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9. "Auf brandheißer Spur unterwegs"

Es war in Benares, ziemlich genau auf halbem Weg zwischen Neu-Delhi und Kalkutta, in der Zeitungsredaktion vom "Benares Enquirer". Lata hatte angerufen.

"Ich bin gerade in Kalkutta, in den Slums. Ein paar Mädchen sind verschwunden, und ich glaube, dass sie für ein Bordell entführt worden sind. Ich will mir das jetzt mal genauer ansehen."
"Hast du jemanden, der dir dabei hilft?"
"Nein", sagte sie. "Außer euch bin ich allein."
"Und du bist dir ganz sicher, dass du dich darauf einlassen willst?"
"Ja", sagte sie. "Und ich will auch herauskriegen, was dort passiert ist."

Was war vor diesem Telefongespräch passiert?
Lata war in Kalkutta unterwegs gewesen, hatte nach einer kleinen Herberge hier in der Stadt gesucht, eine gefunden und ging jetzt grade rein.

"Namaste", begrüßte sie den Mann hinter dem Tisch. "Ich brauche ein Einzelzimmer."
"Wie heißen Sie?" fragte der Vermieter.
"Lata Shastri", antwortete sie wahrheitsgemäß.
"Wie lange brauchen Sie das Zimmer?"
"Für zwei Tage."
Er trug ein paar Sachen in das Gästebuch ein. Lata unterschrieb und bezahlte.

Sie ging auf ihr Zimmer und packte ihre Tasche aus. Dann nahm sie die Sachen, die sie für ihre Arbeit hier brauchte: Einen Notizblock, Stifte, Fotoapparat, Kassettenrecorder mit Mikrofon, und ein paar Disketten. Das war alles, was sie für ihre Reportage brauchte. Dann zog sie sich zuerst einen neuen Sari an und steckte alles ein. So war's am praktischsten.

Eine Viertelstunde später war Lata auf dem Weg durch Kalkutta, Richtung Kalighat. In der Stadt herrschte das übliche Chaos aus ein paar Tausend Autos, Motorrädern, Fahrradkarren, Ochsen und natürlich ein paar Millionen Fußgängern.

"Bitte, hast du ein paar Rupien für einen armen Mann?" sprach sie jemand von unten an.
Lata blieb stehen. Auf der Straße saß ein Bettler in Lumpen. "Ein paar Rupien, die Götter werden es dir danken!"
"Womit kann ich dir helfen? Was brauchst du?" fragte sie.
"Ich habe seit Tagen nichts mehr gegessen", sagte er. "Hilf mir, die Götter werden es dir belohnen!"
Lata schaute ihn an. Irgend etwas kam ihr komisch an ihm vor, aber sie war sich noch nicht ganz sicher.
"Komm mit, wir können zusammen etwas essen gehen", schlug sie vor.
Er schaute sie verwundert an. "Was?"
"Ich habe gesagt: Wir können zusammen etwas essen gehen", sagte Lata nochmal. "Es gibt hier genug Essensstände."
"Nur ein paar Rupien, ich lebe hier auf der Straße", versuchte er seine Masche weiter. Aber er war unsicher, wie er das sagte, und jetzt wusste Lata es. Es ging ihm gar nicht so schlecht, er lebte vom Betteln. Um das Geld ging es ihr dabei nicht, aber sie wollte schon den Richtigen damit helfen. Also gab sie ihm nichts und ging weiter. Dafür gab sie das Geld einem kleinen Mädchen, das ein paar Meter weiter bettelte. Vielleicht war es auch in einer organisierten Bettlergruppe. Aber Lata wusste, dass die Anführer von diesen Gruppen die Kinder prügelten, wenn sie nicht genug Geld vom Betteln mitbrachten. Wenn sie ihm Geld gab, half sie ihm wenigstens ganz sicher. Dann war sie an der Metro-Station, ging runter und stieg ein. Sie fuhr bis zur Endstation und stieg in den Bus um. Er war ewig voll, aber Lata hielt es aus. Nach einer Stunde Fahrt war sie in Kalighat und stieg aus.

Es war schwer zu sagen, ob das hier das schlimmste Slumviertel von Kalkutta war oder ob es noch schlimmere gab, aber es war sicher schlimm genug. Hier kam einfach alles auf einmal auf die Leute herunter: Aids, Lepra und Tuberkulose, Hunger, Arbeitslosigkeit, Armut, die nie aufhörte, und keiner konnte den Menschen da raushelfen. So ein Slumviertel verschwand höchstens dann, wenn die Regierung das Grundstück gewaltsam räumen ließ und an Spekulanten verkaufte, aber die Armen und Kranken verschwanden nie.

Lata ging durch das Viertel, schaute sich um und traf ein bisschen später eine Gruppe Frauen, die dastanden und redeten. Sie hörten sich irgendwie aufgeregt an. Lata ging hin und sprach sie an. "Entschuldigung, ich bin Reporterin und schreibe einen Artikel über Kalighat. Wenn es irgend etwas gibt, worüber ihr reden wollt, könnt ihr es mir jetzt erzählen."

