskau 1922 der Regisseur, Leiter eines der sogenannten
Studios des Künstlertheaters und als solcher auch Pate des hebräischen
Theaters "Habima",das er schon 1917 in Moskau aus der Taufe hebt.
1917 ist das Jahr des von Lenin gelenkten bolschewistischen Umsturzes, der
als Oktoberrevolution in die Sowjetunion mündet.
Ein neues Kapitel ! Wie sollte das zusammenpaßen : proletarische Revolution
und ein Theater, daß so vollständig der alten soeben gewaltsam
beseitigten Gesellschaft entspricht ? Unter neuen Begriffen wie "Proletkult"
und "Agitprop" versucht ein ganz und gar zeitgemäßer
"Theateroktober" das vorrevolutionäre Theater abzulösen.
Das Künstlertheater verzichtet beispielsweise darauf, Eintritt zu nehmen.
Das neue Publikum, falls es denn überhaupt kommt, versteht aber deshalb
um nichts mehr von dem, was da vor ihm auf der Bühne geschieht...
In die verwirrenden Umstände wird von oben eingegriffen.
1.Sp.:
Wenn es ein Theater gibt, das wir aus der Vergangenheit auf jeden Fall herüberretten
und erhalten müssen, dann ist das natürlich das Moskauer Akademische
Künstlertheater.
Gezeichnet : Lenin, Wladimir Iljitsch.
O-Ton Szene aus Pogodin " Tretja Patetitscheskaja " ( russisch
)
KK :
"Vladimir Iljitsch, ich bin bereit, mich ihnen vor die Füße
zu werfen," - sagt hier eine junge sowjetische Ärzte.Sie bittet
um Gnade für ihren Bruder, der als Staatsfeind verurteilt wurde. Und
Lenin ? Der stottert verlegen herum, ehe er dozierend den Finger erhebt
und im Ernst die Ärztin, die leibhaftige Schwester dazu bringt, dem
Todesurteil zuzustimmen !
Das Stück von Nikolaj Pogodin ist trockenes Papier. Die Aufzeichnung
aus dem Moskauer Künstlertheater beweist aber, dieses Papier wurde
wahrhaftig auf die Bühne gebracht. Und damit ist man mitten in der
kritischsten Phase des Hauses. Anfang der zwanziger Jahre genehmigt die
Regierung dem Künstlertheater sozusagen eine Flucht aus den schwierigen
nachrevolutionären Bedingungen, es darf auf eine in mehrfacher Hinsicht
erfolgreiche Tournee nach Westeuropa und in die USA gehen. Als das Ensemble
zurückkehrt, geben die revolutionär-ästhetischen Ansätze
nicht mehr ausschließlich den Ton an. Die Sowjetmacht konsolidiert
sich, sie beginnt zu "verbürgerlichen" und gefragt ist alsbald
wieder das Künstlertheater. Mehr noch, es rückt in den Rang eines
sowjetischen Hof- und Staatstheaters auf.
Die Erklärung ist kurz und verbirgt sich in dem Stückausschnitt
mit Lenin. Ist nicht Stanislavskijs immer weiter entwickeltes System, entsprechend
verengt, geeignet, die Bühnenhelden glaubwürdiger zu machen, die
Stücke zu illustrieren, also genau das zu leisten, was die Dramatiker
des sozialistischen Realismus benötigen ? Das Theater Stanislavskijs
haucht den papiernen Texten eines Nikolaj Pogodin und anderer Scheinleben
ein, so läßt sich sogar eine Lenin-Leiche noch aufgeschminken.
Nemirowitsch-Dantschenko hält durch, der kränkelnde Stanislavskij
zieht sich ehrenwert immer mehr auf seine Experimente zurück. Die Durchsetzung
des Dramatikers Michail Bulgakov, dem das Künstlertheater wie dem immer
stärker angefeindeten Meyerhold Unterschlupf gewährt, sind zur
Hoch-Zeit des Stalinismus Punkte auf seiner Guthabenseite. Als Stanislavskij
1938 stirbt, steht dann vollends ein willfähriger Apparat mit dem Namen
Künstlertheater zur Verfügung . Man könnte einen bekannten
Spruch abwandeln - "Von Stanislawski lernen, heißt im Theater
siegen zu lernen ".
