Alex Maier
Akte X - Ein unheimlicher Gegenstand beherrscht die Welt/Uhura 2


Uhura Message 2

1998


Passenderweise müßte es nieseln, wenn eines dieser armseligen, grauen Männlein vom Bahnhof her in die Stadt eintritt. Der verlorene, glasige Blick, der einmal, als ihm der schwere Gang aufgetragen wurde, ein ernsthafter war, die Einsicht ins Ungewisse des dennoch Unausweichlichen, der Magen in jener mißbilligenden Laune, die der Einsicht folgt, daß es vielleicht doch besser gewesen wäre, mit dem Frühstück bis nachher zu warten. Die Säure in den Mundwinkeln, die sich während der Anreise unbemerkt nach unten verzogen hatten.
Und allem voran jenes Ding, das an allem schuld ist. Jener viereckige, schmale, trägerlose Inbegriff all dessen, was dieses namenlose Volk der Entrechteten in die Stadt treibt, während sie eigentlich etwas zu tun hätten: die dünne Aktentasche, heraldisches Zeichen der Amtsgänger. Erdäpfelbauern, Frühstückspensionswirte, Skischuhhändler, Taxichauffeure, Pergelsäulengießer, KFZ-Elektriker, Panzenbinder, deren Finger vom Werken, Familienernähren und Geldzählen so klobig geworden sind, daß es unter ihrer Würde wäre, dieses Nichts zwischen ihnen zu halten. Es enthält auch nichts. Nichts, das es würdig wäre gehalten zu werden. Nichts als Formulare, Vorlagen, Autorisierungsscheine - Zettel, die die Wirtschaft aufhalten.
Früher, als die Welt noch ihrem eigenen Gang überlassen wurde, gab es für solche Notwendigkeiten die "Besorger", meistens Rentner, charakterstarke Personen, die gegen den Fluch des Leders gefeit waren und für das ganze Dorf und eine Halbe Roten die Amtsgänge in der Stadt erledigt haben. Die Besorger sind ausgestorben. Nun müssen sich ihre Auftraggeber, einst stolze Herren ihres Schicksals, selber der Gefahr aussetzen.
Zerquetschen würden sie sie am liebsten. Damit sie ihrem Drang nicht nachgeben, haben sie sich jene dünnen Taschen besorgt. Der zurückgehaltene Drang drückt natürlich noch fester auf die Mundwinkel. Die Tasche wurde recht unbürokratisch beim Lederwarenhändler im Nachbardorf erworben. Man fragt einfach nach einer Mappe, "wissen Sie, eine, wo das AF22-B Platz hat".

Der Händler ist zwar ein Gleichgesinnter, aber auch ein armer Teufel, weil er dieses Ding verkaufen muß, um leben zu können. Irgendwie hat man den Verdacht, er weiß um den schlechten Einfluß, die negative Energie, die diese Taschen ausstrahlen. Wasseradern sind gar nichts dagegen. Dabei ist sie zu diesem Zeitpunkt nur viereckiges Leder mit Reißverschluß und nichts drin. Aber wer ins Leere greift, den ergreift bereits das Gefühl von abgrundtiefer Machtlosigkeit. Die Tränensäcke schwellen an, ohne sich je ergießen zu dürfen, die Mundwinkel sinken. Die Vorschrift will sie schwarz oder braun und auf jeden Fall unauffällig. Es ist dasselbe Gesetz, das Rentner dazu zwingt, in Beige herumzulaufen.
Die meisten halten sie an einer Ecke, so daß es sie nach vorne neigt. Weil einem das dünne Etwas ja leicht entgleiten könnte, klemmen die klobigen Finger, die eigentlich fürs Arbeiten gebaut sind, es fest. Dadurch wird der Arm leicht nach vorne gehalten, als führten sie einen unsympathischen Hund an der Leine, einen, den man im Herzen schon "Amtsdirektor" getauft hat. Sie schieben die Tasche also vor sich her und wissen gleichzeitig, daß sie es ist, die sie zieht. Der Grund ihres Hierseins. Und der Lage ihrer Mundwinkel.
Wenn sie so ein Amt betreten, geht ihnen die Mappe voraus. Der Beamte sieht zuerst die Tasche und denkt sich: Oh, da kommt wieder einer mit diesen Mundwinkeln und mit dem verlorenen Blick! Und wappnet sich. Mit Blick und Mundwinkeln. Der Kreis schließt sich somit. Nie wird eines dieser säuerlichen Männlein auf etwas anderes als auf einen säuerlichen Beamten treffen. Wie man in ein Amt hineinstiert, so stiert es heraus.
Die Aktentasche hält die Welt zusammen und so, wie sie ist. Züge fahren deswegen, Tiefgaragen werden errichtet, und bevor man den diesjährigen Plan für den Bau neuer Ämter erstellt, erkundigt sich diskret ein Beamter der Abteilung "Annahme/Rückverweisung" bei der Lederindustrie, wieviele Taschen gerade gefertigt werden, "wissen Sie, solche, wo das AF22-B Platz hat". Die viereckige Tasche ist insofern Modell und Grundlage jeder weiteren Kubatur.
In der Tasche selber hat eigentlich nicht viel Platz. Aber man muß bedenken, daß schon ein kleineres Blatt - von solchen Kalibern wie dem AF22-B gar nicht zu reden - im Schnitt 3,7 Amtsgänge nach sich zieht, wie die Tasche ihren Träger. In ihrer amtlich getragenen Notwendigkeit ist sie unnachgiebig. Ist ihr Inhalt erst zur Hälfte benutzt worden, zieht sie ihren Inhaber noch bis zum Spätnachmittag dahin. Leer wird sie nie. Meistens kommt noch weiterer Inhalt dazu, der dann daheim sorgfältig aufbewahrt werden muß, bis die Tasche wieder in die Stadt muß. Ja, muß!
Und so schwebt ein Heer von Männlein, erbärmlichen grauen Gestalten durch die Stadt, den Blick nirgendwohin, aber immer nach vorne gerichtet, ab und zu streift er doch eine Auslage oder eine Bar, wissend, daß die Tasche einen nicht läßt, weil sie den ganzen Tag Gassi muß. Einmal daheim, würden die kräftigen, groben Finger das Stück Leder, von dem sie geschunden wurden, am liebsten in die Ecke hinter den Kübel mit dem Putzwasser werfen. Aber das geht nicht, denn darunter würde das Papier leiden. Und davon würde der Beamte einen noch verloreneren Blick und noch senkrechtere Mundwinkel bekommen. Mit dem letzten Rest an Behutsamkeit, der nach so einem Tag, an dem es zu allem Unglück nicht einmal geregnet hat, noch aufzubringen ist, wird die Tasche zuöberst auf die Küchenkredenz gelegt, ein bißchen nach hinten geschoben, damit man sie nicht mehr sieht, und ihrem Schlaf überlassen. Bis sie wieder erwacht. Und in ihrer Gier nach unerledigtem Papier wieder die Macht über die Menschheit übernimmt.

(April/Mai 1998)

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