Baron von Caldiff
Die Landtagswette von Bozen/Uhura 4


Uhura Message 4

2000

 


 

 

Ich hatte schon öfter Lust darauf gehabt, mir eine Sitzung im Südtiroler Landtag zu Bozen anzuhören und anzuschauen. Von diesem Vorhaben war ich aber immer wieder abgelenkt worden von den Bewegungen der Weltgeschichte und von den Bewegungen, die in meinem eigenen Leben vonstatten gingen.
Ich wollte auch vermeiden, die Geschichte mit dem Landtag so zu erleben wie etwa ein Landhausberichterstatter. So wie jener Kollege von Dir, der hat den Job auch nur solange gemacht, bis er gemerkt hat, was das dort für Spaßvögel sind und was die so vom Stapel lassen. Der diese Erkenntnis sich und seinen Lesern nicht zumuten konnte und folglich zu Zeiten auf die letzte Bastion des ernsten Lebens gewechselt ist, zur Wirtschaft und ihrem ultimaten Stapel, dem Aktien- stapel.
Wenn ich aber den Hauptgrund für meinen aufgeschobenen Besuch auffinden wollte, müsste ich rückblickend sagen, dass ich mir nie so recht im Klaren war, was ich im Landtag eigentlich erleben wollte. Aus der heutigen Sicht muss ich zugeben, dass ich vermutlich ahnte, ohne es zu wissen, dass ich dort nur wiederfinden würde, wie es in mir selber ausschaute: Wenn ich selber nicht gut drauf bin, werde ich nur erleben, was dort alles daneben geht. Wenn ich selber trocken bin, werde ich eben nur erleben, wie trocken es dort zugeht. Als Spaßvogel werde ich die Politiker sicher in ihrer spaßigen Rolle erleben, als Kritiker werde ich nur ihre Schwächen sehen.
Erst wenn ich bereit bin, einfach als Mensch hinzugehen, werde ich sie als Menschen erleben.
Nebenbei hatte ich nie den Mut oder den Antrieb gehabt, alleine in den Landtag zu gehen.
Nun ist es vorgekommen, dass ich weghin ein paar interessante Typen getroffen habe, durch deren Bekanntschaft mir ganz neue Ideen gekommen sind.

Als ich eine zeitlang einige Male die Autobahn nahm, um von Neumarkt nach Bozen zu fahren, kam es immer öfter vor, dass ein Stau die Autobahn in einen einzigen langgezogenen Parkplatz verwandelte. Das war seltsam, denn es war überhaupt keine Hauptreisezeit und es waren auch nicht mehr Baustellen als sonst zu verzeichnen.
Es fiel mir beim nervtötenden Warten bei offenem Wagenfenster auf, dass die Mittelstreifen zwischen Überholspur und Normalspur auf eigenartige Weise verwischt und verbunden ausschauten und wirklich einen durchgehenden Strich ergaben. Vermutlich trauten sich deshalb viele Fahrer nicht mehr zu überholen und so entstanden jene mordsialischen Staus.
Ich hatte einen Verdacht und eine Ahnung bezüglich der Entstehung dieses Phänomens. So folgte ich eines Tages den Spuren der verwischten Streifen.
Mir fiel auf: Sie begannen bei Salurn und führten bis nach Brixen; dort wurde der Effekt schwächer, bis sie an der Raststätte Brixen Ost aufhörten. Ich bog dort ein und an der Theke sah ich einen Mann von sehniger Gestalt sein Mineralwasser trinken. Er trug an den Füßen graublaue Caterpillar, deren starke Profilsohle Spuren von weißer Farbe aufwies. Ich stellte mich neben ihn und fragte:
- Müde?
Er schaute mich an und sagte dann:
- Wenn du wüsstest.
Ich sagte bloß:
- Erzähl.
- Es ist immer dasselbe. Ich bin einfach zu schnell. Ich bin nicht imstande, mein Tempo auf irgendein Ziel einzustellen. So finde ich keine Arbeit, weil ich nie imstande bin, an der richtigen Stelle stehenzubleiben.
Alles hat angefangen mit jener Beamten-olympiade, wo ich Sieger in "Schnelligkeit" geworden bin. Seitdem war es aus mit der Ruhe, ich musste immer nur laufen, laufen, laufen. Ich bin seit langem auf der Suche nach einem neuen Beruf, aber überall, wo ich hinlaufen will, sause ich übers Ziel hinaus. Ich habe begonnen, auf dem Mittelstreifen der Autobahn zu laufen, um mich besser koordinieren zu können, um im richtigen Moment stehen bleiben zu können. Aber auch dort haut's nicht hin. Zuerst ging's mir bei Bozen so, da dachte ich, das ist weil's zu nahe ist, dann probierte ich es bis Innsbruck, überall dieselbe Geschichte. Entweder ich bleibe weit vorher stehen oder ich rase weit darüber hinaus. Darüberhinaus verbrauchte ich an einem Tag ein Paar Adidas-Laufschuhe. Jetzt bin ich auf die Caterpillar umgestiegen, die halten drei Tage.
So heißt's aber immer wieder:
- Außer Spesen nichts gewesen.
Ich sagte zu ihm:
- Vielleicht können wir zusammen einmal etwas machen.