Ein dogmatisierter Stanislawski wird dann nach 1945 selbst im außerrussischen
Theater verbindlich. Anfang der fünfziger Jahre debattiert man ihn
beflissen-schulmeisterlich in der DDR. Ein alter Gegner, der Dramatiker
Bert Brecht, den man mit einem eigenen Theater abgefüttet und mundtot
gemacht hat, nimmt in windelweichen Erklärungen seine Kritik zurück,
der es noch um 194o nicht an Bosheit gefehlt hat.
1.Sp.:
Sein Orden ist ein Sammelbecken für alles Pfäffische in der Theaterkunst.
Die Verlogenheit der Stanislawski-Schule mit ihrem Kunsttempel, Wortdienst,
Dichterkult, ihrer Innerlichkeit, Reinheit, Exaltiertheit, ihrer Natürlichkeit,
aus der man immer fürchtet und fürchten muß, drauszukommen,
entspricht ihrer geistigen Zurückgebliebenheit, ihrem Glauben an den
Menschen, die Ideen usw. Das ist echter Naturalismus, die Natur ist der
große Unbekannte, er wird imitiert, indem man seinen falschen Bart
imitiert.
KK :
Brecht, der intelligent-gehässige Stanislawski-Gegner, sucht seinerseits
- in der Theorie zumindest - mit der schauspielerischen Verfremdung, dem
"neben sich stehen in der Rolle", die Gegenposition aufzubauen.
In der Praxis, bei der Probe zu seinem "Kaukasischen Kreidekreis",
ist freilich ein sozusagen stinknormaler Theaterregisseur Brecht zu vernehmen,
der bei Stanislawski vermutlich noch manches hätte lernen können.
O-Ton Brecht probt Kreisekreis L: 1'15
KK :
Brecht ist mit Stanislawskis Ideen vermutlich Ende der dreißiger Jahre,
während seines Exils in den USA bekannt geworden. Im Begriff, seine
Verfremdungstheorie durchzufechten, bekämpft er einen Stanislawski,
den er sich zuvor selbst erst zum Popanz aufgebaut hat.
Die Stanislawski-Tradition in den USA kann man, objektiv gesehen, eigentlich
als die fruchtbarste Weiterentwicklung bezeichnen. Bekannt wird das Künstlertheater
schon mit seinen Erfolgen in den ausgedehnten USA-Tourneen von 1922 bis
24. Aber erst über emigrierte Mitarbeiter des Ensembles und eine Studienreise
des Schauspielers Lee Strasberg nach Moskau wird das Stanislawskische System,
das die englische Bezeichnung "Method" - Methode - erhält,
außerhalb Rußlands entdeckt, und es wird nun bewußt daran
angeknüpft. Vereinfacht gesagt, werden Psychotechnik und sozialanalytische
Momente stärker berücksichtigt. Es ist nicht nur am Rande erwähnenswert,
daß von dieser Schule, dem "Actors Studio" in New York namhafte
Schauspieler wie Marilyn Monroe, James Dean, Paul Newman und Marlon Brando
geprägt werden. Stanislawskijs Streben nach Verinnerlichung entspricht
ziemlich genau dem, was Film - auch in Hollywood - in seinen Sternstunden
auszeichnet : das Zurücknehmen, das understatement, was das Gegenteil
von Routine und Leere bedeutet.
Der Schauspieler, der die Methode in den USA vor allem praktisch entwickelt,
heißt Lee Strasberg. In der Filmtrilogie "Der Pate", läßt
er als der große Gegenspieler, Hyman Roth, mit seinen leisen Tönen
ahnen, wie die beschriebene Intention Stanislavskijs und das moderne Medium
Film harmonieren, einander entsprechen...
O- Ton Lee Strasberg als Hyman Roth ( englisch )
KK :
Der Kalte Krieg hat im deutschen Theater Stanislawski im Osten als aufgezwungen
empfinden laßen, im Westen als sowjetisch verdächtig. Der Ausschnitt
aus einer 1947 in Lübeck gehaltenen Rede des Regisseurs Jürgen
Fehling war keineswegs als Kabarett-Beitrag gemeint.