Eine Frau - sie war so um die vierzig und sah ziemlich unglücklich aus - erstarrte. Die anderen hörten auch auf zu reden, gingen schnell auseinander, so als wie wenn sie mit ihr nichts zu tun haben wollten. Lata dachte sich, dass hier etwas nicht in Ordnung war und ging der einen Frau nach, die vorhin so erschrocken gewesen war.

"Wie heißt du?"
"Kamla."
"Was ist dir passiert?"
Kamla war erschrocken. "Nichts, überhaupt nichts!" Aber Lata merkte sofort, dass das nicht stimmte. Irgend etwas war dieser Frau passiert.
"Bitte, sag es mir, vielleicht kann ich dir helfen! Was ist los hier?"
Die Frau wollte zuerst nichts sagen, aber dann brach sie fast in Tränen aus. "Meine Tochter ist verschwunden! Sie war die Schönste hier im Viertel! Sie ist..." Sie konnte nichts mehr sagen, oder sie wollte es nicht.
Lata schaute sie an. "Du glaubst, dass sie entführt worden ist?"
Die Frau schaute auf. "Aber... woher..."
"Ich weiß es einfach." Lata nahm sie in den Arm. "Wein nicht! Ich werde dir helfen."
Kamla beruhigte sich langsam wieder. "Aber... was hast du vor?"
"Ich werde versuchen, die Leute zu finden, die sie entführt haben, und ich werde der ganzen Welt erzählen, was sie getan haben, damit so etwas nicht noch einmal passieren kann", versprach Lata.
"Das willst du wirklich tun? Aber dann werden sie dich töten wollen! Hast du keine Angst vor ihnen?"
"Doch, ich weiß, dass es gefährlich ist", gab Lata zu. Aber eigentlich war sie doch mutiger als sie zugab. Wenigstens hatte sie nicht soviel Angst, dass sie das Ganze einfach gelassen hätte. Vielleicht war es einfach auch nur so, dass Kamla mit ihrer Angst Lata mutiger machte. "Aber ich will tun, was ich kann."
"Warum tust du das alles? Dich müssen die Götter geschickt haben. Kein Mensch hilft uns hier."
Lata war etwas verlegen. "Nein. Ich sehe es einfach, wenn etwas nicht stimmt. Und wenn ich das sehe, will ich den Leuten auch helfen."
Kamla war gerührt, und sie verneigte sich vor Lata. "Mögen dich die Götter beschützen!"
"Danke. Aber ich fürchte, der einzige Gott, der mich auf meinem Weg begleitet, ist Shani", antwortete Lata.
"Shani? Der Gott der Probleme? Aber warum?"
"Wenn ich das wüsste..." Lata ging weiter.

Sie besuchte noch viele andere Familien in dem Slumviertel, und viele davon konnten ihr noch mehr darüber erzählen. Ihre Liste mit den Namen war sehr lang geworden. Zwanzig Kinder waren entführt worden, alles Mädchen, in einer einzigen Woche. Das war noch schlimmer, als sie gedacht hatte. Aber das größte Problem war: Niemand wollte irgend etwas über die Entführer sagen. Die Leute hatten einfach zuviel Angst vor ihnen.

Lata war kurz davor, aufzuhören. Aber dann sagte sie sich, dass sie damit garantiert nichts erreichen konnte, also ging sie weiter zur nächsten Gasse.
Inzwischen war es Mittag, die Luft war feucht-heiß, und die Leute lagen fast wie halbtot in ihren Hütten und waren nicht ansprechbar. Nur eine alte Frau schien noch wach zu sein. Lata ging zu ihr hin.

"Entschuldige, Mataji, ich bin auf der Suche nach einer Bande. - Ich meine die Leute, die hier die Mädchen entführt haben. Wisst Ihr etwas darüber?"
"Diese verfluchten Dämonen, die unseren Kindern das Fleisch von den Knochen fressen!" schimpfte die Alte leise. "Sie kommen hierher, sie rauben unsere Töchter, und keiner hindert sie daran. Aber ich kenne einen von ihnen."
Lata konnte es kaum glauben. "Wirklich? Wer ist es?"
"Er hat früher hier gelebt, und er war ein kleiner armer Niemand wie alle hier. Aber dann ist er zu diesen Männern gegangen, und jetzt lebt er wie ein Maharadscha, diese dreckige Hyäne!"
"Und wie heißt er?"
Die alte Frau wartete noch einen Moment, bis sie es sagte. "Sein Name ist Murali Rabesh!"
Das war die Spur, nach der sie gesucht hatte. Aber jetzt konnte sie damit noch nicht viel anfangen. Sie bedankte sich bei der alten Frau, ging zum nächsten Telefon und rief Shekhar in der Redaktion in Benares an.

"Ja, hallo?"
"Hier spricht Ada. Könnte ich bitte mit Charles sprechen?" meldete sie sich im Geheimcode.
Shekhar verstand. "Am Apparat."
"Ich habe eine heiße Spur und brauche jetzt deine Hilfe", erklärte Lata schnell.
"Okay, was ist passiert?"
Und dann kam das Telefongespräch von vorhin.