Als ich selber einmal wieder nach Arbeit suchte, kam ich nach Bozen, weil ich dem Arbeitsamt im Unterland nicht zutraute, etwas Gescheites bereitzuhalten. Einmal in der Stadt, ging ich aber dort auch nicht aufs Arbeitsamt, weil ich im Grunde der öffentlichen Hand bei der Arbeit überhaupt nicht traue. Ich streifte einfach so durch die Stadt. Es war einer jener wunderbaren Herbsttage, wie man sie nur in Bozen kennt und wer will an einem dieser Tage überhaupt an Arbeit denken. Ja man denkt an die Arbeit wie man an den Winter denkt, aber an diesen Tagen will man genießen, spüren, dass man das Glück hat, mit seinen ganzen Problemen und Stempaneien an einem besonderen Ort dieser Erde zu leben.
Es zog mich auf meinem Spaziergang auch zum Bahnhofspark. Eigenartig, dass sich überall auf der Welt um den Bahnhof, um den Hafen ein Volk sammelt, das nicht den gängigen Vorstellungen von gesundem oder korrektem Gesellschaftsleben entspricht. Im westlichen Teil des Parks sah ich auf einer Bank einen Mann sitzen, dessen Alter schwer einzuschätzen war. Er saß da mit auseinandergewinkelten, ausgestreckten Beinen, die Arme über die Rückenlehne ausgebreitet. Neben ihm auf der Wiese lag ein leerer Kartoffelsack. Dieser schien im Gegensatz zu dem Mann ein bestimmtes Alter zu verraten. Die Faser schien an jenem Übergang zu sein, wo die schmiegsame, wenn auch rauhborstige junge Faser sich langsam wandelt in die glatte, starre und harte Fläche, wo jede Falte bereits ein Knick zu sein scheint. Einzig innen am Rand sah man bei dem Sack einen grünen Belag, der ihm trotz der Abgestandenheit etwas Lebendigkeit zu verleihen schien.
Es war nicht viel Platz neben dem Mann mit den ausgebreiteten Armen, aber ich setzte mich hin und nachdem ich eine zeitlang gewartet hatte, fragte ich ihn, was es mit seinem Sack für eine Bewandnis habe.
- Ich komme aus der Stadt mit dem Rathaus ohne Fenster. Ich gehörte zu denen, die begonnen hatten, das Licht mit Säcken ins Innere zu tragen. Als die Arbeit eine Zeit fortgeschritten war, war ich es, der es aussprach: Das bringt ja nichts.

Zur Strafe dafür musste ich gehen aus meiner Stadt. Den Sack nahm ich mit. Ich gebe es zu: Auch ich hatte geglaubt, dass es gehen würde mit dem Lichthineinbringen. Ich hatte also an den Sack geglaubt und deshalb nahm ich ihn als einziges mit hinaus in die weite Welt unter Sonne und Regen und sonst nichts. Ich dachte immerfort an das finsteres Rathaus und hielt mich an meinen Sack. Er blieb seitdem immer offen, weil ich gesehen hatte, dass er nur dann voller Licht war.
Offen und leer, denn die paar Sachen, die ich mit offenem Sack weitertrug, wurden mir weghin gestohlen.
Auf meiner Wanderschaft kam ich viel durch den Wald und so kam es, dass mein Sack, der mit mir älter wurde, ein grüner Sack wurde. Und jetzt hilft er mir, die Welt zu ertragen und trotz der Gifte, die herum sind, in mich aufzunehmen, was ich zum Leben am meisten brauche.
- Und was ist das?
- Na die Luft zum Atmen natürlich.
Der Tag war wie gesagt schön und angenehm, aber bei diesen Worten vergingen mir Hören und Sehen und ich wachte auf in eine neue Welt, wo ich noch nie gewesen schien, obwohl sie mir sofort bekannt war. Es war meine Welt, wo ich ein Teil von dem war, was mich umgab, und ich trotzdem mit allem sicher umzugehen vermochte, was ich um mich herum erlebte. Das erste, was ich tat, war zu dem Mann gewandt zu sagen:
- Wir machen eines Tages etwas zusammen.
Er schaute mich mit einem Ausdruck an, in dem sich Verwunderung, Misstrauen, Zweifel und noch ein Haufen anderer teils wider- strebender Gefühle mischten und erst nachdem ich weitergegangen war, fiel mir auf, dass wir uns nicht weiter vorgestellt hatten und auch keine Adressen ausgetauscht hatten.

