Uhura Message 3
1998 |
"Nein", sagt Rosa Kalmsteiner
zum Bürgermeister, "das könnt ihr euch aus dem
Kopf schlagen." Rosa ist Buchhaltungsgehilfin im Gemeindeamt
und hat ihren Arbeitsplatz nur einen Stock unter dem Sitzungssaal
des Gemeinderates, der gerade dabei ist, einen zweieinhalb Meter
breiten Streifen Kulturgrund für den Bau eines Fußgängerweges
zu enteignen. Damit die Kinder auf dem Schulweg nicht über
die Hauptstraße müssen.
Rosa ist entschlossen, ihnen das nicht durchgehen zu lassen.
"Warum nicht?" fragt der Bürgermeister.
"Weil ich nicht will", antwortet Rosa scharf.
"Aber, Rosa " Der Bürgermeister versucht, ein
entrüstetes Gesicht aufzusetzen. "Der Gemeinderat ist
das demokratisch gewählte Organ der "
"Sag' ihnen einfach, es geht rechtlich nicht. Wegen der
Durchführungsbestimmung zum 341er."
"Und was ist das für ein Gesetz?" Der Bürgermeister
ist jetzt lernbereit.
"Woher soll ich das wissen? Ich bin hier nur die Buchhalterin!
So. Ich muß jetzt arbeiten. Siehst du ja."
Es war ein offenes, nie ausgesprochenes Geheimnis im Dorf, daß
die Rosa Aber um das zu verstehen, müßte man Flaneid
besser kennen. Das Dorf liegt ein bißchen abseits. Auf
der Straße von Kiens nach Kuens biegt man nach dem Bildstöckl
rechts ab und dann sieht man schon die ersten Häuser. Die
Gemeinde besteht aus 7 Fraktionen, neben dem Hauptort (Flaneid-Pfarre)
noch Ramedur, Tarutz, Profils, Seberneid, Gramutz und Ferflanz.
Einige zählen als eigenständige Fraktion noch die Siedlung
Grünwald dazu, die in den Siebzigern hauptsächlich
von Städtern besiedelt wurde und wohl daher ihren komischen
Namen hat. Die Bevölkerung, 797 Einwohner, ist römisch-katholisch
und lebt hauptsächlich von Arbeit und Fremdenverkehr. An
den beiden Zufahrtsstraßen wird der Hauptort von zwei Tafeln
des Verkehrsvereins abgegrenzt, eins im Norden ("Willkommen
in Flaneid, lieber Gast") und eins im Süden ("Bitte
die Schuhe abstreifen", zweisprachig). Es hat hier drei
Kirchen, aber im Winter ist nur eine beheizt. 1974, zwei Jahre
nach Inkrafttreten des Autonomiestatuts, konnten die Carabinieri
aus dem Dorf hinausgeekelt werden, die Nachtruhe wird seitdem
von zwei Gemeindepolizisten bewacht.
Um nicht in peinliche oder gar gefährliche Situationen zu
geraten, muß man wissen, wie in Flaneid die Dinge laufen
und an wen man sich wenden kann, ohne den vorgeschriebenen Dienstweg
zu überspringen. Der wichtigste Mann in Dorf ist Otto Kalmsteiner,
und er zeigt das auch. Er ist nun schon seit 23 Jahren Feuerwehrkommandant
im Ort und kann allerlei Brandschutzbestimmungen ins Feld führen,
sollte jemand sein Haus an die falsche Stelle bauen oder einen
zweiten Gemüseladen eröffnen wollen. Der seiner Frau,
meint Otto Kalmsteiner, genüge vollauf. Einmal wollte die
Gemeindeverwaltung den Schulhof in seinen Anger hinein verlängern,
und Kalmsteiner konnte glaubhaft nachweisen, daß das, rein
brandtechnisch gesehen, eine Unmöglichkeit wäre.
In jedem anderen Dorf würde das Amt des Feuerwehrkommandanten
nicht zu solcher Macht und einem so großen Dienstfahrzeug
(ein Rover-Geländewagen) führen. Aber Kalmsteiners
Frau Erna ist die Schwester des Bürgermeisters, und man
sagt im Dorf, sie habe sich schon in ihrer Jugendzeit von ihrem
älteren Bruder herumkommandieren lassen. Einerseits paßt
ihr das überhaupt nicht. Andererseits kommandiert sie, zum
Ausgleich, ihren Mann herum. Das Leben wäre sonst nicht
auszuhalten.
