G r e g g   W a g e r

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    Die Symbolik als kompositorische Methode in den Werken von Karlheinz Stockhausen

 

 

                                                                                    

 

                                                                Dissertation von Gregg Martin Wager

                                                                zur Erlangung des Doktorgrades der Philosophie

 

                                                            

                                                                vorgelegt beim Fachbereich Altertumswissenschaft                                                                 

der Freien Universität Berlin - Musikwissenschaft                                                                                    

 

                                                               Erster Gutachter: Prof. Dr. Albrecht Riethmüller

                                                                Zweiter Gutachter: Prof. Dr. Gert Mattenklott

                                                           

 

 

 

 

© 1996 Gregg Wager

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

If life is limited within fifty years, we have a period of seven sevens for its first cycle.

 

 

 

Josef Rodes Buchanan

Periodicity, 1897

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

INHALTSVERZEICHNIS

VORWORT

VORbemerkungenEINFÜHRUNG

      § 1 "Umfassende" Studie

      § 2 Die Symbolik in der Musik

      § 3 Die Studienzeit

      § 4 Frühe Werke

      § 5 Die sechziger Jahre

      § 6 Formel-Technik

      § 7 Licht

      § 8 Der moderne Mythos

 

KAPITEL 1 - DIE SYMBOLIK

     Vorwort

     § 1 Die Bedeutung von Symbolen

     § 2 Die Ebenen der Sprache

     § 3 Bedeutung in der Musik

     § 4 Die Ebenen der Musik

     § 5 "Bedeutung" in Stockhausens Musik

     § 6 Die Ebenen von Stockhausens Musik

     § 7 Metapher

     § 8 Hermeneutik

     § 9 Metapher und Musik

     § 10  Hermeneutik und Musik

     § 11 Metapher, Impertinenz und Stockhausen

     § 12 Hermeneutik und Stockhausen

 

KAPITEL 2 - BIOGRAPHISCHE BEDEUTUNGEN

     § 1 "Ein Kind des Krieges"

     § 2 Geistliche Bedeutung

     § 3 Hermann Hesse

     § 4 Werner Meyer-Eppler

     § 5 Der "höhere" Mensch

     § 6 Andere Biographische Symbole

 

KAPITEL 3 - NUMERISCHE BEDEUTUNGEN

     § 1 Numerologien

     § 2 Zeitkontinuum

KAPITEL 4 - OKKULTISMUS

     § 1 Anfänge des modernen Okkultismus   

     § 2 Telepathie, ein Begriff aus Spiritualismus (Spiritismus)

     § 3 Ein Blick nach Osten: Sri Aurobindo Ghose und Hazrat Inayat Khan

     § 4 Theosophische und anthroposophische Hintergründe

     § 5 Sirius und UFOs

     § 6 Vögel, Fliegen und Flugkörper

     § 7 Stockhausen als Mythos

 

 

KAPITEL 5 - FORMEL ALS SYMBOL

     § 1 Formel als einführender Satz

     § 2 Selbstreferenz

     § 3 Skizzen

     § 4 Formel-Technik und ein Zyklus von Stücken

 

KAPITEL 6 - LICHT

     § 1 Eine verlorene Quelle von Licht: The Urantia Book

     § 2 Andere Quellen

     § 3 Examen

 

WERKVERZEICHNIS

VERZEICHNIS DER ABGEKÜRZT ZITIERTEN LITERATUR

VOLLSTÄNDIGES LITERATURVERZEICHNIS

LEBENSLAUF DES VERFASSERS

 

 

 

 

 

 

 

VorworT

 

Herzlich danken möchte ich Herrn Professor Albrecht Riethmüller (Freie Universität Berlin) für seine umfassende und stets hilfreiche Betreuung und Unterstützung dieser Arbeit. Durch das Studium bei ihm konnte ich vielfältige neue Erfahrung und einen reichen Schatz von Anregungen und Informationen sammeln. Bei vielen bürokratischen Problemen beriet mich Professor Riethmüller mit großer Geduld und Umsicht. Seiner Frau, Sherri Jones, danke ich ebenfalls herzlich für ihren Rat und ihre Unterstützung während meines Aufenthaltes in Deutschland.

     Gedankt sei insbesonders meinem Lehre Leonard Stein (Los Angeles), der mir den Rat gab, mich an Herrn Professor Riethmüller zu wenden.  Leonard Stein, ein ehemaliger Assistent Arnold Schönbergs, betreute meine erste Arbeit über Karlheinz Stockhausen[1].

     Mein ganz besonderer Dank gilt dem Komponisten Karlheinz Stockhausen. Es bedeutete eine große Hilfe für mich, ihn während der Entstehung dieser Arbeit persönlich kennenzulernen. Für seine Gesprächsbereitschaft bin ich sehr dankbar. Ferner bedanke ich mich für die Möglichkeit, in seinem Archiv zu arbeiten (mein Dank gilt auch Maria Luckas für die dortige Betreuung).

     Für ihren Rat sei herzlich den Stockhausen- und Neue-Musik-Experten Christoph von Blumröder (Freiburg i. Br.), Peter Britton (Cambridge, England), Jerome Kohl (Seattle, Washington), Robin Maconie (Olney Bucks, England), Michael Manion (Oakland, Kalifornien / Köln) und Barry Sullivan (Cumbria, England), im weiteren Steel Stylianou (Berlin), Alexander Koop (Berlin), Frank Gutschmidt (Berlin), Adriaan Schakel (Berlin), Bart Kosko (Los Angeles), Richard Cytowic (Washington DC) und Russell Kauper (Los Angeles) gedankt.

     Für ihre Hilfe bei den Vorbereitungen meines Aufenthaltes in Deutschland danke ich Heide Cressin, Ellen Eberling, Gabi Strigal, Beahte Berger, Lydia MacDonald, Roberta May, Anton Pechaver und insbesonders Donald O'Toole, der mir ein wichtiger Mentor war und ist.

     Ich danke für ihre Hilfe auch Michael Kiometzis, Christa Brüstle, Sabine Feißt, Claudia Franz, Ute Bonaker, Bobbi Riedl, Lars-Uwe Dittman und Ulrike Karstädt.

