Alex Maier
Die Kalmsteiner in Flaneid
Volkskundliche Notizen zur Siedlungsgeschichte/Uhura 3

Uhura Message 3

1998

"Nein", sagt Rosa Kalmsteiner zum Bürgermeister, "das könnt ihr euch aus dem Kopf schlagen." Rosa ist Buchhaltungsgehilfin im Gemeindeamt und hat ihren Arbeitsplatz nur einen Stock unter dem Sitzungssaal des Gemeinderates, der gerade dabei ist, einen zweieinhalb Meter breiten Streifen Kulturgrund für den Bau eines Fußgängerweges zu enteignen. Damit die Kinder auf dem Schulweg nicht über die Hauptstraße müssen.
Rosa ist entschlossen, ihnen das nicht durchgehen zu lassen. "Warum nicht?" fragt der Bürgermeister.
"Weil ich nicht will", antwortet Rosa scharf.
"Aber, Rosa " Der Bürgermeister versucht, ein entrüstetes Gesicht aufzusetzen. "Der Gemeinderat ist das demokratisch gewählte Organ der "
"Sag' ihnen einfach, es geht rechtlich nicht. Wegen der Durchführungsbestimmung zum 341er."
"Und was ist das für ein Gesetz?" Der Bürgermeister ist jetzt lernbereit.
"Woher soll ich das wissen? Ich bin hier nur die Buchhalterin! So. Ich muß jetzt arbeiten. Siehst du ja."
Es war ein offenes, nie ausgesprochenes Geheimnis im Dorf, daß die Rosa Aber um das zu verstehen, müßte man Flaneid besser kennen. Das Dorf liegt ein bißchen abseits. Auf der Straße von Kiens nach Kuens biegt man nach dem Bildstöckl rechts ab und dann sieht man schon die ersten Häuser. Die Gemeinde besteht aus 7 Fraktionen, neben dem Hauptort (Flaneid-Pfarre) noch Ramedur, Tarutz, Profils, Seberneid, Gramutz und Ferflanz. Einige zählen als eigenständige Fraktion noch die Siedlung Grünwald dazu, die in den Siebzigern hauptsächlich von Städtern besiedelt wurde und wohl daher ihren komischen Namen hat. Die Bevölkerung, 797 Einwohner, ist römisch-katholisch und lebt hauptsächlich von Arbeit und Fremdenverkehr. An den beiden Zufahrtsstraßen wird der Hauptort von zwei Tafeln des Verkehrsvereins abgegrenzt, eins im Norden ("Willkommen in Flaneid, lieber Gast") und eins im Süden ("Bitte die Schuhe abstreifen", zweisprachig). Es hat hier drei Kirchen, aber im Winter ist nur eine beheizt. 1974, zwei Jahre nach Inkrafttreten des Autonomiestatuts, konnten die Carabinieri aus dem Dorf hinausgeekelt werden, die Nachtruhe wird seitdem von zwei Gemeindepolizisten bewacht.
Um nicht in peinliche oder gar gefährliche Situationen zu geraten, muß man wissen, wie in Flaneid die Dinge laufen und an wen man sich wenden kann, ohne den vorgeschriebenen Dienstweg zu überspringen. Der wichtigste Mann in Dorf ist Otto Kalmsteiner, und er zeigt das auch. Er ist nun schon seit 23 Jahren Feuerwehrkommandant im Ort und kann allerlei Brandschutzbestimmungen ins Feld führen, sollte jemand sein Haus an die falsche Stelle bauen oder einen zweiten Gemüseladen eröffnen wollen. Der seiner Frau, meint Otto Kalmsteiner, genüge vollauf. Einmal wollte die Gemeindeverwaltung den Schulhof in seinen Anger hinein verlängern, und Kalmsteiner konnte glaubhaft nachweisen, daß das, rein brandtechnisch gesehen, eine Unmöglichkeit wäre.
In jedem anderen Dorf würde das Amt des Feuerwehrkommandanten nicht zu solcher Macht und einem so großen Dienstfahrzeug (ein Rover-Geländewagen) führen. Aber Kalmsteiners Frau Erna ist die Schwester des Bürgermeisters, und man sagt im Dorf, sie habe sich schon in ihrer Jugendzeit von ihrem älteren Bruder herumkommandieren lassen. Einerseits paßt ihr das überhaupt nicht. Andererseits kommandiert sie, zum Ausgleich, ihren Mann herum. Das Leben wäre sonst nicht auszuhalten.