Ich habe, wie Du weißt Reinhold, eine Menge besonderer Menschen in unserem Land kennengelernt, aber diese, von denen ich heute schreibe, hatten mir von ihren Abenteuern bis dato nur erzählt. Ich hatte sie nicht bei der Arbeit oder bei anderen Aktionen kennengelernt.

Das gilt auch für Pichelsteiner, den Mann mit dem gigantischen Fernrohr, den ich auf einem meiner Jagdabenteuer kennengelernt hatte, einen eher verschlossenen Mann im Forst. Unter Anspielung auf eine Vorliebe fürs Pipeln sagten seine Freunde, die Röhren seines Fernglases seien wohl kaschierte 7/10 Weißweinflaschen. So schauten sie tatsächlich aus.
Er pflegte darauf mit vielsagender Miene zu antworten:
- Seid still, mit diesem Glas sehe ich so gut auf die andere Talseite hinüber, dass ich am oberen Spielboden die Leute reden höre.
Auch zu ihm hatte ich nach unserer Begegnung gesagt:
- Wir sehen uns einmal.

Auf meinen Einkaufsfahrten nach Bozen fiel mir an der Bushaltestelle bei Steinmannwald immer wieder ein Junge auf, der dort auf den Schulbus wartete.
Schwer vornübergebeugt stand er da unter seinem schweren Ranzen, einem dieser neumodischen, vielfarbigen Schulrucksäcke, mit denen sich die Kids viel lässiger als mit den alten Ledertaschen dünken, aber oft hängen diese Säcke hinten weit hinunter wie gefüllt mit bleiernen Bocciakugeln. Oft genug sah ich ihn am Morgen da stehen und ich er- tappte mich, wie ich zwar nicht gerade daran dachte ob ich ihn wieder sehen würde und ob er immer noch so gebückt gehe, aber immer als ich ihn wieder einmal sah, nur darauf gewartet hatte, wie er wohl diesmal ausehen würde. Ich dachte mir, er werde wohl mit der Zeit selber darauf kommen, oder seine Eltern oder seine Erzieher würden einsehen, dass die Schultasche zu schwer sei. Und ich schaute jedesmal hin und wieder weg, weil ich ja eh nichts machen würden können. Ich wollte auf die modernen Haltungs- und Trainingsmethoden vertrauen.
Nun sah ich ihn einmal ohne Rucksack auf der gegenüberliegenden Straßenseite gehen: und da schien er noch mehr gebückt als mit dem Rucksack.
Das machte mich fertig. Aber was tun?
Wenn schon niemand etwas für ihn tat, wollte ich mindestens einen guten Rat geben. Ich hatte ein paar Vorschläge, an wen er sich wenden könnte, bevor irreparable Haltungsschäden eintreten könnten. Als ich ihn auf seinen schweren Rucksack ansprach, wollte er zuerst nicht recht heraus mit der Sprache, dann sagte er:
- Es ist nicht wegen des Schulrucksackes. Es ist wegen der Märchen. Meine Mutter hat mir als kleiner Junge zum Schlafengehen immer Märchen vorgelesen. Später habe ich in meinen Lesebüchern immer neue Märchen gesucht und sie sind mit mir gewachsen. Als ich älter wurde, wollte ich diese Märchen hinauslassen in die Welt, in der ich mich bewegte. Aber so wie ich meine Märchen gehen ließ, kamen sie wieder zu mir zurück. Niemand wollte sie erkennen im Leben der Erwachsenen. Da wurde ihnen kalt in der Welt. Ich musste sie wieder aufnehmen, denn es waren meine Märchen und wenn sie zu kalt haben, habe ich auch zu kalt.
Lange suchte ich nach dem einem Märchen, das mir zeigen würde, wie und wo ich meine ganzen Märchen in die Welt hinauslassen könne, aber auf diese Weise kamen bloß noch neue aus aller Herren Länder hinzu und es wurde mir schwerer und schwerer.
Ich sagte ihm:
- Junge, ich weiß zwar nicht, wie ich Dir helfen kann, aber ich kenne ein paar patente Typen, mit denen könnten wir einmal losziehen, einen Spaß haben und vielleicht ein bisschen lockerer werden.

Ich hatte praktisch jede Begegnung mit diesen Leuten mit der Versicherung meinerseits abgeschlossen:
- Wir machen einmal etwas zusammen!
Allerdings hatte sich dann nie etwas ergeben. Zu fremd war mir der einzelne von ihnen in seiner direkten Beziehung zu meiner Person. Zu fremd schien mir der einzelne, jeder auf seine Art, in der Wirklichkeit, in der wir alle leben. Als ich eines Tages aber durch eine Fügung des Augenblicks diese meine neuen Bekanntschaften in einem Zusammenhang, sagen wir einmal als Gruppe denken konnte, wurde mir ganz schnell klar, was wir zusammen machen könnten, wo wir zusammen hin mussten, wo einzig und allein für Leute wie uns etwas zu holen war: in den Bozner Landtag.