     Für ihre Liebe und ihren Glauben danke ich ganz besonders meiner Frau Jae-Wook und meiner Familie (Großmutter Flora, Vater Martin, Mutter Junia und Bruder Steven), ohne die diese Arbeit nicht entstanden wäre. Nur mit ihrer Hilfe konnte mein Aufenthalt in Deutschland ermöglicht werden.

     Zum Schluß gilt mein besonderer Dank Dale Norris, der mir als Philosoph und Dichter ein einzigartiger Freund ist.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

VorBEMERKUNGEN

 

Es gibt zwei wichtige Anmerkungen zu machen, bevor man diese Arbeit liest. Die erste Anmerkung betrifft das häufig auftretende falsche Buchstabieren eines Werktitels von Stockhausen: Zeitmaße. An seiner Stelle wird oft Zeitmasze verwendet. Diese Schreibung ist nicht richtig. Unter ss/ß in den Richtlinien des neuen Duden (Bd. 1)[2] findet man folgende Regeln, die auch in Deutschland nicht allzu bekannt sind:

 

     "Will man nur Großbuchstaben verwenden, so wird das ß durch SS ersetzt.

      STRASSE, MASSE (für: Masse oder Maße)

 

     Nur wenn Mißverständnisse möglich sind, schreibt man SZ (dies gilt nicht für                          

     Kleinbuchstaben!).

 

     MASSE (für:  Masse)

     MASZE (für: Maße)" 

 

     Da Stockhausen seit den sechziger Jahren seine Werktitel in Großbuchstaben schreibt, kommt es häufig zu solchen orthographischen Mißverständnissen (zum Beispiel in vielen Konzertprogrammen). Weshalb der Komponist nur Großbuchstaben benutzt, läßt sich zumindest aus seinen Texten Bd. III-VI nicht erschließen. Fast alle Stockhausen-Kenner und - Experten übernehmen aber die Schreibweise des Komponisten. Eine Ausnahme bildet dabei der Stockhausen-Biograph Michael Kurtz, der die Titel kursiv setzt.

     Einer Empfehlung von Professor Riethmüller folgend werde ich in dieser Arbeit Stockhausens Schreibweise ebenfalls nicht übernehmen. Meine Entscheidung hierfür ist wohlbegründet: Man kann in einer wissenschaftlichen Arbeit nicht genau bestimmen, wie die Titel beim Zitieren geschrieben werden sollen.  Es ist schwierig zu entscheiden, ob sie kursiv oder in Anführungszeichen zitiert werden können. Nach Stockhausen bleiben die Titel immer gleich, ob sie nun in zitierter Form verwendet werden oder nicht (die meisten Stockhausen- Autoren belassen die Titel ebenso immer in Großbuchstaben).  Stockhausens Schreibung hat sich also inzwischen sozusagen durchgesetzt, obwohl es in der Musik und Musikgeschichte keinen vergleichbaren Fall gibt.

     Es kann dabei nicht unberücksichtigt bleiben, daß Stockhausens Werktitel offenbar auch den Werken selbst eine ganz besondere Bedeutung verleihen sollen. Die Werke erhalten dadurch eine singuläre, fast heilige Ausstrahlung.  Der Komponist glaubt jedenfalls daran; und die Stockhausen-Kenner orientieren sich an seinen Vorgaben.

     In der vorliegenden Arbeit war es meine Absicht, so neutral wie möglich zu bleiben.  Daher habe ich die Schreibweise von Kurtz angewendet[3]. 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Einführung

§ 1 "Umfassende" Studie

 

Die Bezeichnung "umfassend" gerät zu einem Problem, wenn man damit das Ziel irgendeiner ernsthaften Untersuchung der Musik von Karlheinz Stockhausen umschreiben möchte.  Obwohl vorhergehende Studien, deren Autoren den hochfliegenden Anspruch "umfassend zu sein", halten  - und derer gibt es relativ viele - , oft interessant und in einigen Fällen nützlich sind, enthält Stockhausens Musik ehe solche Komplexität (und sogar Geheimnisse), daß der Versuch, eine seiner Kompositionen bis auf den Grund zu analysieren, nicht nur seinen Sinn verliert, sondern auch das Risiko in sich birgt, Ergebnisse hervorzubringen, die oberflächlich und manchmal sogar nutzlos sind. Natürlich gilt dasselbe Argument auch für Studien über andere prominente Komponisten der Geschichte. Denn eigentlich tendiert das alte Sprichwort, nach dem es das Wesen eines musikalischen Meisterstücks sei, daß man ihm wieder und wieder zuhören und noch bei jedem Mal neue Dinge entdecken könne, dahin, den Sinn des Ausdrucks "umfassende Studie" überhaupt zu beschränken, zumindest solange er sich auf dauernde Werke der Kunst bezieht. Ein Kollege Stockhausens, der mit ihm befreundete Pierre Boulez, sprach von dem Problem der Menschen, die seriellen Werke in ihre Bestandteile "auseinanderzunehmen", als wären sie "eine merkwürdige Sorte von Uhren"[4]. Vielleicht ist es verwunderlich, daß ein Komponist, dessen Musik zur Meisterung der technischen Schwierigkeiten der Hingabe des Aufführenden bedarf, zu Gunsten einer verblüffenden, neuen Hörerfahrung, die sie erreichen soll, den fleißigen Gelehrten kritisiert, der ungebeten versucht, jede Klang und jede Permutation einer Reihe von Elementen oder jede Verbindung einer großen oder kleinen musikalischen Form zu erklären. Aber es ist wichtig, die Wörter "comprehensive" ("umfassend") und "comprehend" ("begreifend", sozusagen "erfassend") nicht zu verwechseln. Denn die langweilige Tätigkeit, jede Idee oder Technik in einem Stück zu katalogisieren kann zu Entdeckungen führen, die für das Verständnis eines Stücks nützlich sind. Sie soll dennoch nicht als wichtiger erachtet werden als die eigentliche Aufgabe, die Musik zu verstehen und, was noch wichtiger, wiewohl ein subjektives Unterfangen ist: sie zu beleuchten.