"Ich bin gerade in Kalkutta, in den Slums. Ein paar Mädchen sind verschwunden, und ich glaube, dass sie für ein Bordell entführt worden sind. Ich will mir das jetzt mal genauer ansehen."
"Hast du jemanden, der dir dabei hilft?"
"Nein", sagte sie. "Außer euch bin ich allein."
"Und du bist dir ganz sicher?"
"Ja", sagte sie. "Und ich will herauskriegen, was dort passiert ist."
"Kannst du uns mehr darüber verraten?"
"Mehr kann ich dir jetzt leider nicht sagen. Aber könntest du vielleicht im Internet recherchieren?" sagte sie möglichst leise dazu.
"Kein Problem."

Shekhar rollte mit seinem Stuhl vor Computer Nr. 2, nahm die Maus und ging ins Internet, auf seine Seite mit den praktischen Suchmaschinen. Dann dachte er nach, wo er überhaupt anfangen sollte. Wenn er einfach nur nach "Sex" suchte, bekam er drei Milliarden Seiten angezeigt, und das half ihm überhaupt nicht weiter.

"Du hast gesagt, es ist hier in Indien passiert?"
"Ja, in Kalkutta."
Shekhar probierte beides aus, erst "India", dann "Kalkutta", jedesmal kombiniert mit "Sex". Für Indien bekam er immerhin noch 12 Ergebnisse, die er schnell abspeicherte, für Kalkutta gar keine.
"Ich kann dir jetzt so schnell nichts sagen. Soll ich die Ergebnisse für nachher speichern? Ich kann dir ja später 'ne E-Mail schicken, wenn ich was rausgefunden habe."
"Okay." Und Lata hängte wieder ein.

Shekhar legte auf, setzte sich wieder vor den Internet-Computer und schaute sich an, was er bis jetzt alles hatte. Die Homepages halfen ihm dabei leider alle nicht weiter, also ging er zu den Newsgroups über. Vielleicht hatte er Glück und irgendeiner von den Entführern hatte eine Meldung an eine Gruppe geschickt. Diesmal probierte er's mit den kombinierten Stichwörtern "Sex" + "young girls". Er bekam mehr als hunderttausend Ergebnisse, und das schockierte ihn doch etwas. Das Schlimmste war, dass er so nie die richtige Spur finden konnte.

Also fing er ganz von vorne an. Er tippte den Namen von der bekanntesten Newsgroup für Nacktfotos von Minderjährigen ein, alt.binaries.pics.erotica.pre-teen, hatte die Mitteilungen der Teilnehmer vor sich und fing an, sie durchzulesen.

"So you like looking at the young girls eh? You like seeing their young tight tenderloin pussies, eh? Ok, here's how: ..."
Er las lieber nicht weiter, sondern ging zur nächsten Nachricht.
Nach den ersten zehn oder zwanzig Mails hörte er auf, weil hier zwar massenweise Notgeile, aber keine Kinderschänder und vor allem keine Entführer dabei waren, jedenfalls keine aus Kalkutta. Aber das war kein Grund zum Aufgeben, er konnte es immer noch mit den Botschaften an andere Gruppen und den E-Mail-Adressen probieren. Vielleicht fand er so was raus.

Also nahm sich er die erste Mail vor. Sie kam von einem Typ, der sich J. Rev. nannte, und oben drüber stand, dass sie auch an die early-teen-Group gegangen war. Shekhar schrieb sich die Adresse auf. Dann ging er auch noch die anderen Mails durch und versuchte, aus dem Text rauszufinden, ob die Nachricht jetzt von einem "harmlosen" Notgeilen war oder von einem, der wirklich tief drinsteckte. Ihm war klar, dass sie nichts so einfach verraten würden, aber er konnte es daran merken, wie sie in der Nachricht redeten.

Also suchte er. Dabei fand er auch noch einige neue Groups mit "Sex" und "pics" im Namen, die er noch nicht kannte. Und eine ganze Latte von Homepages, auf denen es angeblich alles geben sollte, was sich ein notgeiler Perverser nur wünschen konnte. Aber ihn interessierten nur die Adressen. Ein paar hörten sich interessant an, und er schrieb die Adressen auf. Die meisten waren unwichtig, und eine davon regte ihn richtig auf, weil sie so blöd geschrieben war, ungefähr wie "Hallo Leute, hier findet ihr viele heiße Pictures! Schaut mal vorbei! Frauen können hier auch Bilder einschicken!" Ein totaler Anfänger. Shekhar schickte ihm gleich eine böse Antwort, damit er endlich lernte, wie man sich im Internet zu verhalten hat.

Dann ging er weiter zu Dejanews, wo die ganzen Nachrichten gesammelt wurden. Er tippte nacheinander die Adressen ein und fragte das Programm nach weiteren Nachrichten, die von diesen Leuten abgeschickt worden waren. Bei der Gelegenheit schaute er nach den Adressen, um zu sehen, ob ein paar von den Nachrichten von indischen Computern abgeschickt worden waren, und nach Internet-Seiten, die er später absuchen konnte.

Es dauerte doch ziemlich lange, und hinterher taten ihm die Augen weh.
"328 Seiten! Hmmm..."
Shekhar druckte die Liste schnell aus und startete ein neues Programm. Er bekam eine andere Liste auf den Bildschirm, auch eine Liste mit Porno-Seiten im Internet, die er selber zusammengesucht hatte. Dann ging er die Listen durch und strich alle Seiten, die er schon kannte.