Der Bürgermeister, Franz Kalmsteiner - in Flaneid heißen fast alle so, nur die Städter von Grünwald müssen ja ihre Extrawürste haben -, der Bürgermeister also ist ein herrschsüchtiger Mann, von der Macht besessen, die er im Grund gar nicht hat. Der Grund dafür ist der Pfarrgrund, den Franz Kalmsteiner schon seit jeher als Pächter bearbeitet. Der Pfarrgrund ("Anger", "Rabenstein" und "Hilf") liefert Äpfel und Birnen und somit des Bürgermeisters Lebensgrundlage. Anderen hat er keinen. Also herrscht er über vier landwirtschaftliche Arbeiter - in der Erntesaison über 27 - und hört ansonsten auf den Pfarrer.
Der Pfarrer heißt nicht Kalmsteiner, sondern Pescolderungg, ein Ladiner, weil die Kurie der Meinung war, daß Flaneid doch ein bißchen ein schwieriges Dorf ist. Zwar ist in dem Dorf nicht zwischen Sprachgruppen ausgleichend zu vermitteln - was normalerweise zu einem ladinischen Pfarrer führt - sondern zwischen den Kalmsteinern untereinander, und das ist viel schwieriger. Die Kalmsteiner bzw. Flaneider ihrerseits haben den Hintergedanken der Kurie wohl gerochen, sich aber nicht dagegen aufgelehnt. Stattdessen haben sie dem Pfarrer eine kräftige Häuserin, Anna Kalmsteiner, beigegeben, die im Widum nach dem Rechten sehen soll.
Mehr Angst als vor dem Pfarrer hat der Bürgermeister allerdings vom Pfarrgemeinderat, dem der Pfarrgrund unterstellt ist. Obmann des Pfarrgemeinderates ist Peter Kalmsteiner, Leiter des Gemeindebauhofs. Peter Kalmsteiner hat neben dem Bürgermeister noch einen eigenen Mitarbeiter im Bauhof, den er befehligen kann. Seine Macht ist aber begrenzt, denn er untersteht Elmar Kalmsteiner. Dieser ist nicht nur Straßen- und damit Bauhofassessor - was aber nichts besagt, denn Peter Kalmsteiner ist Lehnsherr des Bürgermeisters -, sondern auch sein privater Arbeitgeber. Mit seinem Gehalt als Bauhofleiter könnte Peter Kalmsteiner nicht einmal seinen Mercedes volltanken. Deswegen arbeitet er während der Pausen (8.30 ­ 11.55 und 14.10 ­ 17.50 Uhr) in der Kellerei von Elmar Kalmsteiner. Dieser hatte den Betrieb von Vater Franz Josef Kalmsteiner übernommen, dem legendären Bürgermeister während der Kriegsjahre. Wenn der Gemeindeausschuß einen Antrag abschmettern will, dann greift er heute noch gerne auf folgende Begründung zurück: "Das war schon unter dem alten Franz Josef so."
Hauptaktionärin der Kellerei - die während des Krieges praktisch über Nacht mit 98 Hektar Optantenbesitz fertig werden mußte und deshalb in eine Aktiengesellschaft verwandelt wurde - ist aber Elmars Schwester Maria Kalmsteiner, eine recht resolute Person, die auch als Geschäftsführerin über die örtliche Raiffeisenkasse herrscht. Maria legt hin und wieder Wert auf den Hinweis, daß sie niemandem zu gehorchen brauche. Außer vielleicht Severin Kalmsteiner, dem ewigen Obmann der Bank. Severin ist ein Kleiner unter den Kleinbauern und wäre eigentlich ein nichtbeachteter Mensch. Aber da sich die zwei größten Kalmsteiner-Linien seit jeher um die Macht über die Bank streiten, gab es keinen anderen Ausweg, als einen, der sonst nichts zu sagen hätte, zum unabsetzbaren Zünglein an der Waage zu machen. Und damit zum uneingeschränkten Herrscher in der Bank.