     Stockhausen erklärt diesen Unterschied treffend:

 

"Wenn aber jemand sich in eine bestimmte Musik verliebt, ob Kind oder wer auch immer - und mir sagt: 'Das da, das finde ich toll', und wenn      er nicht weiß, wie er es sagen soll und ich ihn frage: 'Weißt Du, wie es gemacht ist?', und er den Kopf schüttelt: 'Nein, nein', und ich weiter frage: 'Willst Du wissen, wie es gemacht ist?', und er sagt: 'Ja, ja', so werde ich antworten:  'Also gut, dann will ich Dir zeigen, wie es gemacht ist.'

Dann beginne ich, was man in der Chirurgie als 'Anatomie' bezeichnet. Und ich werde sagen:  'Paß aber auf, wenn man sehen will, was in einem Vogel alles drin ist, so muß man ihn töten.  Auch die Musik fliegt.  Wenn Du aber wirklich willst, daß ich dieses Stück jetzt töte, so gib acht, daß ich Dir zeigen kann, was alles darin ist.' "[5]

 

     Insbesondere findet man in Stockhausens Musik Techniken, die mit Hilfe umfangreicher, komplizierter Tabellen formuliert werden und die viel Aufmerksamkeit brauchen, um erfaßt zu werden. Anders als die Musik eines der einflußreichsten Vorgänger von Stockhausen, Anton Webern, charakterisieren Riesentexturen mit unzählbaren Noten und Schwierigkeiten nicht nur viele dieser Werke, sondern eine Lösung oder einen Schlüssel (wenn es überhaupt einen gibt) bringt auch die Werke, die - wie in Klavierstück III[6] - nur spärliche Informationen enthüllen, eine Aufgabe mit sich, die dem Entwirren des gordischen Knotens ähnelt. Trotzdem ist das Verstehen dieser Musik als Kunst nicht unbedingt eine Übung, in der man versucht, jede Schalltätigkeit mit einem numerischen Muster zu erklären, sondern es ist ein sich langsam entfaltendes Verstehen, in dem die Überlappung der zahlreichen Ebenen akzeptiert wird, und, dort wo es angebracht ist, eine Bestimmung, in der Strukturen von dieser Komplexität begegnen. Andererseits nützt Stockhausen in Kontakte den Ausdruck "Momentform", um seine Absicht zu beschrieben, eine Musik machen zu wollen, die von einem Punkt in der Zeit bis zu einem anderen in keinerlei bestimmter Verbindung steht[7].  Das Ziel ist eine Hörerfahrung, die fast traumähnlich ist und eine Entwicklung vermeidet. Wie soll diese Musik dann analysiert werden? Eine einfache prosaische Beschreibung von jedem Ereignis zu geben, mag eine nützliche Übung für den Zuhörer sein. Aber für den Musikwissenschaftler, der dieses Werk für andere erhellen möchte, hat eine solche Beschreibung weniger Wert. Wenn ein geduldiger Autor sich mit diesem Gegenstand beschäftigen möchte, sollte er die Beschränkungen seiner Aufgabe akzeptieren, und langsam, Schritt für Schritt, sich auf jedes Ding einzeln konzentrierend fortfahren. In der vorliegenden Arbeit ist Stockhausens Symbolik in den Mittelpunkt gestellt. Natürlich ist es wichtig, dieses Wort zu definieren, bevor es auf die Musik Stockhausens angewendet wird. Anstatt ein einziges Werk zu betrachten, das die Symbolik mehr als andere illustriert, oder anstatt jedes möglich scheinende Beispiel herauszugreifen und erschöpfend behandeln zu wollen, gibt diese Studie an Hand ausgewählter Beispiele einen Überblick über das gesamte Oeuvre Stockhausens und wirft auch ein Licht auf die Symbolik, die ein einzelnes Opus mit einem anderen verbinden mag. Erstens werden die ersten Werke aus Stockhausens Karriere gleichzeitig mit jenen biographischen Sachen geprüft, um zu illustrieren, wie Stockhausen sehr früh in seinem Leben ein Symbol von dem neuen Deutschland sowohl einer jüngeren Generation von Komponisten wurden, trotz seiner ziemlich tragischen Kindheit. Seine Entwicklung der Momentform aus Weberns Pointillismus, welche eine besonders prächtige und vielfältige Ansammlung von Numerologien darstellt, enthält neue Geheimnisse und Tendenzen im Bereich der Symbolik. Stockhausens drastische Wende zu metaphysischen Aspekten der Musik, seine subjektivere Sprache über Musik und sein theatralisches Interesse in den sechziger Jahren zeigen drittens eine ähnliche Behandlung der Numerologien, aber enthält noch weitere Tendenzen, wie die Anwendung von Elementen aus Träumen. Danach wird sein Rückkehr zur Formeltechnik, die er während seiner Studienzeit entwickelt hat, untersucht. Und schließlich ist Licht , das bis dato unvollständige Theaterstück, das letzte Beispiel der Symbolik in dieser Studie.   

 

§ 2 Die Symbolik in der Musik

 

Um einen praktischen Begriff der Symbolik zu entwickeln, welcher auf die Musik angewendet werden kann, werden Konzepte aus der Philosophie entliehen, namentlich aus der Disziplinen der Linguistik:  Semiologie, Semantik und Hermeneutik. Durch Analogieschluß nach der Muster:  "So wie in der Linguistik a zu b verhält, verhält sich in der Musik c zu d", kann die Musik als (Schrift-) Sprache aufgefaßt werden. Ergebnisse, die von Philosophen auf dem Gebiet der post-strukturalistischen, post-existentialistischen Linguistik - Umberto Eco, Hans-Georg Gadamer, Jacques Derrida, Paul Ricœur, Claude Levi-Strauss, et al. - in sorgfältigen Untersuchungen erzielt worden sind, können so auf die Musik übertragen werden. Es wird außerdem die These aufgestellt, daß die Studien zur Linguistik ohne eine Untersuchung des Phänomens der Musik eigentlich unvollständig sind. Dies gilt insbesondere für die atonale Musik des 20. Jahrhunderts, die durch Komponisten wie Stockhausen in einer asymmetrischen Form der Äußerung - ähnlich der Prosa - entwickelt wurde.