Inzwischen war Lata wieder unterwegs und suchte in der echten Welt nach Hinweisen. Zuerst wollte sie bei der nächsten Polizeistelle fragen.
Sie ging rein, wartete, bis einer für sie Zeit hatte, und versuchte ihr Glück.
"Ich habe gehört, dass hier in diesem Viertel ein entsetzliches Verbrechen passiert ist", fing sie an.
"Was meinen Sie damit?" Entweder wusste er nichts davon, oder er sagte absichtlich nichts.
"In dem Viertel hier sind zwanzig Mädchen entführt worden", sagte sie ganz direkt. "Haben Sie darüber etwas gehört?"
"Niemals! Wenn hier so etwas passiert, würden wir darüber schon Bescheid wissen", antwortete er. Das war gelogen. Lata hatte schon vorher gewusst, dass das nicht stimmte, aber spätestens jetzt hätte sie's erraten können.
"Ich verstehe. Entschuldigen Sie, dass ich Sie gestört habe", sagte sie und stand auf. "Das war alles, was ich wissen wollte."
Sie ging raus, und der Beamte wunderte sich darüber, wie schnell es gegangen war. Eigentlich hatte er gedacht, dass sie noch viel länger dageblieben wäre und ihn groß ausgefragt hätte.
Aber Lata wusste schon, dass sie etwas anderes versuchen musste. Sie hatte nichts weiter herausgefunden, aber sie wollte noch nicht aufgeben.

Inzwischen war Shekhar in der Redaktion immer noch am Suchen. Bei der Recherche in den Newsgroups hatte er viele Internet-Adressen bekommen, aber es waren einfach zu viele, um sie allein zu durchsuchen. Er brauchte so etwas wie Verstärkung.

Er speicherte die Datei mit den Ergebnissen und tippte eine neue Adresse ein.
Die neue Seite kam, und das Programm fragte: "Wie ist dein Name?" Er tippte "Ladykiller" ein. Dann kam noch die Passwort-Abfrage, und er war drinnen.

Es war so ein Chat-Raum im Internet, von dem niemand wusste, auch die Behörden nicht, außer ein paar wenigen Hackern, die sich hier trafen und sich unterhielten. Ein echter Elite-Club. Wenn man die Adresse und das Passwort hatte, konnte man rein, aber sonst nicht.

Es war nichts dabei zu hören. Man konnte nur die Schrift sehen, gold auf schwarzem Hintergrund, die Zeile für Zeile wie aus dem Nichts auftauchte und bald wieder verschwand, ohne eine Spur zu hinterlassen.
"Ladykiller hat den Raum betreten", sagte das Programm. Shekhar begrüßte die anderen Hacker, die jetzt über die ganze Welt verteilt an ihren Rechnern saßen.
"Hi Ladykiller, hast du schon Pams neue Fotos gesehen?" fragte einer. "Ich hab heute den Code geknackt. Das gibt wieder hundert Punkte!"
"Erstens: Ich schau sie mir später an. Zweitens: Glückwunsch. Drittens: Ist CC schon da?" CC war der größte Experte für "hot pictures". Vielleicht wusste er was über die Seiten.
"Nein, noch nicht", antwortete jemand.
"Komisch, das sollte ihn doch interessieren", schrieb Shekhar. "Und außerdem hätte ich noch was für ihn, was ziemlich Wichtiges."
Keiner wusste etwas. Shekhar wartete, überlegte und langweilte sich.
Aber dann kam endlich die Meldung: "CC hat den Raum betreten". Er war also doch gekommen.
"Hi Ladykiller! Hab grade gelesen, du suchst nach mir?"
Shekhar wurde wieder locker. Dann tippte er schnell seine Nachricht ein.
"Ich suche nach einer Gruppe Menschenhändler. Ich glaube, dass sie auf einer von diesen Seiten sind. Kannst du mir helfen? Sag mir einfach, ob du welche davon kennst."
"Okay. Zeig mal", kam die Antwort von CC.

Er schickte ihm die Liste durch. Dann wartete er ein paar Minuten, während die anderen weiterquatschten, dann kam die Antwort. CC hatte über hundert von den Adressen identifiziert, und es war nicht die gesuchte darunter. Blieben noch 39. Aber das ließ sich immerhin in einer brauchbaren Zeit lösen. Shekhar verabschiedete sich und machte sich wieder an die Suche.

Sieben von den Seiten waren ausnahmsweise kostenlos, und hier fand er auch nicht, was er gesucht hatte. Ein Typ hatte auf seine Homepage ein paar sadistische Fotos gestellt, ausgerechnet bei einem Anbieter, der solche Seiten verboten hatte. Shekhar schickte dem Anbieter eine Nachricht und forderte ihn auf, die Seite zu löschen. Dann kopierte er sich noch schnell die besten Fotos als Andenken herunter und lachte sich eins.

Jetzt ging er zu den Seiten über, die Geld kosteten. Es lief hier wie üblich, überall hieß es "überweisen Sie uns Ihre Kontonummer, wir schicken Ihnen dann Ihr Passwort, damit Sie diese Seite anschauen können". Natürlich hatte Shekhar kein Geld dafür übrig, aber das brauchte er auch nicht.

