Reinhold Giovanett
Zweifach gefangen oder: Die beste Zenzi, die es je gab/Uhura 5


Uhura Message 5

2000


Der Käfig von Zenzi
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Ein "altes Weib" wird von
den Müllern zur Verjüngungs-
kur hochgezogen
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Egetmann-Umzug in Tramin,
Dienstag, 27. Februar 2001
Foto: Andrea Lüpke

Stolpernd und völlig außer Atem blieb Haspinger auf der kleinen Lichtung am steilen, felsigen Abhang stehen. Endlich sah er sein Ziel vor sich. Der Rauch, der aus einigen Kaminen stieg, zog schwerfällig über die Ziegeldächer von Tramin. Obwohl es hier keinen Schnee gab, protzte der Winter immer noch mit kalter und feuchter Luft. Haspinger ging in die Hocke. Er mußte sich ausruhen, für einige kurze Minuten. Vor einer knappen halben Stunde noch, war er gelassen auf dem Balkon eines Bauernhofes außerhalb von Graun gesessen. Vor zwei Tagen hatte er sich dort ­ unter falschem Namen und als Stoff suchender Autor getarnt ­ ein Zimmer genommen. Vor zwei Tagen war er sich noch sicher gewesen, für einige Wochen ein gutes Versteck gefunden zu haben. Kurz nach dem Mittagessen hatte er sich ­ wie auch am Tag zuvor ­ auf den Balkon begeben, um sich gedankenversunken seiner Nikotinsucht hinzugeben. Graun ist ein kleines Dorf, das auf einem Hochplateau oberhalb von Kurtatsch liegt ­ ideal für ein Versteck. Die Möglichkeit, vom Balkon dieses abgelegenen Bauernhofes aus über das gesamte Tal blicken zu können, war einer der Gründe, die ihm die Entscheidung für diese Unterkunft leichter gemacht hatten. Haspinger war sehr menschenscheu gewesen letzthin. Mit gutem Grund, wie er sich fluchend selbst eingestand. Zwei Tage Ruhe hatten aber nicht genügt, um die Alarmbereitschaft zu dämpfen, in der er sich seit Wochen befand. So war das ferne Dröhnen, das langsam an Intensität gewann, Anlass genug, ihn ins Zimmer verschwinden zu lassen. Haspinger nahm sich nicht die Zeit, darüber nachzudenken, was er mitnehmen sollte. Er griff sich eine Jacke, zog sie sich über und während das Dröhnen deutlich lauter geworden war, hatte er das Haus bereits verlassen und sich in den nahe gelegenen Wald geschlagen. Dort, wo das Hochplateau mit einer steilen Felswand abfiel, tauchten zwei Hubschrauber wie aus dem Nichts auf und steuerten auf die freie Wiesenfläche zu, die den Bauernhof umgab. Haspinger sah nicht mehr, wie jeweils fünf bewaffnete Männer mit Hunden aus den Hubschrauber sprangen, das Haus umzingelten und wie sich ein Offizier vor seinem Zimmervermieter aufbaute, um eine Hausdurchsuchung anzukündigen und auf relativ brutale Weise durchzuführen.

Haspinger hatte sich sehr schnell für ein Ziel entschieden: Er mußte hinunter ins Tal, er mußte unter die Leute. Dadurch würde er Zeit gewinnen und die Möglichkeit, seine Spuren wieder verschwinden zu lassen. So kam es ihm gerade recht, daß er, dem Gefälle folgend, schließlich auf einen Schotterweg gelangte, der mit leichtem Gefälle quer durch den Wald zog. Es war klar, daß er nicht lange auf diesem Weg bleiben konnte. Die Hubschrauber würden nicht mehr lange auf sich warten lassen, und die Schneise, die dieser Weg durch den Wald zog, bot zu wenig Schutz. Haspinger war etwa 10 Minuten gerannt, als er ein unscheinbares Schild mit der Aufschrift Tramin sah, das rechts in den stark abfallenden Wald wies. Es war offensichtlich ein wenig begangener Steig und für einfache Wanderer wohl zu beschwerlich. Ein gutes Zeichen, dachte sich Haspinger und stürzte sich auf den schmalen, kaum auszumachenden Weg nach unten. Mehrmals rutschte er aus, stolperte, konnte sich nur mit großer Mühe an einigen Sträuchern festhalten und schließlich seinen Weg fortsetzen.