     Lejaren Hiller erläuterte dieses Problem in einem 1963 Vortrag in Darmstadt:

 

"Wenn wir zunächst einmal in der Annahme einig sind, daß die Musik eine gültige Form der Mitteilung in den menschlichen Beziehungen ist, so muß sie mit anderen Arten der Mitteilung, wie zum Beispiel der gesprochenen und geschriebenen Sprache, mit anderen          Kunstgattungen wie etwa der Malerei und Plastik und schließlich auch mit anderen, eher zum Bereich der Technik gehörigen Kommunikationssystemen, wie zum Beispiel Rundfunk, Fernsehen, Telegraphie und sogar Codesystemen und chiffrierten Mitteilungen        gewisse Eigenschaften gemeinsam haben."[8]

 

     Obwohl andere Gelehrte die Verbindung zwischen Musik und diesen zeitgenössischen philosophischen Richtungen aufgezeigt haben, gibt es noch Schwierigkeiten, die Ressourcen der beiden Welten - Musik und Sprachwissenschaft (und auch moderne Philosophie) - zu vereinen und zu wichtigen Schlüssen zu kommen. Sprachwissenschaftler Nicholas Ruwet[9] ist eine bemerkbare Ausnahme, sowie der kanadische Musikwissenschaftler Jean-Jacques Nattiez[10].

     Um die Implikationen dieser Verbindung zwischen den beiden Welten erschöpfend zu prüfen, wird es notwendig sein, nicht nur die Analogie zwischen Musik und Prosa zu illustrieren, sondern auch auf die Ähnlichkeit der historischen Entwicklung der Monophonie, Modalität und Tonalität auf der einen Seite und der Formen der Sprache und Schriftsprache auf der anderen Seite hinzuweisen. Deshalb sind im ersten Teil dieser Studie ein allgemeiner Überblick über die Linguistik und die Musik gegeben. Am Ende dieses Überblicks werden die Parallelen und Unterschiede zwischen Stockhausens (auch in der Musik) Symbolik und der Linguistik beleuchtet.

     Stockhausens Benutzung der "Formel" ist in diesem Vergleich besonders wichtig.  In mancher Hinsicht fungiert sie als ein Inhaltsverzeichnis, oder als eine Zusammenfassung, aber auch als ein einführender Satz.

     Die Interpretation des musikalischen und theoretischen Werks Stockhausens führt auch zu der vielleicht mehr als ironischen Feststellung, daß die Werke seiner Studienjahre, durch die er erst zur "Formel" fand, für den Rest seiner musikalischen Entwicklung selbst die Funktion einer Formel haben. Die Behandlung der Symbole im Verlauf dieser Entwicklung stellt die Frage nach der "Bedeutung" in der Musik und, am wichtigsten für einen Vergleich mit der Linguistik, besonders die nach der Metapher und der Doppel- und Mehrfachbedeutung. Auch ist der Begriff der Flexion wichtig in der Sprache - in Schrift und Notenschrift - und seine Verbindung mit der Bedeutung.

     Mit diesen Fragestellungen nimmt diese Untersuchung eine spezifische Richtung, aber es kann nicht oft genug betont werden, daß ein "umfassendes" Katalogisieren der Symbole in Stockhausens Musik weniger zweckmäßig erscheint, als das Benutzen nur einiger Symbole zur Illustration bestimmter Schlüsse, die gezogen werden. Das Aufzählen der Symbole mag zur Illustration dieser Schlüsse nützlich sein, aber dennoch ist das vorrangige Ziel die Interpretation und nicht die Beschreibung von Stockhausens Musik, wie er 1953 in seiner Musik selbst betont:

 

"Warum unternimmt man es denn mit unbeirrbarer Konsequenz, von der Vorstellung bis  zum einzelnen Ton jeden Vorgang bewußt zu machen, in Frage zu stellen und kritisch zu prüfen?  Das ist nicht nur negativ damit zu erklären, man handle in Reaktion gegen eine           Musik, die bis zur Neige mit Metaphern geladen gewesen sei; die endlich nur noch symbolistisch hätte verstanden werden können; die so sehr auf Assoziationen, neurotische Zustände und unbewußte sinnliche Erregung ausgewesen sei, daß ihre letzten Ausläufer heute in 'Film- und Geräuschkulisse' genau am Platze seien.  Das ist auch nicht nur damit zu erklären, Restaurationsversuche von Komponisten der vorigen Generation hätten sich als ungenügend herausgestellt."[11]

 

     Wie in diesem Zitat geäußert, soll eine Studie der Symbolik (und nicht der "Inhalt" der Musik selbst) deshalb keinesfalls einem Urteil über Stockhausen dienen. Es gibt natürlich Kritiker, die die Musik von Stockhausen oberflächlich oder um des literarischen Effektes abzuqualifizieren willen, und Kritiker, die voll des Lobs für Stockhausen sind. Aber der Erfolg Stockhausens soll hier kein Thema sein.

 

§ 3 Die Studienzeit

 

Wenn man bedenkt, daß die Komposition Spirale ein Symbol ist - oder wenigstens die Vorstellung einer Spirale -, wird die späte Rückkehr Stockhausens zu den in seinen Studentenjahren entwickelt Methoden klarer. Sicherlich ist Mantra ein viel entwickelteres Stück als Formel, welches nur Vorarbeit für die Formeltechnik leistet. Weil so viele Komponisten, wie zum Beispiel Johannes Brahms, es wichtig fanden, ihre frühen "minderwertigen" Werke zu zerstören, wird Stockhausens Umnumerieren (in den siebziger Jahren) seiner frühen Werke von Chöre für Doris bis Punkte interessant und zu einem wichtigen Schlüssel zum Verständnis seiner Tätigkeit während der fünfziger Jahren[12]. So wie von oben betrachtet eine Spirale immer wieder zu ihrer Ausgangspunkt zurückkehrt, kehrt Stockhausen, durch die einfachen Brüche "" bis ""[13], zu Ideen zurück, die früher formuliert wurden, obwohl sie jetzt fortschrittlicher und entwickelter sind. Das Wort "Reprise" ist hier vielleicht problematisch, obwohl Stockhausen die Sonatenform früher als Analogie seiner Ideen besprochen hat[14]. Aber letzten Endes sollen Verweise auf die musikalischen Formen der Vergangenheit in Stockhausens Musik sparsam genutzt werden, weil er selbst die Vorstellung unbedingt ablehnt, von klassischen oder romantischen Traditionen in der Musik beeinflußt worden zu sein.