Damit wäre Severin Kalmsteiner gleichzeitig auch der mächtigste Mensch in Flaneid. Gäbe es da nicht seine ältere Schwester Herta, die vor sieben Jahren vorausschauend den Hotelier Hans Otto Kalmsteiner geheiratet hat. Hans Otto, nach fehlgeschlagenen Existenzgründungen in Norddeutschland - von dort hat er den Doppelnamen mitgenommen und die feste Überzeugung, daß Bauleitpläne und Gewerkschaften den Anfang vom Ende bedeuten - nach Flaneid zurückgekehrt, ist mit seinen zwölf Hotels der größte Arbeitgeber im Dorf. Jedesmal, wenn die Gemeinde seinen Wünschen nicht nachkommt, sperrt er eines davon für ein paar Monate zu und schraubt damit die Arbeitslosenrate von Flaneid von null auf vierzehn Prozent.
Hans Otto schwänzt regelmäßig den Kirchgang und hält sich zur Zeit der Messe demonstrativ im Gasthaus gegenüber (Restaurant-Pizzeria Kalmsteiner) auf. Schimpft auf den Bürgermeister, belächelt den Pfarrer und schreit in alle Welt hinaus, daß er nicht einmal vor dem Herrgott Angst habe. Angst hat er stattdessen vor Hubert Kalmsteiner, dem Dorfpolizisten. Hubert, der einmal Gastarbeiter in Niedersachsen war, weiß als einziger um ein paar hochnotpeinliche Affären von Hans Otto während dessen norddeutscher Schaffensperiode. Man mutmaßt halbkriminelle Episoden, weiß aber nichts Genaues. Denn Hubert hält den Mund. Er beschränkt sich darauf, Hans Otto hin und wieder zuzuzwinkern, wobei dieser dann jedesmal um seine Existenz bangt. Was zu dem für das Dorf vernünftigen Ergebnis führt, daß der Heimkehrer-Hotelier sich darauf beschränkt, seine immense Macht am Sonntag spazieren zu führen, anstatt sie wirklich auszuüben. Ein Wort des Dorfpolizisten würde ihn und die ganze Anordnung von Dominosteinen - vom Raika-Obmann über den Bürgermeister bis zum Feuerwehrkommandanten - den Hang hinunterpurzeln lassen.
Hubert Kalmsteiners jüngere Schwester ist übrigens Anna, die Häuserin, die dem Pfarrer den rechten Weg weist. "Wenn der Hubert das wüßte", hat sie einmal gesagt und damit verhindert, daß in Flaneid Ministrantinnen zugelassen werden.
Huberts ältere Schwester Rosa hingegen ist, seit die Eltern verstorben sind, das Familienoberhaupt. Regelmäßig ruft sie, zu Milch und Strudel, ihre zwei Geschwister zum Familienrat zusammen, bei dem über die Verwaltung des Familienbesitzes und der Gemeinde beraten wird. Als Gemeindebeamtin - sie ist, wie gesagt, Hilfsbuchhalterin - hat sie keinen weiten Weg, um dem Bürgermeister die Beschlüsse vom Familienrat mitzuteilen. Vergangenen Sonntag war der Bauleitplan dran. "Den Grund geben wir nicht her", eröffnete Anna den Tagesordnungspunkt, "das ist ein Erbstück vom Onkel Franz Josef."
Am Montag drauf tagt der Gemeinderat, 14 Kalmsteiner, 1 Zelger, der nicht zu verhindern war, da die Fraktion Grünwald mittlerweile immer bevölkerungsstärker geworden ist. Der Bauleitplan ist in Flaneid eigentlich kein schwieriges Kapitel, weil es nicht viel zu bauen gibt, denn das wäre, brandtechnisch gesehen, schwierig. Nur dieser Fußgängersteig. Der Schuldirektor, ein Cousin des Bürgermeisters, will ihn, der Pfarrer will ihn, Hans Otto hat nichts dagegen, das ganze Dorf will ihn. Der Gemeinderat ist dafür. "Moment einmal", sagt der Bürgermeister, der gewohnt ist, die Sitzungen straff zu führen, "bevor wir das beschließen, muß ich noch im Rechtsamt fragen, ob das geht, jetzt einmal rein juristisch gesehen. Die Sitzung ist für zehn Minuten unterbrochen. Wer rauchen will, verläßt den Saal."
Franz Kalmsteiner, der Bürgermeister, steht langsam auf und verläßt majestätisch den Sitzungssaal. Dann geht er einen Stock tiefer. Aber am Rechtsamt vorbei. "Rosa ?"

(12/98)

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