Jetzt stand er hier, blickte auf die Dächer von Tramin und dachte darüber nach, was er, erst einmal im Dorf angekommen, wohl tun würde. Das dreifache Schlagen der Glocke riß ihn aus seinen Gedanken und trieb ihn weiter talwärts. Knappe 10 Minuten später mündete der abschüssige Steig durch das Gestrüpp erneut in eine Schotterstraße. Haspinger wandte sich instinktiv nach links, und schon bald tauchte das erste Haus vor ihm auf. War er bisher gerannt, bremste er nun seine Schritte. Er wollte keine Aufmerksamkeit erwecken, gab sich als einfacher Wanderer.
Die Hunde seiner Verfolger hatten seine Spur längst ausgemacht und auch sie kämpften sich hektisch durch das Gestrüpp talwärts. Einer der Hubschrauber zog einen weiten Kreis über Tramin und ging irgendwo in der Talsohle zu Boden. Haspinger wußte, daß sich die Schere schon sehr bald schließen würde, aufgeben wollte er trotzdem nicht.

Wieder mündete der Weg in eine breitere Straße: Würde er nach links gehen, würde er ganz offensichtlich das Dorf verlassen. Seinem ursprünglichen Plan folgend, wandte er sich also nach rechts, hoffend, schon sehr bald in den engen Straßen von Tramin Zuflucht zu finden. Haspinger war bisher zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, und bemerkte erst jetzt, daß er nicht mehr alleine auf dieser Straße war. Er war verwundert, daß sich an einem einfachen Wochentag doch etliche Familien zum Spaziergang aufgemacht hatten. Der Anblick von verkleideten Kindern machte ihn zuerst stutzig, doch schließlich erklärte er sich dieses Treiben mit irgendeiner schulbedingten Veranstaltung, und er nutzte die Gelegenheit, in gebrochenem Deutsch nach dem kürzesten Weg nach Tramin zu fragen. Eine junge Frau verwies ihn auf eine Treppe, die gleich neben dem Kirchlein, das oberhalb von Tramin auf einem Hügel thronte, direkt ins Dorf führen sollte. Haspinger bedankte sich und folgte dem Ratschlag: Am Kirchlein vorbei, stieg er eine breite Treppe zwischen Weinbergen hinab, gelangte in eine ziemlich enge Gasse und stieß schließlich auf die menschendurchflutete Straße, die Tramin durchzog. Der zunehmende Lärm hatte Haspinger bereits darauf vorbereitet, daß er eine Menschenmenge zu erwarten hatte. Doch das, was sich jetzt vor seinen Augen auftat, ging über seine Erwartungen hinaus. Die Straße war überfüllt mit Leuten. Und jetzt waren die Kinder nicht mehr die einzigen, die sich verkleidet hatten. "Fasching", blitzte es Haspinger durch den Kopf und er konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Nach all den Jahren, die er als Agent verbracht hatte, erinnerte er sich wieder an die eigene Kindheit und an diesen Höhepunkt im Jahresablauf. Die Menschenmenge war zudem der beste Schutz vor seinen Verfolgern und so drängte er sich zwischen die dichtgedrängten Reihen dieser fröhlich vor sich hin plappernden Menge. Daß es sich hierbei nicht um ein einfaches Straßenfest handelte, bemerkte Haspinger schon sehr bald. Haspinger spürte die Erwartungshaltung, die in der Luft lag. Als sich die Leute zur Seite zu drängen begannen, um die Straße freizumachen, war klar, daß hier irgendetwas vorbeiziehen würde. Haspinger wollte die Gelegenheit nutzen und sich einen Überblick über die Situation schaffen. Seine Verfolger hatten die örtliche Polizei bestimmt schon auf ihn angesetzt, und es war anzunehmen, daß die Polizei, bei derartigen Veranstaltungen zwar im Hintergrund, aber doch sehr zahlreich präsent sein würde. An einer kleinen Seitenstraße in Richtung Dorfausgang bemerkte Haspinger bereits einen ersten Posten, an einigen Punkten des großen Platzes, auf dem riesige, drachenähnliche Ungeheuer lärmend zwischen den Leuten tanzten, konnte er vereinzelt weitere Polizisten ausmachen. Es würde nicht mehr lange dauern, bis das Dorf völlig umstellt war und die Ordnungshüter die Information erhielten, ihn, den flüchtigen Agenten, zu suchen. Haspinger war noch unentschlossen darüber, ob diese Menschenmenge nicht sein Verhängnis würde. Doch je länger er darüber nachdachte, desto überzeugter war er davon, daß er von hier weg mußte. Soweit er bisher erkennen konnte, war er am Ausgang des Dorfes. Die Menschen drängten in die Straße, aus der er kam, und wenn an dieser Stelle auch einige Straßen zusammenführten, so war trotz herbeiströmender Leute doch zu erkennen, daß hier auch das Ende dieser Menschenansammlung war. Weiter hinten setzte sich ein Zug großer Wagen in Bewegung und ein Raunen ging durch die Menge, die sich unverzüglich teilte, um den bisweilen ziemlich verrückt ausgestatteten Fahrzeugen den Weg frei zu machen. Haspinger hatte jedoch keine Zeit, sich das Treiben näher anzusehen. Er war zunehmend nervös geworden. Sein Blick suchte nach einer Möglichkeit, ungesehen von hier wegzukommen. Langsam und ganz beiläufig, hatte er sich vom Getümmel wegbewegt und hatte sich die breiteste, nach unten führende Straße als Fluchtweg ausgewählt, als ihm ein mit Blaulicht bestücktes Auto mit verhaltener Geschwindigkeit entgegenkam.

