Reinhold Giovanett
Tote Ratten leben länger (Teil 1)

Uhura Message 2

1998

Immer wieder tauchte diese Szene in ihm auf. Wort für Wort erinnerte er sich an das Geschriebene. Aber es war nicht morbide Faszination, es war die Idee zu einem Spiel, das er - früher oder später - in die Tat umsetzen würde.

Es war ein länglicher Drahtkäfig, mit oben einem Griff zum Tragen. An der Vorderseite war etwas befestigt, das wie eine Fechtmaske aussah, mit der Hohlseite nach außen. Obwohl es drei oder vier Meter von ihm entfernt stand, konnte er sehen, daß der Käfig der Länge nach in zwei Abteilungen geteilt war, und in jeder befand sich ein Lebewesen. Es waren Ratten.

Ratten. Ratten sind intelligente Tiere, sehr intelligente Tiere sogar. Sie haben ihre eigenen Regeln, einer Gesellschaftsform nicht unähnlich. Daß dem so ist, macht die Sache nur interessanter.
Als ein Schatten über seine geschlossenen Augen huschte, fluchte er innerlich, er wußte, was ihm jetzt bevorstand. Trotzdem öffnete er die Augen, setzte ein freundliches und möglichst glaubwürdiges Lächeln auf und blickte in das ihm wohlbekannte Gesicht.
"Du warst nicht da?!"
Er hatte die Frage erwartet, hatte aber noch keine Antwort darauf, und so kam ihm lediglich ein "Nein! War ich nicht!" über die Lippen. Das Schweigen seines Gegenübers bedeutete, daß diese Antwort nicht genügte. Wiederum schossen ihm Flüche durchs Gehirn. Trotzig und des Risikos bewußt, lieferte er keine weitere Erklärung für seine Abwesenheit.
"Es ist bereits das zweite Mal innerhalb einer Woche?!"
Wieder diese aufdringliche Frage, die gar keine Frage war, die vielmehr Vorwurf, Drohung und offene Verachtung zugleich war.
"Ja, das zweite Mal, ich weiß."
Er wunderte sich, wie ruhig und kaltschnäuzig er diesem seit langem gefürchteten Moment begegnete. Kein Angstschweiß, kein Stottern, kein unbeholfenes Suchen nach mehr oder weniger plausiblen Ausreden.
Der in Schwarz gekleidete junge Mann schaute kurz in die Sonne und wandte ihm wieder den Blick zu. Er schwieg, schwieg für kurze Zeit, gerade so, als wollte er ihm noch einmal eine Chance geben. Dann:
"Morgen mittag beginnt die Feier für Pietro Tresassi. Du kennst ihn. Kommst du?"
"Morgen mittag ... natürlich werde ich kommen."
Skeptische Blicke trafen ihn wieder, Blicke, aus denen aber auch die Verachtung zu verschwinden scheint.
"Das freut mich. Wirklich."
Der junge Mann wendet sich ab und verläßt den sonnendurchfluteten Innenhof.
Verflucht ... denkt er ... verflucht, verflucht, verflucht!
Er stand auf, dachte an die Ratten im Käfig, an die Mechanik des Käfigs und an das "Klick", das der definitive Beweis für die Funktionalität dieser ebenso einfachen wie fatalen Mechanik war.

Die Kreisöffnung der Maske war jetzt groß genug, um alles andere aus dem Gesichtskreis auszuschließen. Die Drahttüre war zwei Handspannen von seinem Gesicht entfernt. Die Ratten wußten, was nun kommen würde. Eine von ihnen sprang auf und ab, die andere, ein alter schuppiger Großvater aus den Kloaken, richtete sich mit ihren rosa Pfoten an den Gitterstäben auf und schnupperte wild in die Luft.

Ein leichtes Lächeln überflog sein Gesicht, als ihm wieder der Abschnitt aus dem Buch in den Sinn kam. Er sollte endlich mit dem Bau des Käfigs beginnen. Hunderte Male hatte er in Gedanken jeden Handgriff durchgespielt. Und er war sich sicher, daß er ohne große Schwierigkeiten diesen Käfig bauen konnte. Während er gedankenverloren den Innenhof durchquerte, um ihn wie der in Schwarz gekleidete junge Mann zu verlassen, traf er den Entschluß, sein Vorhaben in die Tat umzusetzen. Heute noch wollte er beginnen.

Einige Häuser weiter hatte sich die Menschenmenge bereits aufzulösen begonnen. Eine schöne Feier war es gewesen. Ganz so, wie es sich Stefano Cordo gewünscht hatte.

Seit einigen Wochen schon hatte er sich all die Sachen zurechtgelegt, die er für den Bau des Käfigs benötigen würde. Sogar ein Nest mit Ratten hatte er ausgemacht, und er hätte, wenn er gewollt hätte, zwei davon bereits fangen können. Nun, was sollte er mit den Ratten ohne Käfig? Immer wieder war er zu dieser Frage gekommen, und immer wieder lachte er dabei. Die zwingende und tödliche Verbindung von Ratten und Käfig hatte etwas Irrwitziges an sich. Beides scheint voneinander getrennt unvollständig zu sein, nur beide zusammen wären perfekt. Eine Perfektion, die durch das "Klick!" erst ihren endgültigen Wert bekommt.

Sie verstehen die Konstruktion dieses Käfigs. Die Maske paßt über Ihren Kopf, so daß kein Durchschlupf bleibt. Wenn ich auf diesen anderen Hebel drücke, schiebt sich die Käfigtüre auf. Diese vor Hunger fast wahnsinnigen Scheusale werde wie Geschosse daraus hervorschießen. Haben Sie je eine Ratte durch die Luft springen sehen? Sie werden Ihnen ins Gesicht springen und sich sofort einen Weg hindurch bahnen. Manchmal greifen sie als erstes die Augen an. Manchmal wühlen sie sich durch die Wangen und zerfressen die Zunge.

"Klick!"
Er versuchte sich den Klang der Entsicherung vorzustellen und die Zeitspanne zwischen jenem Augenblick, in dem die Ratten bemerken, daß sich die Tür geöffnet hat, und dem Moment, an dem sie auf das Gesicht zuspringen, in Zeitlupe zu durchdenken, nachzuvollziehen, die Gedankenfolge der Ratten, so einfach sie auch sein mögen, mitzuverfolgen. Mit diesen Gedanken hatte er sich letzthin über Wasser gehalten. Für ihn war es ein Spiel, eine faszinierende wie fatale Theorie, die er ausprobieren wollte. Daß "probieren" dabei das falsche Wort war, darüber machte er sich lange Zeit selbst etwas vor. In Wirklichkeit hatte sich das Vorhaben längst in seinen nächtlichen Träumen realisiert, ein Vorhaben, das über den Bau des Käfigs hinaus ging, ein Vorhaben, bei dem dieser Käfig und die beiden Ratten, die er heute nacht noch in ihrem Nest in der Kanalisation unterhalb des Bürokomplexes etwas außerhalb der Stadt heimsuchen wird, zur Waffe werden.

(Februar 1998)

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