     Trotzdem sieht man in diesen frühen Werken ein Symbol von einem neuen Deutschland und neuen Avantgarde. Der Sieg über Hitlers 1000 Jahre Reich war auch ein Sieg über seinen Begriff der "entartenden Kunst."  Kurz nach dem Krieg entdeckte junge Komponisten zum ersten Mal die Musik von Schönberg, Webern und Hindemith, sowohl Schriftsteller wie Thomas Mann und Hermann Hesse (besonders Das Glasperlenspiel). Aus den Trümmern flog ein Phönix. 

 

§ 4 Frühe Werke

 

Stockhausens zwölf Stücke von Kontra-Punkte bis Kontakte - seine ersten "professionellen" Werke - legen den Grundstein zu seiner Entwicklung als Komponist. Weil es in ihnen häufig keine überwältigenden Abweichungen von der traditionellen Notation (mit der Ausnahme von Zyklus, Refrain und den "elektronischen" Werken) gibt und jedes dieser Werke kompromißlos Virtuosität erfordert, beeindrucken diese ersten 12 Kompositionen, wenn auch beschränkt, sogar die schwerfälligsten, hartnäckigsten Kompositionprofessoren und Musikwissenschaftler, die keinerlei Modernität seit Igor Strawinsky (oder in strengeren Fällen, gar seit Ludwig van Beethoven) akzeptieren. Diese frühen Werke sind schnörkellos und diszipliniert, und sie setzen ehrgeizig die Ideen Arnold Schönbergs und Weberns fort, während sie gleichzeitig mühsam auf einem eigenen, neuen Pfad vorwärtskommen.

     Aber unterhalb dieser etwas komplizierten Ebene existiert in den Frühwerken ein Reichtum an Numerologien und Mystizismus, der der Absicht dieser Arbeit, Stockhausens Werk zu deuten und leuchten zu lassen, entgegenkommt.  In mancher Hinsicht sind sie auch für den Zuhörer die schwierigsten Werke. Sie bedürfen der sorgfältigen, fleißigen Forschung. Sie sind abstrakt, weil sie, jenseits ihrer eigenen, komplizierten Schallstrukturen, dem Zuhörer sehr wenig zu begreifen bieten. Nur Gesang der Jünglinge und Carré arbeiten mit "Texten" (obwohl die Behandlungen von Wörtern in diesen Fällen unerkennbar als eine normale Vertonung von Texten sind).  Stockhausens eigene Erklärung der verschiedenen Abstufungen zwischen Pointillismus und Momentform verschafft etwas Abhilfe[15]. Es ist leicht, ein Stück an Hand seiner Orchestration, einiger anfänglicher Takte oder eines spezifischen Zugs zu klassifizieren, aber es erfordert schon eine besondere Hingabe, diejenigen Informationen aus den Stücken auszusondern, die die Logik ihrer Strukturen deutlich erkennbar werden zu lassen.  Die Symbole helfen bei diesem Prozeß, und Ziffern als Symbole zu begreifen macht das Hören dieser Musik zu einer viel mystischeren Erfahrung als die einiger Zeitgenossen Stockhausens, wie etwas Boulez, Luigi Nono oder Iannis Xenakis.

     Es ist der Mystizismus Stockhausens, der den Gegenstand der Symbolik so angemessen erscheinen läßt und so viele Möglichkeiten der Interpretation eröffnet.  Es ist grundsätzlich eine subjektive Tätigkeit, die Schönheit selbst der einfachsten Melodie zu genießen und anders als die Dichtkunst, die sehr konkret und frei von Metaphern sein kann, wenn der Schriftsteller das möchte, enthält die Musik innerhalb bestimmter Grenzen immer die Möglichkeit der Vielfachinterpretation. Diese Grenzen werden in der Musik Stockhausens sicher in besonderem Maße strapaziert, aber das läßt die Bedeutung nicht willkürlich oder, wie Cage in vielen Fällen sagt, "ohne Absicht" werden.  Es herrscht stets eine Logik in der Form und oft auch der Zahlen, die als Symbole in einem bestimmten Verhältnis zur Form stehen und als Kompositionselemente dienen. Obwohl die Musik nie von den Zahlen beherrscht wird, werden Zahlen zu einer wichtigen Methoden, Verbindungen zwischen verschiedenen musikalischen Gesten herzustellen.

     Eine Verbindung zwischen Gesten wird in Kontakte absichtlich vermieden, um die Momentform zu entwickeln und herauszubilden. Aber es gibt in Kontakte bestimmte Beispiele, die diesem Prinzip widerstreben. Trotzdem bleibt Kontakte eine, wenn nicht die nützlichste, Schlüsselkompositionen im gesamten Werk Stockhausens. In diesem sehr schwierigen und herausfordernden Stück sind viele verschiedene Ebenen enthalten, die einer besonders beachtet werden müssen, weil sie wichtige Motive für Stockhausens weiteres Schaffen enthalten. Mit Kontakte gelangt Stockhausen an einen Wendepunkt. Es ist ein Kadenz, und die mystische Explosion, die in den auf Kontakte folgenden Kompositionen geschieht, kann wie die zweite Brennstufe einer gezündeten Rakete angesehen werden. Es ist deshalb wichtig, vorsichtig zu analysieren, warum dieser radikale Wechsel stattgefunden haben mag.

     Die Janus-Funktion von Kontakte wird weiterhin in Originale - einem Stück absurden Theaters - deutlich das die elektronische Musik Kontaktes als wesentliches Merkmal enthält.  Die ursprüngliche Idee von Kontakte Kontakte zwischen elektronischer und akustischer Musik herzustellen, wird nun zur Idee von Kontakten zwischen der älteren, schmuckloseren Welt in Stockhausens frühen Werken und dem neueren, bis dahin unerforschten Reich des Theaters und der Kunst, die von der Fluxus-Bewegung inspiriert wurde. Auf diese Art und Weise kann das ganze Stück Kontakte als ein Symbol an und für sich betrachtet werden.