Haspinger drehte sich um, ging wieder zurück Richtung Menschenmenge und konnte förmlich sehen, wie die Polizisten mit einem Stapel Fotos in der Hand aus ihrem Auto stiegen, sie ihren Kollegen übergaben und diese mit dem Befehl vertraut machten, diesen Mann, ihn, zu finden und zu fassen. Haspinger spürte förmlich, wie die Falle zuschnappte, aber er spürte auch die Wut, die in ihm in solchen Situationen immer wieder aufstieg und ihn in eine perfekt funktionierenden Maschine verwandelte. Angespannt, aber aufmerksam drängte er sich wieder zurück in die Straße. Ein in tiefstem Schwarz geschminktes und mit alten Fetzen bekleidetes Pärchen rannte an ihm vorbei, drehte plötzlich und kam auf ihn zu. Einer der beiden schrie mit überkippender Stimme "Ayayay" und schmierte sichtlich erfreut dem verblüfften Agenten schwarzes Zeug ins Gesicht und rannte, den mit drei Schweinsblasen behängten Stock schwingend weiter. Haspinger reagierte nicht. Er hatte dieses Treiben bereits mehrmals beobachtet und es konnte ihm nur Recht sein, wenn sich sein Aussehen jenem der ihn umgebenden Menschen anglich.

Haspinger kam nur sehr langsam voran. Immer wieder drängten neue Wagen die Leute zur Seite, machten ein Vorbeikommen unmöglich und immer wieder rannten verkleidete Gestalten durch die Menschenmenge, die wiederum zurückschreckte, auswich, versuchte davonzulaufen. Als Haspinger wieder in die Nähe jenes Polizisten gelangte, den er vor kurzem passiert hatte, bemerkte er die erhöhte Aufmerksamkeit, mit der dieser die Leute beobachtete, die an ihm vorbeizogen. Glücklicherweise versperrte dem Polizisten ein großer weißer, von Müllern besetzter Wagen gerade dann die Sicht, als er in Haspingers Richtung blickte. Es mußte etwas geschehen, sonst würde sich die Schlinge immer enger um ihn ziehen, bis er sich schließlich darin verfing. Im Schutz des weißen Wagens schaffte es Haspinger nicht nur, an dem einen Polizisten vorbeizukommen, sondern er hatte auch die Lösung für sein Dilemma gefunden. Haspinger hatte nämlich eines der Spiele, die ganz offensichtlich Teil dieses Umzugeswaren, erkannt: Als alte Frauen, als heruntergekommene Weiber verkleidete Männer wurden von den Müllern gejagt, eingefangen, mit einer Seilwinde am Wagen hochgezogen und schließlich durch ein Loch in das Innere des Kastenwagens geworfen. Das konnte seine Rettung sein. Haspinger mußte sich nur von diesen Müllern fangen lassen.