Er machte sein Geheimfach auf und holte eine selbstgemachte CD heraus. Dann startete er das Programm und lehnte sich zurück, während der Computer die Passwörter durchprobierte.

Es dauerte nicht lang, und die neue Seite erschien auf dem Bildschirm. Zufällig war es auch die richtige, aber das wusste er noch nicht.

Shekhar wartete, bis die Seite übertragen war. Es dauerte lange, weil die Seite mindestens hundert Verbindungen hatte, und fünfzig Bilder. Allein auf der Eingangsseite. Das war schon hart. Shekhar kannte genug Porno-Seiten im Internet, aber die hier war wirklich schlimm. Die einzelnen Fotos waren vielleicht nicht so schrecklich wie die von manchen Firmen, die sogar Babys missbrauchten, aber die Masse war erschreckend.

Shekhar klickte weiter. Jetzt war er auf der Bestellseite. Das Angebot war riesig. Er las sich die Preisliste durch. Das Billigste, was es gab, waren fünf Nacktfotos für ein paar Rupien, das Teuerste ein "Spezialangebot" für... mehrere tausend Dollar.

Shekhar war so überrascht, dass er fast vom Stuhl fiel. Das konnten keine Fotos sein. Soviel Geld konnte man nicht mal für einen besonders versauten Porno mit Pamela verlangen. Hier musste es um was anderes gehen. Um lebende Menschen. Jetzt wusste er, dass das die Leute waren, die Lata suchte. Oder ihre Geschäftspartner.

Er schaute sich den HTML-Quelltext, den Hypertext-Programmcode, an. Irgendwo auf der Seite war ein winzigkleiner Link in ein Bild eingebaut. Man konnte ihn eigentlich gar nicht finden, außer, wenn man wusste, wo er war, oder wenn man sich einfach den Code von der Seite anschaute. Shekhar grinste. Der älteste Trick vom Internet.

Er ging auf die "geheime" Seite, knackte mit seinem Programm die Passwortabfrage, und sah sich schnell alles an. Die Seite war sicher interessant, aber er kopierte sich nur schnell die E-Mail-Adresse. Das war der entscheidende Hinweis, den er brauchte.

Er schaute schnell auf die letzten Buchstaben von der Adresse. ".in". Eine indische Mail-Adresse. Lata hatte also Recht gehabt. Jetzt musste er nur noch herausfinden, wem sie gehörte.

Er ging zurück zur Homepage von der Zeitung und klickte sich auf eine neue Seite. Hier hatte er alle Internet-Adressen von indischen Servern gesammelt. Einer von denen musste dem Betreiber von den Seiten Speicherplatz für die Internet-Seiten gegeben haben. So konnte er sie finden.

Er stellte eine Telnet-Verbindung her, um mit dem anderen Computer arbeiten zu können, hackte sich in das geheime Hauptverzeichnis durch und suchte nach der Adresse von dem Kunden. Ein paar Sekunden später war die Antwort schon da. Shekhar rieb sich wieder mal die Hände und grinste. Dann machte er nur noch einen Klick mit der Maus, und auf dem Monitor erschien der Text: "Raja Ram Mohan, Nr. 76, Kalkutta".
Jetzt hatte er sie.

Lata lag auf ihrem Bett in dem kleinen Hotel, als ihr Handy klingelte.
"Hallo?"
"Ich bin's, Charles", meldete er sich. "Ich habe was rausgefunden. Schau unter deinen E-Mails nach." Er legte auf.

Lata ging zum Internet-Café, zahlte für die Benutzung und schaute nach, was Shekhar ihr geschickt hatte. Vor fünf Minuten war die Mail angekommen. Der ganze Text war: "Raja Ram Mohan, Nr. 76, Kalkutta". Das war die Adresse, die sie brauchte. Sie schrieb sich schnell alles auf und löschte die Nachricht wieder. Dann war sie auch schon wieder fertig.

Danach ging Lata zu der Adresse. Es war ein Hochhaus, und anscheinend hatten hier ein paar Firmen ihre Büros. Das stand jedenfalls auf den Schildern an der Tür. Hier war es also.

Lata wollte reingehen, aber das würde nicht so einfach werden: Vor der Tür standen Wachmänner. Grade ging einer von ihnen mit seinem Schlagstock auf ein paar Kinder los, die hier betteln wollten.

Lata ging zum nächsten Restaurant und kaufte eine paar Curry-Gerichte zum Mitnehmen. Dann ging sie zurück zum Haupteingang.

"Ich habe hier eine Essenslieferung", sagte sie leise. Sie war sich nicht sicher, ob sie damit durchkam. Leute anzulügen, damit hatte sie Schwierigkeiten. Sogar wenn es so drauf ankam wie hier.
Diesmal klappte es. Der Wachmann sagte gar nix und ließ sie rein.

