Uhura Message 2
1998
|
Passenderweise müßte es nieseln,
wenn eines dieser armseligen, grauen Männlein vom Bahnhof
her in die Stadt eintritt. Der verlorene, glasige Blick, der
einmal, als ihm der schwere Gang aufgetragen wurde, ein ernsthafter
war, die Einsicht ins Ungewisse des dennoch Unausweichlichen,
der Magen in jener mißbilligenden Laune, die der Einsicht
folgt, daß es vielleicht doch besser gewesen wäre,
mit dem Frühstück bis nachher zu warten. Die Säure
in den Mundwinkeln, die sich während der Anreise unbemerkt
nach unten verzogen hatten.
Und allem voran jenes Ding, das an allem schuld ist. Jener viereckige,
schmale, trägerlose Inbegriff all dessen, was dieses namenlose
Volk der Entrechteten in die Stadt treibt, während sie eigentlich
etwas zu tun hätten: die dünne Aktentasche, heraldisches
Zeichen der Amtsgänger. Erdäpfelbauern, Frühstückspensionswirte,
Skischuhhändler, Taxichauffeure, Pergelsäulengießer,
KFZ-Elektriker, Panzenbinder, deren Finger vom Werken, Familienernähren
und Geldzählen so klobig geworden sind, daß es unter
ihrer Würde wäre, dieses Nichts zwischen ihnen zu halten.
Es enthält auch nichts. Nichts, das es würdig wäre
gehalten zu werden. Nichts als Formulare, Vorlagen, Autorisierungsscheine
- Zettel, die die Wirtschaft aufhalten.
Früher, als die Welt noch ihrem eigenen Gang überlassen
wurde, gab es für solche Notwendigkeiten die "Besorger",
meistens Rentner, charakterstarke Personen, die gegen den Fluch
des Leders gefeit waren und für das ganze Dorf und eine
Halbe Roten die Amtsgänge in der Stadt erledigt haben. Die
Besorger sind ausgestorben. Nun müssen sich ihre Auftraggeber,
einst stolze Herren ihres Schicksals, selber der Gefahr aussetzen.
Zerquetschen würden sie sie am liebsten. Damit sie ihrem
Drang nicht nachgeben, haben sie sich jene dünnen Taschen
besorgt. Der zurückgehaltene Drang drückt natürlich
noch fester auf die Mundwinkel. Die Tasche wurde recht unbürokratisch
beim Lederwarenhändler im Nachbardorf erworben. Man fragt
einfach nach einer Mappe, "wissen Sie, eine, wo das AF22-B
Platz hat".
Der Händler ist zwar ein Gleichgesinnter,
aber auch ein armer Teufel, weil er dieses Ding verkaufen muß,
um leben zu können. Irgendwie hat man den Verdacht, er weiß
um den schlechten Einfluß, die negative Energie, die diese
Taschen ausstrahlen. Wasseradern sind gar nichts dagegen. Dabei
ist sie zu diesem Zeitpunkt nur viereckiges Leder mit Reißverschluß
und nichts drin. Aber wer ins Leere greift, den ergreift bereits
das Gefühl von abgrundtiefer Machtlosigkeit. Die Tränensäcke
schwellen an, ohne sich je ergießen zu dürfen, die
Mundwinkel sinken. Die Vorschrift will sie schwarz oder braun
und auf jeden Fall unauffällig. Es ist dasselbe Gesetz,
das Rentner dazu zwingt, in Beige herumzulaufen.
Die meisten halten sie an einer Ecke, so daß es sie nach
vorne neigt. Weil einem das dünne Etwas ja leicht entgleiten
könnte, klemmen die klobigen Finger, die eigentlich fürs
Arbeiten gebaut sind, es fest. Dadurch wird der Arm leicht nach
vorne gehalten, als führten sie einen unsympathischen Hund
an der Leine, einen, den man im Herzen schon "Amtsdirektor"
getauft hat. Sie schieben die Tasche also vor sich her und wissen
gleichzeitig, daß sie es ist, die sie zieht. Der Grund
ihres Hierseins. Und der Lage ihrer Mundwinkel.
Wenn sie so ein Amt betreten, geht ihnen die Mappe voraus. Der
Beamte sieht zuerst die Tasche und denkt sich: Oh, da kommt wieder
einer mit diesen Mundwinkeln und mit dem verlorenen Blick! Und
wappnet sich. Mit Blick und Mundwinkeln. Der Kreis schließt
sich somit. Nie wird eines dieser säuerlichen Männlein
auf etwas anderes als auf einen säuerlichen Beamten treffen.
Wie man in ein Amt hineinstiert, so stiert es heraus.
Die Aktentasche hält die Welt zusammen und so, wie sie ist.
Züge fahren deswegen, Tiefgaragen werden errichtet, und
bevor man den diesjährigen Plan für den Bau neuer Ämter
erstellt, erkundigt sich diskret ein Beamter der Abteilung "Annahme/Rückverweisung"
bei der Lederindustrie, wieviele Taschen gerade gefertigt werden,
"wissen Sie, solche, wo das AF22-B Platz hat". Die
viereckige Tasche ist insofern Modell und Grundlage jeder weiteren
Kubatur.
In der Tasche selber hat eigentlich nicht viel Platz. Aber man
muß bedenken, daß schon ein kleineres Blatt - von
solchen Kalibern wie dem AF22-B gar nicht zu reden - im Schnitt
3,7 Amtsgänge nach sich zieht, wie die Tasche ihren Träger.
In ihrer amtlich getragenen Notwendigkeit ist sie unnachgiebig.
Ist ihr Inhalt erst zur Hälfte benutzt worden, zieht sie
ihren Inhaber noch bis zum Spätnachmittag dahin. Leer wird
sie nie. Meistens kommt noch weiterer Inhalt dazu, der dann daheim
sorgfältig aufbewahrt werden muß, bis die Tasche wieder
in die Stadt muß. Ja, muß!
Und so schwebt ein Heer von Männlein, erbärmlichen
grauen Gestalten durch die Stadt, den Blick nirgendwohin, aber
immer nach vorne gerichtet, ab und zu streift er doch eine Auslage
oder eine Bar, wissend, daß die Tasche einen nicht läßt,
weil sie den ganzen Tag Gassi muß. Einmal daheim, würden
die kräftigen, groben Finger das Stück Leder, von dem
sie geschunden wurden, am liebsten in die Ecke hinter den Kübel
mit dem Putzwasser werfen. Aber das geht nicht, denn darunter
würde das Papier leiden. Und davon würde der Beamte
einen noch verloreneren Blick und noch senkrechtere Mundwinkel
bekommen. Mit dem letzten Rest an Behutsamkeit, der nach so einem
Tag, an dem es zu allem Unglück nicht einmal geregnet hat,
noch aufzubringen ist, wird die Tasche zuöberst auf die
Küchenkredenz gelegt, ein bißchen nach hinten geschoben,
damit man sie nicht mehr sieht, und ihrem Schlaf überlassen.
Bis sie wieder erwacht. Und in ihrer Gier nach unerledigtem Papier
wieder die Macht über die Menschheit übernimmt.
(April/Mai 1998)
|