 

 

§ 5 Die sechziger Jahre

 

Stockhausens Tätigkeit in den sechziger Jahren wird zum Zweck der folgenden Studie auf den Zeitabschnitt zwischen Momente (Werk Nr. 13) und Fresco (Nr. 29) - dem letzten Stück, bevor Stockhausen einen eigenen Verlag für seine Partituren gegründet hatte - beschränkt werden. Obwohl mit Mantra (Nr. 32, von 1972) vielleicht ein deutlicher stilistischer Wandel markiert wird, ist dieser als Wendepunkt zwischen den stilistischen Perioden der sechziger und siebziger Jahre nicht so scharf ausgeprägt wie der, der mit Kontakte gesetzt wird.  Zum Beispiel finden sich die Methoden, die Stimmung (Nr. 24) genutzt werden, auch in Sternklang (Nr. 34) wieder, und die intuitiven Texte Aus den sieben Tagen (Nr. 26) können in Für kommende Zeiten (Nr. 33) geradezu als fortgesetzt betrachtet werden. Was wichtiger ist, als die genaue Zeit festzustellen, zu der Stockhausen die in seinen Studienjahren (um 1954) entwickelte Formel-Technik um 1972 wiederentdeckt, oder als jene Studienwerke selbst, sind klare Beschreibungen und Erläuterungen der neuen Möglichkeiten für kompositorische Methoden in der Arbeit Stockhausens während dieser Zeit und vielleicht die Angabe der Gründe, die ihn in diese neue Richtung zwangen.

     Eine Untersuchung der Symbole in Plus-Minus (Nr. 14) könnte sicher mehrere Kapitel einnehmen, denn es handelt sich um eine Studie der Notation und der Symbole an sich. Es soll hier nicht die wichtigste Aufgabe sein, jede Figur und jedes Schriftzeichen zu katalogisieren, die Stockhausen in Plus-Minus nutzt, wohl, die Instruktionen, die von dem 13ten und 14ten Band und negativen 13ten Band handeln[16] - eine merkwürdige Seite dieses "do-it-yourself" Stücks, die in den letzten Jahren von den Komponisten, die sich an die Realisierung gewagt haben, verschieden interpretiert worden ist -, auf seine Symbolik und Bedeutung hin zu untersuchen:

       

"13.  Erreicht ein Typ +13 Ganze (als Gesamtsumme seiner Teile) so soll an seine Stelle dieser Typ in seiner Ausgangsform (= 1 Ganzes), jedoch mit völlig neuer, aus dem Zusammenhang fallender Klangcharakteristik, wieder begonnen werden.

 

14. Erreicht ein Typ -13 Ganze, so wird er im weiteren Verlauf nicht mehr berücksichtigt. Wann immer dieser Typ wieder auftritt, wird er übersprungen."[17]

 

     Daß Stockhausen die zahlreichen Notationsmethoden, improvisatorischen Aspekte und aleatorischen Formen seiner Arbeit aus den sechziger Jahren nicht mehr nutzte, als er begann, Licht zu schreiben, darf nicht falsch aufgefaßt werden. Diese Werke sind keine Experimente, die in eine Sackgasse führten, und sie dürfen deshalb auch nicht einfach verworfen werden.  Die vielen neuen Wege, die er während seiner langen Karriere beschritt, stimulierten seinen Schöpfergeist. Ein Stilwechsel darf nicht mit einem Aufgeben einer bestimmten Technik oder Richtung gleich gesetzt werden. Im Vergleich zu Stockhausen war Boulez seit La Marteau sans Maître (1957) und die dritte Klaviersonate (1957) nicht fähig, solch einen radikalen stilistischen Wechsel in seinem kompositorischen Werk zu vollziehen, und er hat vielleicht deshalb seine Karriere als Dirigent fortgesetzt. Weil die Kreativität ein so unerklärliches Phänomen ist, sollte man nie versuchen, einen Komponisten auf einmal genutzte Techniken oder Verfahren festzulegen. Alle Komponisten müssen eine geeignete Methode finden, alte Wege zu verlassen, um aus dem Trott herauszukommen, ohne dabei einmal genutzte Mittel unbedingt zu verwerfen.

     Aber es gibt auch eine Ähnlichkeit in Stockhausens Kompositionen der fünfziger und sechziger Jahren. Die Analyse der Symbolik wird helfen, sie zu erläutern, während die Verbindungen zu dieser Symbolik eine allgemeinere Beschreibung der Technik Stockhausens als Ganzes ermöglichen.  

     Werke wie Mikrophonie I  und Stimmung oder die eher improvisatorische Prozession sollen noch mit einem ähnlichen Ansatz geschrieben wie Kontra-Punkte, Zeitmaße und Kontakte. Auch gibt es ähnliche Behandlungen der Numerologien und des Mystizismus in den beiden verschiedenen stilistischen Perioden. Und erneut stellen wir fest, daß das Wort "Symbolik" sehr flexibel angewendet werden kann, denn sowohl eine ganze Komposition, wie zum Beispiel Kontakte, als auch eine Ansammlung von Kompositionen oder ein stilistischer Wechsel können als ein Symbol ausgelegt werden.

 

 

 

 

 

 

§ 6 Formel-Technik

 

Manche Untersuchungen der Formeltechnik werden schon oder werden veröffentlicht[18], und eine Untersuchung der Symbolik soll intensiv die Implikationen dieser Technik und ihre Bedeutung prüfen. Die Analogie zum "Körper und seinen Gliedern", die Stockhausen nutzt, ist bedeutungsvoll nicht nur für musikalische, sondern auch für theatralische Anwendung.

     Aber zusätzlich zur Formeltechnik stößt Stockhausens Werk in den siebziger Jahren im Vergleich zu seinen früheren Werken in so viele unerforschte Gebiete vor, wie etwa Melodien, die "tonale" Zentren etablieren - Musik im Bauch, Im Freundschaft und Amour -, daß diese Periode seiner Entwicklung sich wie eine Spirale fortsetzt, während er gleichzeitig seine etablierten Ideen der Vergangenheit beibehält.

     Viele Werke der siebziger Jahre sind nicht nur einander ähnlich oder haben Ideen miteinander gemeinsam, sondern sie auch spezifische musikalische Materialien:  Sirius, zum Beispiel wird mit den Melodien von Musik im Bauch aufgebaut. Aber es gibt auch Werke, zum Beispiel Inori, die einzig dastehen und getrennt betrachtet werden müssen.