Lata ging durch die Gänge, schaute sich um und merkte sich schonmal, wie das Gebäude von innen aussah.
Eine von den Türen, wo sie vorbei kam, ging auf, jemand kam heraus, und Lata konnte hören, wie er was von "Kalighat" redete. Vielleicht nur ein Zufall, aber sie wollte es wissen.
"Entschuldigung, macht diese Firma auch Geschäfte in Kalighat?" fragte sie einfach.
"Davon weiß ich nichts", versuchte er sich rauszureden.
"Gibt es hier jemanden, der Murali Rabesh heißt?", fragte sie.
"Von dem habe ich noch nie gehört", antwortete er. Aber als sie den Namen gesagt hatte, war er leicht zusammengezuckt. Es war fast zu einfach.
"Das stimmt nicht", sagte Lata kurz und fest.
Sie hatte ausnahmsweise Glück: Er war nervös, er hatte ein schlechtes Gewissen, und so traf sie ihn mit ihrer Frage am härtesten.
"Nein... ich weiß wirklich nicht, wo er ist!" Er versuchte noch, sich rauszureden. Aber bei Lata war das zwecklos.
"Wo ist er?"
"Ich weiß es nicht! Verschwinde! Wachen!"

Lata war intelligent genug, dass sie sich nicht mit einem Haufen Wachen anlegte, also ließ sie ihn in Ruhe und rannte zum nächsten Fenster. Dann kletterte sie schnell raus und die Dachrinne runter auf die Straße. Jetzt merkten sie es natürlich, aber da war Lata schon in der Menge verschwunden, und sie war absolut unauffällig mittendrin, eine von mehreren Millionen Frauen in Sari und Sandalen. Kein Mensch sah ihr an, wohinter sie her war. Und wenn irgendwer davon gewusst hätte, hätte er sie in dem Chaos nie finden können.

Dann ging Lata zurück zu ihrer Herberge und ruhte sich erstmal aus. Sie hatte heute schon viel getan, aber jetzt war nicht die Zeit, um früh schlafen zu gehen. Immerhin ging es hier um das Leben von ein paar Mädchen.

Aber für diese Aktion, die sie vorhatte, brauchte sie vor allem erstmal andere Kleidung. Sie zog den Sari aus und neue Sachen an: Jeans, Turnschuhe und ein schwarzes T-Shirt. Und eine Umhängebeutel mit ein paar besonderen Werkzeugen. Den Fotoapparat steckte sie auch ein und nahm noch ein paar Blitzlichter extra mit. Dann wartete sie noch, bis es draußen richtig dunkel war, und dann machte sie sich nochmal auf den Weg zu der Straße.

Um zehn Uhr abends stand Lata dann vor dem Hochhaus. Hinter ein paar Fenstern brannte noch Licht, sonst war alles dunkel.
Sie ging zum Seiteneingang und forschte etwas in der Gegend herum. Dann hatte sie den idealen unauffälligen Platz gefunden.
Lata holte das Seil und die Kletterhaken heraus und fing an, die Fassade raufzuklettern.

Sie kam ganz gut voran, aber leider gab es auf dieser Seite keine guten Gelegenheiten zum Einsteigen. Also blieb ihr nix übrig, als die ganzen zehn Stockwerke bis zum Dach hochklettern. Hier musste es einen Weg geben.
Sie schaute sich um und fand ziemlich schnell den Zugang zum Luftschacht. Dann öffnete sie ihn vorsichtig, um keinen Krach zu machen, und stieg ein.

Der Schacht war eng, ein normaler Mann hätte hier nicht durchgepasst. Sogar Lata schaffte es nur knapp. Sie quetschte sich durch, immer weiter nach unten, bis ein Gang waagerecht abknickte. Sie kroch ihn weiter entlang, bis sie zu einem Lüftungsgitter kam. Darunter lag ein Gang. Er schien leer zu sein.

Lata rüttelte an dem Gitter. Sie war nicht sehr stark, aber zum Glück war das Gitter auch nicht sehr fest eingesetzt. Sie legte es leise zur Seite, hielt sich fest und ließ sich von oben in den Gang runter hängen, um zu schauen, ob auch wirklich niemand da war.

Auf der einen Seite endete der Gang nach zehn Metern, auf der anderen war fünf Meter weiter ein neuer Quergang. Lata merkte nichts, und wollte schon runter springen, aber dann hörte sie im letzten Moment wen reden. Sie zog sich wieder rauf und war so still, wie es irgendwie ging.

Die Wachmänner kamen näher, hatten noch nichts gemerkt. Jetzt kamen sie an dem Gang vorbei, wo Lata war. Wenn sie merkten, dass das Gitter weg war, hatte sie schon so gut wie verloren.

Aber die Zwei schauten gar nicht erst hin. Lata hörte, wie sie weiter gingen, und atmete erstmal wieder auf. Dann wartete sie so lange, bis sie nichts mehr hören konnte. Danach schaute sie extra nochmal in den Gang runter, sah keinen, hielt sich am Rand von dem Gitter fest, ließ sich runtergleiten, sprang dann, und landete leise. Soweit war alles okay.

Dann ging sie auf den anderen Gang raus. Die Wachmänner standen jetzt ungefähr zwanzig Meter weiter weg. Lata blieb ganz leise, schlich in den Gang und lief weiter.

Vielleicht hatte er doch was gehört, jedenfalls drehte sich der eine Wachmann noch um und sah sie, aber das half wenig, er war zu spät dran, und Hilfe konnte er jetzt nicht mehr holen. Er rannte hinter ihr her, aber Lata lief um ein paar Ecken, kletterte schnell eine niedrige Wand hoch und war in Sicherheit. Der Wachmann hatte sie verloren.