Als die Zeit reif schien, wusste ich allerdings nicht mehr, wo die Leute auffinden. So sehr ich mich auch anstrengte und an bestimmte Methoden der Recherche dachte, wieviele Richtungen ich auch einschlug, ich kam auf keinen grünen Zweig.
Ich ging auf die Sache in gerader Richtung zu wie man auf ein Ziel zugeht, ohne zu wissen, wo sich dieses Ziel befindet. Alles schien sich in nichts oder in Luft aufzulösen. Erst als alle Wege zu schienen, merkte ich, welcher Weg offen war. Ich fing an, mich mehr aufs Gefühl und aufs Vertrauen in den guten Lauf der guten Dinge zu verlassen und zugleich die gerade Richtung zugunster einer Bewegung aufzugeben, die mit einer großen Kraft einhergeht: der Fliehkraft.

Ich begann die Kreisbewegungen in verschiedenen Situationen und Zusammen- hängen bewusst zu erleben und in sie einzugehen und bei einem bestimmtem kontrolliertem Tempo der Kraft nachzugeben, die mich hinaustreibt. Ich suchte, ich erlebte Spiralen, Schwindelzustände, Fusilli, langgezogene Autobahnausfahrten, Kreise um Denkmäler im Park, alles mit leichtem aber eindeutigem Schwung nach außen. Dieser Bewegung ging ich nach und bald hatte ich alle meine Leute wiedergefunden.

Ich steuerte den Anfangspunkt eines Kreises mit Schwung an und gab, diesen Anfangspunkt vor Augen, der Fliehkraft nach, die meine Bewegung auf meinen Körper aus-übte.

Diese und andere Bewegungen führen dazu, dass ich die Leute mit den besonderen Eigenschaften wieder aufzufinden vermochte und mit ihnen zu starten konnte: nach Bozen.
Nun waren wir schon auf dem Weg und hatten unterwegs eine Mordsgaudi, auch weil wir in Ermangelung teuerer Fortbewegungsmittel uns meist zu Fuß fortbewegten. Unser Läufer lief halt dauernd voraus und wieder zurück. Er machte den Weg den wir machten zehnfach und öfter. Nun passierte mir folgendes: Da ich seit meiner Kindheit an einer gewissen Anfälligkeit der oberen Atemwege leide, wollte ich mir im Märzwind eine Kappe aufsetzen, die ich ohne achtzugeben aus meiner Jackentasche zog. Ich hatte vergessen, dass dies die Kappe war, mit der ich mich unsichtbar machen konnte, die ich von meinen Vorfahren geerbt hatte. Auf der Stelle war ich für meine Freunde verschwunden, sie hörten zwar noch ab und zu meine Stimme, aber ich wusste selber nicht mehr, wo ich war. Das heißt, ich sah zwar meine Umgebung nach wie vor vor mir, aber ich fand mich selber nicht mehr. Ich konnte nicht mehr handeln wie vorher. Mit einem Mal schien nichts mehr möglich und nach und nach begannen sich die Dinge zu verändern. Die Oberfläche aller Dinge wurde glatter und glatter und dadurch unzugänglicher. Ich traute mich bald an nichts mehr heran und schließlich, als ich ganz genau hinschaute, merkte ich, wo ich gelandet war: "In die Eier" ­ es wurden mehr und mehr, ich bewegte mich inmitten von Millionen Eiern, voller Angst, eine falsche Bewegung zu machen und eines zu zertreten. Ich, der ich ausgezogen war, um für andere einzutreten, war in einer Welt voller Eier gelandet und rührte mich nicht mehr.
Meine Freunde waren zuerst verunsichert und ich hörte noch, wie sie sich fragten, wo ich wohl geblieben sei. Ich merkte auch, dass sie ohne mich nicht mehr so recht wussten, wie sie eigentlich zusammengehörten und ich merkte aus ihren Worten und ihrem Zaudern ihren Zweifel heraus, ob sie nicht vielleicht den forschen Sprüchen eines Hochstaplers aufgesessen seinen, der sich nun abgesetzt hatte, da es in die Nähe des gesetzten Zieles ging.
Ich stand also da und rührte mich nicht. Ich sah, dass meine Truppe den eingeschlagenen Weg fortsetzte, auch wenn sie nicht genau wussten, auf was sie zugingen. Da stand ich, voller Angst, die Eier zu drhängen und voller Angst, nicht dabei zu sein, wenn es sich abspielen würde, voller Angst um die Leute, denen ich Vertrauen eingeflößt hatte, mit denen ich gemeinsam aufgebrochen war und die mir Hoffnung gegeben hatten. Ich wusste, man würde sie aufkrauten, wenn niemand für sie eintreten würde, mochten sie noch so viel draufhaben.
Je mehr ich wartete, desto mehr Eier wurden es. Vor lauter nach mir selber suchen wurde ich immer konfuser inmitten all der Eier. Ich machte den Fehler zu glauben, dass ich mit Hilfe der Tarnkappe leichter aus diesem Schlamassel kommen würde, in die ich gerade durch diese Tarnkappe gekommen war. Als ich mich trotz meiner Angst in Bewegung setzte und prompt einige Eier drhängte, merkte ich, dass ich so meine Freunde nie einholen würde. Ich wollte schneller gehen und da ich auf all die Eier achtete, knallte ich mit dem Kopf gegen einen Baum. Ich war erschüttert, ich griff nach der schmerzenden Stelle und nahm mir die Kappe ab, um besser ertasten zu können, was passiert war. Damit war ich wieder sichtbar und auch die Eier waren mit einem Male weg und ich sah wieder Häuser, Pflastersteine, Geländer von Baugerüsten, Zebrastreifen, Menschen. Schleunigst, noch mit Schmerzen am Kopf und an der Seele suchte ich meine Truppe einzuholen und kurz vor dem Landtagsgebäude stieß ich wieder zu ihnen.