     Im Anschluß daran schälen sich Stockhausens Ideen von Mystizismus und Mythos immer deutlicher heraus. Werke wie Alphabet für Liège und Sirius fordern den Zuhörer nicht nur auf, die vielfältigen Klänge der Musik so zu erfahren, wie sie sein Ohr erreichen, sondern sie auch mit den großen spiritualen Mythen und Denkweisen zu verbinden, die sein Verständnis vom Universum oder der "Universen" - wie ausführlicher unter Betrachtung auf the Urantia Book erläutert werden wird - herausfordern.

     Die Funktion der Musik wird auch hier zu einer wichtigen Angelegenheit. In Sirius stellt Stockhausen eine Welt vor, in der die Musik mit jedem Aspekt des Weltalls, der Sternkonstellationen, der Elemente und der Tage, Monate und Jahre verbunden wird. Für die Aufführung des Werkes ist eine Choreographie für den Schlußapplaus vorgesehen, in der beide Musiker und beide Musikerin vom Komponisten für genau zwölf Sekunden vorgestellt wird. Was normalerweise ein routinemäßiges, unvorbereitetes Ritual ist, wird jetzt nach einer Numerologie und nach Symbolen geordnet.  Es ist beinahe die mittelalterliche Idee, daß selbst die einfachsten Aufgaben des Lebens im Bewußtsein einer "höheren" Ordnung erfüllt werden sollen.

     Die Astrologie wird ebenfalls wichtig. Über musikalische Klänge nachzudenken, als ob sie Sterne am Himmel wären und nicht nur erkennbare Muster aus Tönen, sie als Subjekte wie in der Astrologie auszufassen, befördert die Musik in eine andere Dimension, erweitert sie um die Atonalität. Das 24.000jährige platonische Jahr, das auf der wissenschaftlichen Annahme beruht, daß die kreisende Erdachse sich alle 2.000 Jahre in einem anderen Tierkreiszeichen zeigt, wird am Ende von Sirius als zwei Melodien von Tierkreis - Pisces und Aquarius (Fische und Wassermann) - vertont. Sie erscheinen auf dem Tonband, auf dem sie von Stockhausen auf dem Klavier gespielt werden. Das "Zeitalter Pisces" ist die 2.000jährige Periode zwischen der Geburt Christi und dem 21. Jahrhundert, einem Zeitalter des Kriegs und der Verwirrung.  Das "Zeitalter Aquarius" ist in der Astrologie dementsprechend ein Zeitalter der Erleuchtung, die in der zweiten Hälfte (ungefähr) des Jahrhunderts schon begonnen hat.

 

 

§ 7 Licht

 

Daß Stockhausen nicht aufgehört hat seine Ideen zu entwickeln, zu überraschen und zu schockieren, lange nachdem er etabliert war, weithin Anerkennung, wenn nicht Anbetung als eine der wichtigsten musikalischen Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts durch viele Kritiker erfahren hat, lange nachdem sein Status geradezu mythische Proportionen entwickelte, findet nirgendwo besseren Niederschlag als in seinem dramatischen Werk Licht. Etwas später als nach der Halbzeit seiner 18jährigen fruchtbaren, produktiven Tätigkeit, das anvisierte siebenteilige Gesamtkunstwerk, unterteilt entsprechend den sieben Tagen einer Woche, übertraf alle anderen, vorhergehenden Werke, und brachte außerordentlich reiche Palette an Symbolen und Mythen genauso wie auch einen Höhepunkt in der Entwicklung seiner Techniken und seiner Methoden hervor.

     Die Formeltechnik in Licht hat bereits wenigstens eine extensive Untersuchung (von Michael Manion) inspiriert[19].  Jenseits von dem, was diese Technik in Mantra und selbst in Inori bestimmt, wird sie zum Dreh- und Angelpunkt eines ganzen mystischen Universums in Licht, dabei Prototypen für Szenerie, Farben, Licht, Choreographie und, natürlich, Musik bilden. Mit der Tripel-Formel für Licht völlig vertraut zu sein, bevor man sich an die Musik, Handlung und Szenerie heranwagt, erfordert eine gewisse Devotion, wie etwa ein Student sich in sein Fachgebiet vertieft, bevor er sich ins Leben hinauswagt. Die Tripel-Formel für Licht ist eine vielfältige und komplexe Schöpfung von Information, ein vereinigendes Prinzip einer kompromißlos komplexen, mystischen Aussage.

     Auf das Betrachten der Details der Formel und ihrer Wichtigkeit für das Prinzip der Symbolik folgt die Aufgabe, die Bedeutung der Rollen - Michael, Luzifer und Eva - zu extrahieren. Dieses kann historisch, mystisch oder symbolisch sein, oder auch nur klassifizierend erfolgen. Es sind nicht nur die Rollen selbst zu betrachten, sondern auch die Beziehungen zwischen ihnen - vielleicht die heilige Dreifaltigkeit im Christentum (und auch im Urantia Book), vielleicht auch die eher philosophische Beziehung zwischen historischen und religiösen Mythos von Michael und Luzifer oder vielleicht sogar ein metaphysisches, kosmologisches Konzept von Klang-, Licht- und/oder dem Universum selbst. Es liegt auch eine autobiographische Bedeutung nahe.

     Im Urantia Book hat das Wort "light" ("Licht") eine metaphysische symbolische Bedeutung, die sich von der in der Naturwissenschaft oder auch in der englischen Sprache gebräuchlichen Bestimmung unterscheidet:

    

"Light - spirit luminosity  - is a word symbol, a figure of speech, which connotes the personality manifestation characteristic of spirit beings of diverse orders.  This luminous emanation is in no respect related either to intellectual insight or to physical-light                      manifestations."[20]

 

     Stockhausen definiert das Wort "Licht" einfach "Gott"[21].  Diese unterschiedlichen Definitionen selbst beleuchten eine tief verwurzelte Symbolik in Licht.  Manchmal liegen die Symbole unter vielen Bedeutungsschichten verborgen und erfordern, so ein beinahe (obwohl nicht) freudianischen Ansatz der Interpretation, um die manifeste Bedeutung zu erschließen oder die latente zu erkennen. Es ist klar, daß Stockhausens Begriff von Theater viele Grenzen wie etwa die psychologischen, die religiösen, die historischen und die mystischen sprengt.