O-Ton Fehling L : o'5o
Stanislawski, das russische Theater, spielte nach ganz anderen Gesetzen
als das deutschsprachige Theater. Darum ist es ein großer Unsinn,
meinen jungen Kollegen sei es gesagt, daß die - echt deutsch - auslandshörigen,
Salon-kommunistischen SED-Intendanten und - regisseure Stanislawskis im
russischen Wesen wurzelnde, durch russische Art und Sprache bedingte Schauspieler-Bibel,
seine Anweisung für die Erziehung russischer Spieler, bedenkenlos auf
deutsche Menschen, die zur Bühne gehen wollen, aufpfropfen und ahnungslos
international geprägt wissen wollen. All diese Spielarten anderer europäischer
Länder sind gewachsen und bedingt durch einen anderen Trieb als den
deutschen Theatertrieb.
KK :
Ein enfant terrible wie der zu seiner Zeit bekannte Fritz Kortner bewahrte
einen freien Blick.
O-Ton Kortner / Aller Tage Abend L:
Das Stanislawski-Theater war nie vordergründig naturalistisch und nie
einschichtig flächig. Es wurde nicht nur ein Sektor Leben und Schicksal
gespielt, nicht nur der kleine begrenzte Ausschnitt des Milieus, den das
Stück zeigte, dargestellt, sondern auch sozusagen die Biographie der
handelnden Menschen, ihre Herkunft, ihre vor dem Stückanfang existierenden
Zugehörigkeiten. Im "Kirschgarten" wurde eine abtretende
Menschenklasse bis zu ihrer Wiege zurückverfolgt und die antretende
ahnungsvoll gezeigt. Mein Gott, was habe ich nicht alles begriffen in den
"Drei Schwestern" : die russische Welt, die Liebesverwobenheit
der schwerblütigen Nitschewo-Leidensbereitschaft. Das alles war so
beladen, so spezifisch russisch und umschloß uns doch alle.
KK :
Peter Stein, einer der bekanntesten deutschsprachigen Regisseure, begann
zwar als Assistent bei Kortner, fand zur Tradition des Künstlertheaters,
zu Stanislawskij aber auf dem Weg über den Dramatiker Anton Tschechow.
Vor Tschechow habe er allerdings so viel Respekt gehabt, daß er seinerzeit
an der Berliner "Schaubühne" zunächst einen Umweg über
Maxims Gorkijs Stück "Sommergäste" gegangen sei. Stein
sieht die Begegnung mit dieser Tradition als entscheidenden Wendepunkt in
seiner Regielaufbahn an.
O-Ton Stein / Stanislawski, Künstlertheater, Tschechow L:
Mit der Premiere der "Sommergäste", das war 1974, da konnte
ich nicht mehr zurück. Ich konnte nicht mehr zurück zu dem, was
ich vor 1974 gemacht habe. Ich konnte nicht zurück hinter die Formel
und hinter die Forderung, die Stanislawski das erste mal verbal an die Schauspieler
gestellt hat, nämlich die der Glaubwürdigkeit, der Verbindung
der Identität, der inneren Ausstattung eines Menschen und auch der
intellektuellen Ausstattung eines Menschen, eines Schauspielers mit dem,
was er dort macht. Das heißt das Aneignen des Textes in einer Art
und Weise, das sowohl psychisch, physisch, aber vor allen Dingen auch intellektuell,
die Sache so zum Vorschein kommt, als hätte der Schauspieler diesen
Text in diesem Augenblick sich ausgedacht.
Und alles, was zwischendrein gemacht wurde, war für mich dann sehr
schwer, weil ich zum Teil Stücke gemacht habe, an denen man eine solche
Anforderung nur sehr schwer stellen kann. Zum Beispiel bei Shakespeare...
oder auch in der griechischen Tragödie... trotzdem habe ich diese Schwierigkeiten
gesucht, weil das für mich der einzige Weg ist. Und ich habe dann natürlich
versucht, die Glaubwürdigkeit der Schauspieler so weit wie möglich
auszubauen und zu strapazieren sozusagen, um an die Dinge heranzukommen,
die eigentlich nicht, sagen wir mal, auf einem psychologischen Hintergrund
gebaut sind. Aber ich lasse davon nicht ab, die Quadratur des Kreises hinzukriegen.
Und das, wie gesagt, war eine Konsequenz der Arbeit mit an dem sogenannten
realistischen russischen Theater.