Einmal drinnen fielen wir bald zu sehr auf auf den Zuschauerrängen, und weil wir eine bunte aber nicht unsympathische Truppe waren, wurden wir im Zuge der Bürgernähe nach vorne eingeladen, sozusagen in einem spontanen Akt der offenen Tür.
Der Landeshauptmann sprach nicht mit uns Typen, wohl weil ihm die Sache zu wenig ernsthaft erschien, aber sein Parteisekretär fand es "politically correct" uns zuzuhören.

Als ich dann verkündet hatte, was ich mit meinen Leuten anzubieten hatte, wurde auch der Landeshauptmann (unauffällig) hellhörig.
Ich bot eine Wette an. Ich wettete, dass meine Freunde, jeder auf seine Art, besondere Leistungen vollbringen würden, von denen jede einzelne von allgemeinem Interesse und von allgemeinem Nutzen sein würde.
Ich sagte den verdutzt dreinblickenden Männern und Frauen ins Gesicht, was ich bei ihnen als Wetteinsatz einforderte: Ich verlangte, gesetzt den Fall, dass wir gewinnen, dass die Politiker unseren Jungen von seiner lebenslangen Last befreien und ihm alle seine Märchen abnehmen sollten. Sie hörten sich an, was ich anzubieten hätte, dann war einen Augenblick lang Stille. Schließlich meldete sich der jüngste Landesrat und fragte:
- Und Sie selber, was können Sie eigentlich? Sie treten hier als der große Zampano auf, aber Sie haben uns noch nicht gesagt, was Sie selber anzubieten haben, um diese Wette einzugehen.
Ich schaute, nun meinerseits einen Augenblick still, alle meine Freunde an, dachte an die Geschichte mit der Tarnkappe, an unsere Begegnungen, was diese Begegnungen für mich bedeutet hatten und was für Ideen diese in mir in Gang gesetzt hatten. Dann antwortete ich:
- Ich kann nichts besonderes. Ich bin nur der, der diese Leute kennengelernt hat und sie zusammengebracht hat und ihnen vorgeschlagen hat, hierher zu kommen. Ich bin der, der die Wetten für sie abschließt, damit sie eine Gelegenheit bekommen, zu zeigen, was sie können.
Nun meldete sich der Landesrat für Urbanistik zu Wort. Es war wirklich eine sehr demokratische Truppe, mit der wir da konfrontiert waren. Er sagte:
- Es ist wohl recht und billig, dass wir als Wettpartner auch einen Einsatz fordern dürfen. Wir brauchen zwar nichts von Ihnen, aber wir hören Ihnen gerne zu und wollen sehen, was ihre Leute können. Aber es liegt wohl auf der Hand, dass wir es uns nicht leisten können, zum Narren gehalten zu werden. Ich schlage vor, dass, wenn es sich herausstellen sollte, dass ihre Wetten nichts als billiger Klamauk sind und Sie uns und den Steuerzahlern unsere wertvolle Zeit leichtfertig gestohlen haben, Sie einsehen und selber zustimmen werden müssen, dass man Sie ohne weitere Formalitäten öffentlich als nicht recht zurechnungsfähig ansehen wird dürfen.
Ich schaute ihn an und ich sage euch nicht, was ich dabei dachte. Ich sagte nur:
- Was einem Gott gegeben hat, kann man nicht einsetzen. Aber es steht ihnen frei, mich zu sehen wie Sie wollen. Gehen wir's an.
Ich wettete, dass mein Läufer in einer Stunde eine Kugel vom Atomium in Brüssel holen würde und er schaffte es. Da hieß es aber auf einmal: das hätten wir mit einem Transportflugzeug des IV. Armeekorps auch gekonnt und die Wette wurde als zu leichtgewichtig abgetan. Er brachte die Kugel zurück und holte als nächstes aus Berlin ein Blatt mit dem letzten Gesetzentwurf der deutschen Bundesregierung. Da hieß es auf einmal: heute haben wir ja das Fax und Internet und die Leistung meines Läufers wurde als nicht besonders grandios oder notwendig abgetan.
Nun ging ich aufs ganze: Ich wettete, dass mein Läufer in einer Stunde vom Mond die Unterschrift vom Mann im Mond herbeischaffen würde. Zuerst erntete ich missbillingende Blicke von Leuten, die andeuten wollten, dass sie gewohnt waren, mit wichtigeren Dingen als solchen Narreteien umzugehen und nur aus Rücksicht auf ihren gutwilligen Parteisekretär uns nicht verschicken wollten. Es gelang mir, sie unter Vorbehalt zu überzeugen, dass die Wette kein Scherz sei, da ja jeder heute wisse, dass sich der Mond samt Mann im Mond eigentlich längst in Houston, Texas befinde, der Mond an unserem Himmel nur mehr ein mediales Ereignis sei und seine Phasen feinsinnig gesteuerte Hologramme von Wissenschaftlern, die sich bewusst sind, das Schicksal der Welt in Händen zu halten.