     So wie Licht als eine Höhepunkt der Ideen und der Entwicklung Stockhausens als Komponist gelten kann, so dient es dieser Untersuchung nicht nur zum Überblick darüber, wie Stockhausen die Symbolik in seinen Kompositionen nutzt, sondern auch als ein vorsichtig formulierter Schluß über ein Ganzes, das in seinem Werk so viele Manifestationen der Symbolik wie möglich berührt, das eine Verbindung zum Gebrauch und dem allgemeinen Konzept der Symbolik einiger Zeitgenossen Stockhausens wie Boulez und Olivier Messiaen und vielleicht sogar eine größere, extensivere Verbindung zur Avantgarde und Stockhausens Platz in diesem Jahrhundert herstellt, auch die Mitberücksichtung vergangenener Jahrhunderte. Mit diesen Aufgaben einher geht auch die Aufgabe, einen Zusammenhang mit den linguistischen und philosophischen Aspekten zu untersuchen.

 

 

§ 8 Der moderne Mythos

 

Danach zeigt sich die Karriere Stockhausens nicht nur als eine Kadenz, sondern als elidierende Kadenz. Sie ist eine Naht zwischen zwei musikalischen und künstlerischen Welten. Sie entwickelt einerseits die damals unerforschte Welt des Gesamtseriellismus, um einen eigenen Weg zu beschreiben, und bricht dann andererseits in eine andere, davon verschiedene mystische Welt auf und trägt dabei so viele der Erfindungen und Entdeckungen der gesamtseriellen Welt mit sich wie möglich. Dazu gehören die Symbole, Numerologien und vielleicht nur eine Ahnung davon, wohin diese Methoden führen mögen. Dennoch ist die Naht glatt, nicht stumpf, denn Stockhausen übernimmt viele Ideen aus den frühen Jahren seiner Entwicklung, und dieser Wendepunkt ist durch viele künstlerischen Strömungen und Richtungen dieser Zeit provoziert worden, obwohl viele von Stockhausens Zeitgenossen diese vermieden und später sogar als Kitsch und Trend kritisiert haben. Diesen einen Bereich in Stockhausens musikalischen Konzept, die Symbolik, zu betrachten, gewährt zwar nur einen kleinen Einblick in sein Universum, aber dient auch der doppelten Absicht der Entwirrung einer Persönlichkeitstruktur und wagt eine Analyse nicht nur des musikalischen, sondern auch des geistigen Gehalts.

     

 

 



[1]Karlheinz Stockhausen: A Morphology of Form in the Early Works, 1952-1960, Magisterarbeit der University of Southern California und California Institute of the Arts 1981.

[2]Duden, Band I: Rechtschreibung der deutschen Sprache, Mannheim / Leipzig / Wien / Zürich 1991, S. 75.

[3]Eine Liste der Werke Stockhausens (nach seiner Schriebweise) befindet sich  S. 273 dieser Arbeit.

[4]Siehe die Angaben in: Pierre Boulez,  Musikdenken heute, übers. von Josef Häusler und Pierre Stoll, = Darmstädter Beiträge zur neuen Musik, Band V, Darmstadt 1963, S. 9. Boulez' Quelle ist: Claude Debussy, Monsieur Croche antidilettante, Paris 1921; vgl. auch ders., Musik und Musiker, übers. von Hansjürgen Wille und Barbara Klau, Potsdam 1949, S. 11f.: "Ich versuche, die vielfachen Antriebe, aus denen die Werke entstanden sind, aufzuspüren und das, was sie an innerem Leben enthalten; ist das nicht viel sinnvoller als diese Spielerei, die sie zerlegen möchte, wie man eine Uhr zerlegt?"

[5]Interview IV: Die Musik und das Kind, in: Texte IV, S. 606.

[6]Vgl. Blumröder, S. 109-137.

[7]Siehe die Angaben in: Momentform, in: Texte I, S. 189-210.

[8]Lejaren A. Hiller, Jr., Informationstheorie und Computermusik: Zwei Vorträge, gehalten auf  den "Internationalen Ferienkursen für Neue Musik' Darmstadt 1963 = Darmstädter Beiträge zur Neuen Musik, Mainz 1964, S. 9.

[9]Siehe die Angaben in: Nicholas Ruwet, Méthodes d'analyse en musicologie, in: Revue belge de musicologie, 20. Band, 1966, S. 65-90.

[10]Siehe die Angaben in: Jean-Jacques Nattiez,  Music and Discourse: Toward a Semiology of Music, übers. von Carolyn Abbate, Princeton 1990.

[11]Zur Situation des Metiers, in: Texte I, S. 45.

[12]Stockhausen zerstörte dennoch zwei frühe Klavierstück (6 Studien und Sonate). Siehe die Angaben in: Kurtz, S. 330.

[13]Vgl. Werkverzeichnis in der dieser Arbeit, S. 273.

[14]In einer 1960 gehaltenen Vorlesung über die Entwicklung von Moment-Form an der University of California Los Angeles. Eine Aufnahme davon existiert in der Bibliothek des California Instute of the Arts. Vgl. Kapitel 1, Fußnote 18; und auch Kaptiel 3, Fußnote 25.

[15]Vgl. Mary Bauermeister, in: Texte II, S. 167ff.

[16]Stockhausen beschrieb in einem Gespräch diese Verbindung zwischen Regel 13 und dem 13ten Band mit dem englischen Wort "pun".

[17]In die Partitur für Plus-Minus, S. 6.

[18]Vgl. Hermann Conen, Formel-Komposition: Zu Karlheinz Stockhausens Musik der siebziger Jahre, Mainz 1991.

[19]Vgl. Michael Manion, Introduction to the Super-formula of DONNERSTAG AUS LICHT, in: Ideas and Production: A Journal in the History of Ideas, Heft XI, Cambridge 1989, 73-84.  

[20]The Urantia Book, Chicago 1955, S. 10.

[21]In einem 1993 Gespräch mit mir in Kürten.