Der Bürgermeister, Franz Kalmsteiner - in Flaneid heißen
fast alle so, nur die Städter von Grünwald müssen
ja ihre Extrawürste haben -, der Bürgermeister also
ist ein herrschsüchtiger Mann, von der Macht besessen, die
er im Grund gar nicht hat. Der Grund dafür ist der Pfarrgrund,
den Franz Kalmsteiner schon seit jeher als Pächter bearbeitet.
Der Pfarrgrund ("Anger", "Rabenstein" und
"Hilf") liefert Äpfel und Birnen und somit des
Bürgermeisters Lebensgrundlage. Anderen hat er keinen. Also
herrscht er über vier landwirtschaftliche Arbeiter - in
der Erntesaison über 27 - und hört ansonsten auf den
Pfarrer.
Der Pfarrer heißt nicht Kalmsteiner, sondern Pescolderungg,
ein Ladiner, weil die Kurie der Meinung war, daß Flaneid
doch ein bißchen ein schwieriges Dorf ist. Zwar ist in
dem Dorf nicht zwischen Sprachgruppen ausgleichend zu vermitteln
- was normalerweise zu einem ladinischen Pfarrer führt -
sondern zwischen den Kalmsteinern untereinander, und das ist
viel schwieriger. Die Kalmsteiner bzw. Flaneider ihrerseits haben
den Hintergedanken der Kurie wohl gerochen, sich aber nicht dagegen
aufgelehnt. Stattdessen haben sie dem Pfarrer eine kräftige
Häuserin, Anna Kalmsteiner, beigegeben, die im Widum nach
dem Rechten sehen soll.
Mehr Angst als vor dem Pfarrer hat der Bürgermeister allerdings
vom Pfarrgemeinderat, dem der Pfarrgrund unterstellt ist. Obmann
des Pfarrgemeinderates ist Peter Kalmsteiner, Leiter des Gemeindebauhofs.
Peter Kalmsteiner hat neben dem Bürgermeister noch einen
eigenen Mitarbeiter im Bauhof, den er befehligen kann. Seine
Macht ist aber begrenzt, denn er untersteht Elmar Kalmsteiner.
Dieser ist nicht nur Straßen- und damit Bauhofassessor
- was aber nichts besagt, denn Peter Kalmsteiner ist Lehnsherr
des Bürgermeisters -, sondern auch sein privater Arbeitgeber.
Mit seinem Gehalt als Bauhofleiter könnte Peter Kalmsteiner
nicht einmal seinen Mercedes volltanken. Deswegen arbeitet er
während der Pausen (8.30 11.55 und 14.10 17.50
Uhr) in der Kellerei von Elmar Kalmsteiner. Dieser hatte den
Betrieb von Vater Franz Josef Kalmsteiner übernommen, dem
legendären Bürgermeister während der Kriegsjahre.
Wenn der Gemeindeausschuß einen Antrag abschmettern will,
dann greift er heute noch gerne auf folgende Begründung
zurück: "Das war schon unter dem alten Franz Josef
so."
Hauptaktionärin der Kellerei - die während des Krieges
praktisch über Nacht mit 98 Hektar Optantenbesitz fertig
werden mußte und deshalb in eine Aktiengesellschaft verwandelt
wurde - ist aber Elmars Schwester Maria Kalmsteiner, eine recht
resolute Person, die auch als Geschäftsführerin über
die örtliche Raiffeisenkasse herrscht. Maria legt hin und
wieder Wert auf den Hinweis, daß sie niemandem zu gehorchen
brauche. Außer vielleicht Severin Kalmsteiner, dem ewigen
Obmann der Bank. Severin ist ein Kleiner unter den Kleinbauern
und wäre eigentlich ein nichtbeachteter Mensch. Aber da
sich die zwei größten Kalmsteiner-Linien seit jeher
um die Macht über die Bank streiten, gab es keinen anderen
Ausweg, als einen, der sonst nichts zu sagen hätte, zum
unabsetzbaren Zünglein an der Waage zu machen. Und damit
zum uneingeschränkten Herrscher in der Bank.