Lata wartete, bis er wieder weit genug weg gegangen war, dann ging sie weiter. Das Wichtigste hatte sie noch nicht gefunden. Sie musste in die Chefetage, und dort weiter suchen.

Sie ging vorsichtig eine Treppe runter und fand dann auch das Zimmer. Und jetzt kam der schwierigste Teil.
Lata machte ihren Beutel auf und holte ein paar Nachschlüssel raus. Sie war immer absolut ehrlich, aber das hier war was anderes. Es dauerte nur ein paar Minuten. Dann war die Tür auf, und sie ging rein.

Außer einem Schreibtisch und einem Schrank gab's nicht viel in dem Raum. Lata überlegte kurz und ging dann zum Schrank. So vorsichtig wie's ging, machte sie eine Schublade auf. Drinnen waren eine Menge Fotos in Plastikhüllen.

Lata machte ihre kleine Taschenlampe an und sah sich das Foto näher an. Darauf waren zwei Mädchen zu sehen, zwischen 15 und 20 alt. Sie war geschockt, aber sie wusste jetzt auch endgültig, dass sie Recht gehabt hatte. Lata blätterte weiter und fand noch mehr solche Fotos. Der ganze Schrank war voll davon. An den Fotos klebten Zettel mit irgendwelchen Notizen drauf.

Das war eindeutig ein Beweis dafür, dass ihr irgend etwas nicht in Ordnung war, aber sie konnte noch nicht genau beweisen, was. Also machte sie nur schnell ein paar Bilder, dann ging sie rüber zum Schreibtisch und suchte da weiter.

Auf dem Schreibtisch war außer einem Telefon und ein paar harmlosen Stiften und Papierblättern nur eine kleine Karte, vielleicht eine Visitenkarte oder so. Lata steckte sie schnell ein und suchte weiter. Sie brach die Schubladen auf und schaute schnell, was alles drin war. Und dann fand sie ein Dokument, das nach Vertrag aussah, und las es schnell durch. Es ging dabei um einen Schiffstransport, mit dem hundert Menschen nach Bangkok gebracht werden sollten.

Es passte alles zusammen. Die Frauen und Mädchen waren entführt worden, und jetzt sollten sie nach Bangkok verkauft werden. Jetzt hatte sie den Beweis, nach dem sie gesucht hatte.
Sie riss richtig den Telefonhörer runter und rief Shekhar an. Es dauerte nur fünf Sekunden, bis er ranging, aber Lata war jetzt nervös wie sonstwas. Immerhin waren Leute hinter ihr her.

"Hallo?"
"Ich bins!" Lata wollte keine Zeit verlieren. "Ich hab die Infos, es ist alles, so wie ich gedacht hatte, aber sie sind hinter mir her!"
"Okay, kein Problem! Schick sie mir, und ich erledige den Rest!"

Shekhar blieb cool. Er wusste schon Bescheid: Wenn eine so heiße Nachricht erstmal im Internet war, konnte sie niemand mehr rausholen. Es reichte schon, wenn er ein paar Mails an die richtigen Newsgroups schickte, und morgen hatten sich ein paar hundert oder tausend Leute die Informationen geholt und verteilten sie auf ihren Homepages weiter. Dann konnte ihr Gegner nichts mehr machen.

Er bereitete schonmal alles vor: Auf einem Computer machte er alles für Latas Mail bereit, auf dem zweiten rief er die Newsgroups auf, an die er die Infos weiterleiten wollte, und dann machte er noch einen an, um die Information auch auf eine Homepage stellen zu können, wo sie die anderen abholen konnten. Jetzt fehlte nur noch Latas Information.

Dann packte Lata den Apparat wieder ein, lauschte, ob jemand kam, und ging wieder raus. Sie war noch leicht schwindlig, nicht nur von dem Schock vorhin, es war einfach wegen der Aufregung überhaupt. Jetzt kam erst noch der Rückweg. Aber wenigstens hatte sie schonmal ein paar gute Beweise.

Lata schlich durch die Gänge. Sie musste zu einem von den Luftschächten und von da zurück aufs Dach, dann zum nächsten Platz, wo's Internet gab, und dann musste sie die Informationen übers Internet an Shekhar schicken, sonst war alles verloren. Als sie an einem Fenster vorbeikam, schaute sie runter. Drei Stockwerke unter ihr brannte Licht, und es waren Leute mit Taschenlampen unterwegs. Sie musste sich beeilen.

Lata rannte durch die Gänge, aber es war schon zu spät. Sie konnte hören, wie überall im Haus Leute rannten, die alle nach ihr suchten. Jetzt war sie in der Falle. Aber bevor sie aufgab, schaute sie sich noch schnell um. Wahrscheinlich hätte das nicht jeder gesehen, aber Lata bemerkte den kleinen Seitengang, der noch ganz dunkel war. Dort konnte sie hinlaufen, und wenn sie Glück hatte, konnte sie sich so lange verstecken, bis die Wachmänner ein Stockwerk höher waren. Dann konnte sie die Bilder und die anderen Sachen in einen Umschlag tun, sie verstecken, und alles war in Ordnung. Vielleicht wurde sie am Ende dabei geschnappt, aber ihr reichte es schon, wenn sie die Beweise später abholen konnte.