Der Landeshauptmann, jetzt ganz Feuer und Flamme, weil es um die USA ging, gab sofort ein persönliches Empfehlungsschreiben mit, adressiert an jenen berühmten Südtiroler bei der NASA und mein Läufer wetzte los durch Russland und Sibirien bis zur Beringstraße ­ 64 km See, die durch den Golfstrom nie zugefroren sind.
Das hatte ich nicht bedacht. Dort angekommen stand er da und kopfte eine Weile herum. Er durfte laut Wette kein Fahrzeug zu Land, zu Wasser oder in der Luft benützen. Sibirische Fischer kamen hinzu und als sie den seltsamen Mann sahen, wollten sie ihm helfen, natürlich ohne genau zu kapieren, um was es eigentlich ging. Zur Unterstützung gaben sie ihm sie ihm einen Wodka, weil es nebenbei saumäßig kalt war. Wie er nachher erzählte, kam ihm vor, er könne jetzt viel besser denken und ihm war, als ob er der Lösung des Problems näher und näher komme. Noch einen Wodka und noch einen, nur noch einen Schritt bis zur Lösung des Problems. Irgendwann war dann wohl der geringste klare Gedanken weg und er schlief ein.

Mittlerweilen wurde ich in Bozen natürlich ungeduldig. Die Zeit lief ab und ich sah mich schon gebrandmarkt von der Stätte unserer Niederlage gehen. Ich stellte den Mann mit dem riesigen Fernrohr an, nach dem Rechten zu sehen. Als ich hörte, was jener sah, konnte ich es nicht fassen. Unser Mann schlief an der Beringstrasse und drohte zu erfrieren. Ich war mir meiner Sache so sicher gewesen und es schien alles so gut am Laufen ­ und dann das. Vor lauter Zorn und Wut stampfte ich auf dem Platz so stark auf den Boden, dass ich selber erschrak. Die ganze Welt, auf der ich stand schien zu erzittern und siehe da, der Mann mit dem Fernrohr meldete, der Läufer habe begonnen sich zu rühren.
Dieser schüttelte sich, schaute auf die Uhr und erschrak nun seinerseits. Nun nüchterte er so rasend aus, wie er sonst lief. Er blickte sich um, nein, er griff sich um. Jeder Blick war ein Schritt und jeder Handgriff saß ohne Zögern. Er griff sich das Holzfass, aus dem sie den Wodka geleert hatten, zertrümmerte es mit einer Axt und band sich eine Fassdaube an jeden Fuß. Mit diesen altertüm-lichen Ski, mit denen seine Vorfahren auf der Mendel Schifahren gelernt hatten, raste er nun im wilden Skating-Stil über die stille See nach Alaska, der erste wahre und einzige unplugged Wasserschifahrer. Er erreichte in Windeseile Houston.
Doch der Mann im Mond gab nur seinen Fingerabdruck mit. Er schreibt nicht, weil er kein Vertrauen mehr hat zu den Menschen. Als mein Läufer mit diesem Dokument zurück in den Landtag kam, gab der Landeshauptmann den Abdruck sofort zur Überprüfung an die Quästur weiter. Der Bescheid lautete: Der Abdruck ist ­ was unerhört ist und die ganze Wissenschaft der Verbrechensbekämpfung vor neue Fragen stellt (dies nur am Rande erwähnt) ­ identisch mit allen in Europa erfassten Abdrücken und damit vermutlich auch mit den noch nicht erfassten, so eine Art Passepartout-Fingerabdruck.
Aus den Augenwinkeln sah ich einige von den Herren, wie sie unauffällig mit ihren Taschentüchern da und dort darüberwischt, wo sie vermutlich angegriffen hatten. Die erste Wette galt jedenfalls als gewonnen.