Damit wäre Severin Kalmsteiner gleichzeitig auch der mächtigste
Mensch in Flaneid. Gäbe es da nicht seine ältere Schwester
Herta, die vor sieben Jahren vorausschauend den Hotelier Hans
Otto Kalmsteiner geheiratet hat. Hans Otto, nach fehlgeschlagenen
Existenzgründungen in Norddeutschland - von dort hat er
den Doppelnamen mitgenommen und die feste Überzeugung, daß
Bauleitpläne und Gewerkschaften den Anfang vom Ende bedeuten
- nach Flaneid zurückgekehrt, ist mit seinen zwölf
Hotels der größte Arbeitgeber im Dorf. Jedesmal, wenn
die Gemeinde seinen Wünschen nicht nachkommt, sperrt er
eines davon für ein paar Monate zu und schraubt damit die
Arbeitslosenrate von Flaneid von null auf vierzehn Prozent.
Hans Otto schwänzt regelmäßig den Kirchgang und
hält sich zur Zeit der Messe demonstrativ im Gasthaus gegenüber
(Restaurant-Pizzeria Kalmsteiner) auf. Schimpft auf den Bürgermeister,
belächelt den Pfarrer und schreit in alle Welt hinaus, daß
er nicht einmal vor dem Herrgott Angst habe. Angst hat er stattdessen
vor Hubert Kalmsteiner, dem Dorfpolizisten. Hubert, der einmal
Gastarbeiter in Niedersachsen war, weiß als einziger um
ein paar hochnotpeinliche Affären von Hans Otto während
dessen norddeutscher Schaffensperiode. Man mutmaßt halbkriminelle
Episoden, weiß aber nichts Genaues. Denn Hubert hält
den Mund. Er beschränkt sich darauf, Hans Otto hin und wieder
zuzuzwinkern, wobei dieser dann jedesmal um seine Existenz bangt.
Was zu dem für das Dorf vernünftigen Ergebnis führt,
daß der Heimkehrer-Hotelier sich darauf beschränkt,
seine immense Macht am Sonntag spazieren zu führen, anstatt
sie wirklich auszuüben. Ein Wort des Dorfpolizisten würde
ihn und die ganze Anordnung von Dominosteinen - vom Raika-Obmann
über den Bürgermeister bis zum Feuerwehrkommandanten
- den Hang hinunterpurzeln lassen.
Hubert Kalmsteiners jüngere Schwester ist übrigens
Anna, die Häuserin, die dem Pfarrer den rechten Weg weist.
"Wenn der Hubert das wüßte", hat sie einmal
gesagt und damit verhindert, daß in Flaneid Ministrantinnen
zugelassen werden.
Huberts ältere Schwester Rosa hingegen ist, seit die Eltern
verstorben sind, das Familienoberhaupt. Regelmäßig
ruft sie, zu Milch und Strudel, ihre zwei Geschwister zum Familienrat
zusammen, bei dem über die Verwaltung des Familienbesitzes
und der Gemeinde beraten wird. Als Gemeindebeamtin - sie ist,
wie gesagt, Hilfsbuchhalterin - hat sie keinen weiten Weg, um
dem Bürgermeister die Beschlüsse vom Familienrat mitzuteilen.
Vergangenen Sonntag war der Bauleitplan dran. "Den Grund
geben wir nicht her", eröffnete Anna den Tagesordnungspunkt,
"das ist ein Erbstück vom Onkel Franz Josef."
Am Montag drauf tagt der Gemeinderat, 14 Kalmsteiner, 1 Zelger,
der nicht zu verhindern war, da die Fraktion Grünwald mittlerweile
immer bevölkerungsstärker geworden ist. Der Bauleitplan
ist in Flaneid eigentlich kein schwieriges Kapitel, weil es nicht
viel zu bauen gibt, denn das wäre, brandtechnisch gesehen,
schwierig. Nur dieser Fußgängersteig. Der Schuldirektor,
ein Cousin des Bürgermeisters, will ihn, der Pfarrer will
ihn, Hans Otto hat nichts dagegen, das ganze Dorf will ihn. Der
Gemeinderat ist dafür. "Moment einmal", sagt der
Bürgermeister, der gewohnt ist, die Sitzungen straff zu
führen, "bevor wir das beschließen, muß
ich noch im Rechtsamt fragen, ob das geht, jetzt einmal rein
juristisch gesehen. Die Sitzung ist für zehn Minuten unterbrochen.
Wer rauchen will, verläßt den Saal."
Franz Kalmsteiner, der Bürgermeister, steht langsam auf
und verläßt majestätisch den Sitzungssaal. Dann
geht er einen Stock tiefer. Aber am Rechtsamt vorbei. "Rosa
?"
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