Sie lief in den kleinen Gang und versteckte sich unter einem Tisch. Die Wachmänner kamen näher, aber sie konnten sie nicht sehen. Grade wollte sie sich entspannen, als das Licht anging. Drei Männer standen im Gang, nur zehn Meter von ihr entfernt. Zwei waren Leibwächter, gut ausgebildete und bewaffnete Sikhs, und sicher nicht ganz ungefährlich. Aber was Lata viel mehr erschreckte, war der dritte. Es war Atal, ihr Onkel, und er hatte sie gesehen. Jetzt war es vorbei.

"Atal! Ich hätte nie gedacht, dass du dahintersteckst!"
Er ging wütend auf sie zu. "Lata! Ich habe dir schon einmal gesagt, dass du dich nicht in meine Angelegenheiten mischen sollst!"
"Ich werde mich immer deine Angelegenheiten einmischen, und du wirst mich nicht davon abhalten können!" Sie hatte praktisch schon verloren und musste es einfach rausschreien. Etwas anderes konnte sie auch nicht mehr tun. Es war leider so, er hatte gewonnen.
"Halt dich da raus! Das geht dich nichts an, was ich mache!"
"Doch, es geht mich etwas an, wenn du Kinder entführen lässt!"
Lata hielt es nicht mehr aus, und sie wollte gehen, aber er ließ sie nicht.
"Halt, nicht so schnell!" Er packte sie beim Handgelenk, nahm ihr die Kamera aus der Hand und gab sie seinem Leibwächter. Dann nahm er Lata auch die anderen Sachen ab, die sie mitgenommen hatte, und nickte dem Sikh kurz zu. Der Mann riss den Film heraus, warf ihn in den nächsten Aschenbecher und zündete ihn an. Es knallte kurz, und die Beweise waren zerstört.

"Jetzt geh!" befahl Atal. "Und komm nicht wieder hierher, sonst passiert mit dir das Gleiche wie mit deiner Kusine!"
Das war in etwa das Schlimmste, was er ihr sagen konnte, und das wusste er auch. Jetzt, wo er das sagte, erinnerte sich Lata wieder daran, was sie damals in seinem Haus miterlebt hatte, wie sie zu Besuch gewesen war. Die Nacht in dem Keller, als er ihre Kusine in einem bestialischen Ritual abgeschlachtet hatte. Seitdem konnte sie kein Blut mehr sehen, weil sie dabei immer daran denken musste. Sie war damals noch nicht mal zehn gewesen, und seit dem Tag wollte sie nur noch eins: Den Armen und Unterdrückten auf dieser Welt helfen und sie gegen Leute wie ihren Onkel verteidigen.

Ihr Onkel sah, dass sie immer noch dastand und nicht gehen wollte. Er gab seinem Leibwächter wieder ein Zeichen, und der schob sie zum Ausgang und raus auf die Straße. Die Tür fiel hinter ihr zu, und sie stand da.

Sie ging zum nächsten Telefon und rief Shekhar an.
"Hallo, ich bin's. Ich habe es nicht geschafft."

Mehr war nicht nötig. Und mehr konnte sie auch nicht mehr sagen. Sie war mutig gewesen, hatte alles gegeben und hatte auch irgendwie durchgehalten, aber jetzt musste sie einfach weinen. Wegen ihrer Niederlage, und vor allem wegen den Kindern, für die sie nichts tun konnte.

"Was willst du jetzt machen?" fragte Shekhar.
"Ich weiß es nicht", antwortete Lata verzweifelt. Und sie wusste wirklich nicht weiter. Shekhar legte den Hörer auf und ging traurig nach Hause. Aber Lata war in Kalkutta noch schlimmer dran. Sie hatte alles versucht, um den Leuten zu helfen, um ihnen ihre Kinder zurück zu bringen, sie hatte alles riskiert, sie hatte mit Shekhar auch alles vorbereitet, und sie hatte eigentlich auch schon alles in der Hand gehabt. Und jetzt war sie da, und fast alles war umsonst gewesen.

Aber nur fast alles. Ihr fiel ein, was sie schon fast vergessen hatte: Sie hatte ja immer noch die eine Visitenkarte, die sie auf dem Schreibtisch gefunden hatte. Sie hatte sie sich noch nicht mal genauer angeschaut. Vielleicht konnte sie damit noch etwas anfangen. Aber sie wollte jetzt nichts mehr riskieren und rannte weg, bis sie sicher war, dass keiner mehr hinter ihr her war. Dann ging sie weiter zu der kleinen Herberge, auf ihr Zimmer, und verschnaufte erstmal. Und dann holte Lata den Zettel aus ihrer Tasche und schaute nochmal, was darauf stand.

"Hôtel Résidence de Maxim's, Nizza, Rue de Bonne Nouvelle Nr. 2-14, Nizza, Côte d'Azur, Frankreich." Das war jetzt der einzige Hinweis, der ihr geblieben war.

Fortsetzung folgt - demnächst in Story Nr. 14 - "Wahrheit und Lügen"!
 

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