Weiters wettete ich:
Mein Jäger mit dem riesigen Fernglas wird nach Rom hinunterschauen und hören, was die dort reden über uns, wenn niemand von Euch Politikern da ist.
Als er gefragt wird, was sie reden, sagt er, sie reden nicht von uns, sie reden übers Essen. Sie reden über die Vorzüge der italienischen Küche gegenüber der französischen: Die Eigenart der italienischen Küche wäre es, die Dinge passieren zu lassen gegenüber sie passieren zu machen. Das Einzige was in der italienischen Küche wirklich zähle, sei das was man ständig in der Hand habe, seien neben den Grundzutaten der Topf und das Feuer.
Die italienische Küche koche mit dem Bauch (wo alles zusammenkommt), die französische mit dem Gaumen (wo alles vorbei muss).
Deshalb müsse diese immer wieder neue Kreationen erfinden, um sich immer wieder aufs Neue zu bestätigen, jene hingegegen begnüge sich mit dem, was sie ist und was sie immer wieder aufs Neue passieren lässt.
Auf diese Nachricht hin hörte ich unterdrücktes Gemurmel von den Politikerbänken und einige liefen zu ihren Plätzen, um Notizen zu machen.

Ich bot weiters die Wette an, dass der Bürger mit dem Sack imstande sei, den gesamten Smog der Stadt Bozen einzusammeln. Obwohl durch die Erfolge der vorausgegangenen Wetten gewarnt, traute niemand dem Mann diese Leistung so recht zu. Grinsen und auch etwas Ungeduld machten sich zwischen den Bänken breit. Du hättest die Leute sehen sollen. Sie nahmen uns noch immer nicht ganz ernst. Sie sahen zwar unsere Erfolge, aber da ihnen durchaus nicht klar war, was diese mit ihrer eigenen Tätigkeit zu tun hatten, erlebten sie alles, was vor ihnen ablief, wie einen wohl lustigen Film. Aber es wurden immerhin Anstalten getroffen, die Wette durchzuziehen.
Während unser Mann zum Bahnhofspark hinunter ging, wurde der Direktor des Amtes für Luft und Lärm gerufen, der mit seinem Notebook per ISDN-Modem die Messstationen in der Stadt anrufen sollte. Gut ausgerüstet, wie der Mann ist, brachte er als er hörte, worum es geht, gleich einen Röhrenprojektor mit und schloss sein Notebook daran an. Alle schauen nun beeindruckt von der modernen mobilen Projektionstechnik gebannt auf die Skalen von CO 2, S, H und O 2 und der Windgeschwindigkeit an der Wand, einige liefen ab und zu zu den Fenstern um zu schauen, was unser Mann drüben machte.
Dieser setzte sich einfach auf eine Bank genauso wie ich ihn damals getroffen hatte, nachdem er seinen Sack daneben hingelegt hatte, streckte seine Füße von sich und tat sonst weiter nichts.
Aber bald gingen auf dem Bild, das der Projektor an die Wand warf, alle Kurven konstant und eindeutig nach unten und das bei einer Windgeschwindigkeit von 0,003 m/s.
Nach beendeter Wette wollten alle wissen, wie das vor sich gegangen sei und ob sich das Experiment an den nächsten Tagen wiederholen lasse.
Aber ich sagte nur, die Wette gelte für diesen Tag und für die Zukunft müssten sie schon selber schauen. Ich betrachtete die Wette als gewonnen und wollte nun das versprochene Wettgelt einfordern.

In diesem Moment wendeten sich fast alle Abgeordneten ab und sagten, sie hätten letzten Endes eh nichts zu sagen und auch die anwesenden Landesräte erklärten sich für nicht zuständig. Lediglich die grüne Abgeordnete erklärte sich bereit, unserem Jungen, der bis jetzt geduldig und gespannt gewartet hatte, ein paar kleine Märchen abzunehmen.
In diesem Moment trat zum ersten Mal der Landeshauptmann in den Vordergrund, nachdem er sich während der gesamten Séance nach der Geschichte mit den USA eher zurückgehalten hatte und erklärte, das werde er schon machen.
- Bringen wir die Sache zu einem Abschluss, denn wir müssen auch einmal weiterarbeiten! Ihr habt uns gut unterhalten und ich übernehme Eure Märchen. Ich habe in diesem Land schon ganz andere Sachen übernommen!

Also fing unser Junge an auszupacken. So wie Mickey Mouse's atomischer Kumpel Eega Beeva holte er ein Märchen nach dem anderen aus seiner Jacke: Rotkäppchen und den Wolf samt Jäger und Großmutter, die sieben Geißlein und schon wieder einen Wolf, den kleinen Däumling, die Pechmarie und ihre fleißige Schwester, auch einen bösen Mus aus dem Land der Kalmücken, eine Frau zu Pferd, die unterwegs war, ihren Mann zu erlösen, Rumpelstilzchen und Schneeweißchen und Rosenrot, jede Menge Zwerge, dazu den Wilden von Pontives samt den zwei Kindern, Rapunzel, die ihr Haar noch ungelöst über die linke Schulter trug, es wurden immer mehr und mehr, dazu kamen Sagen, Legenden und am Ende auch noch Gedichte, die lebendig wurden und den ganzen Landtag anfüllten. Der Wolf ließ die sieben Geißlein in Ruhe, fraß aber sonst auch niemanden, er brunzte nur an einer der vorderen Bänke an die Ecke. Die Frau zu Pferd ritt über die Treppe nach oben und rief mit erhobener rechter Hand:
- Mein Geliebter, ich werde dich retten, habe Vertrauen!
Gänse und Enten schrien durcheinander, auch ein Wildschwein schlüpfte irgendwo durch die Versammlung und bald quollen die Märchen zur Tür hinaus ins Freie.
Da wurde es dem Präsidenten zuviel und er schloss die Versammlung.

 

Wir aber hatten unseres erreicht und zogen von dannen. Der Junge hatte sich wirklich erholt und schien schon aufrechter zu gehen und nach vorne zu blicken. Vor lauter Freude ließ ich ihm in dem Foto-Copy Center am Dominikanerplatz ein digitales Foto machen und in Lebensgröße ausdrucken. Das sollte sich später noch als providenziell erweisen.

Die Märchen indessen waren immer noch da, wo er sie ausgelassen hatte. Sie taten nichts Böses, sie taten halt, was sie sonst so tun im Märchen, nur in einer neuen Umgebung. Die Zwerge blätterten in den Akten auf den Tischen, blickten neugierig unter alle Bänke, die Hexe versuchte, den Landeshauptmann in ein Gespräch zu ziehen, die Wölfe liefen einander nach, andere kletterten an Fensterrahmen und Pflanzen hinauf. Nun merkte auch der Landeshauptmann, dass er dieser leibhaftigen Märchen doch nicht Herr werden konnte und er kam zusammen mit seinem Vize auf die Idee, die Märchen dem Jungen wieder zurückzugeben. Er rief den Busdienst an und gemeinsam packte man die ganzen Märchen in zwei große Reisebusse. Die Märchen wehrten sich nicht gegen den Transport, manche schauten auf der Fahrt zum Fenster hinaus und hatten eine Mordsgaudi, andere ärgerten sich zwar und brummelten vor sich hin, ließen aber mit sich geschehen.
Auf der Suche nach uns kamen sie zuerst ein Stück im Land herum. Sie hielten auch an und die Fahrer und ihre Begleiter hielten nach uns Ausschau. An diesen Haltestellen behielten sie die mitgeführten Märchen nicht so gut im Auge und diese begannen, sich hier und dort selbständig zu machen. Die Frau, die ausgezogen war ihren Mann zu erlösen, machte sich sowieso gleich vor dem Landtag selbständig, an der Haltestelle in Oberplanitzing entkam einer der Wölfe, in Salurn war die Hexe von Hänsel und Gretel weg, diese selber machten sich bei einer Halt in Auer auf den Weg, nach und nach wurden es weniger. Die Fahrer versuchten dennoch ihren Auftrag auszuführen. Irgendein Wirt an der Straße verpfiff uns und so kam es, dass wir als wir Richung Passo Campolongo unterwegs waren, unsere Verfolger von weit unten herauf kommen sahen.
Ich rollte das Bild aus, das ich in Bozen hatte machen lassen und heftete es unserem Läufer auf den Rücken. Zugleich gab ich ihm aus unserer Tasche drei Paar neue Caterpillar mit. Dermaßen ausgerüstet, trug er das Bild unseres Jungen in Windeseile in eine Richtung, während wir uns verborgen hielten, bis die Busse mit den verbliebenen Märchen an uns vorbei waren. Sie folgten unserem Läufer mit dem Bild, ohne ihn einzuholen. Derweil zogen wir in Sicherheit unseres Weges und sangen ein Lied und wanderten und fuhren ins Land.

Kurtatsch, am 12. Jänner 2000

Dein Freund

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