Was Haspinger nicht wußte, war zweierlei. Zum einen entschwanden die gefangenen Weiber durch eine versteckte Luke im Boden des Wagens immer wieder, um sich erneut unter die Leute zu mischen, zum anderen gab es ein ganz besonderes Weib, die so genannte "Zenzi", die, so sah es der Ablauf dieses Umzuges seit Jahrhunderten vor, nach einer spektakulären Jagd auf dem Dorfplatz als Letzte gefangen und den Wagen hochgezogen wurde. Mit dem Abschluß dieser Jagd würde der Umzug beendet sein. Die "Zenzi" war in ihrer Besonderheit auch entsprechend gefährlich und als solche ­ und als einzige ­ in einem grob aus armdicken rohen Baumstämmen gezimmerten Wagen gefangen. Erst am Dorfplatz sollte es ihr gelingen, sich zu befreien.

Haspinger hatte sich inzwischen vom weißen Wagen entfernt und konzentrierte sich nun darauf, eine dieser Figuren selbst zu fangen, um sich ihrer Verkleidung zu bemächtigen und sich fangen zu lassen. Just an der Ecke jener engen Gasse, aus der er in diese Straße gelangt war, sah er eines dieser Weiber schwankenden Schrittes verschwinden. Ein kurzer Blick genügte, um festzustellen, daß sich dort noch kein Polizist befand. Haspinger setzte seinem Opfer nach. In eine Ecke zurückgezogen, ruhte sich das "Weib" offensichtlich von einer strapaziösen Jagd aus. Haspinger nutzte die Gelegenheit, sein Opfer mit einem gekonnten Kinnhaken bewußtlos zu schlagen. Gehetzt von der Angst, von vorbeikommenden Personen entdeckt zu werden, entledigte sich Haspinger seiner Kleidung und zog sich jene des vor ihm Liegenden über. Haspinger nahm sich noch die Zeit, den bewußtlosen Mann zu knebeln, zu fesseln und hinter einem Gestrüpp zu verstecken ­ wenn er konnte, versuchte er stets ungewollten Überraschungen und zu vermeidenden Zufällen aus dem Weg zu gehen. Diese Aktion hatte keine fünf Minuten gedauert, und als Haspinger mit seiner neuen Verkleidung wieder nach unten lief, hatte er kaum Zeit, sich gedanklich mit dem Polizisten zu beschäftigen, der an der besagten Ecke stand. Ein Müller hatte ihn gesehen, machte mit einem Schrei zwei weitere auf ihn aufmerksam, und Haspinger konnte nicht umhin, seine neue Rolle möglichst glaubwürdig zu spielen. Rempelnd rannte er durch die Menschenmenge, wich einigen weiteren Müllern aus und wurde schließlich von vier starken Händen an den Armen gepackt, in einen Schubkarren geworfen und zum großen weißen Wagen gekarrt. Ohne allzu große Vorsicht wurde ein Gurt um seine Hüfte geschnallt und mit einigen heftigen Zügen wurde Haspinger hochgezogen, von den auf der Brücke wartenden Müllern wiederum gepackt und in ein Loch am oberen Ende des Wagens geworfen.
Haspinger hatte sich soweit gewehrt, wie er es kurz vorher von anderen Weibern gesehen hatte und war froh, als er, aufgefangen von einigen weichen Matratzen, in das Innere des Wagens fiel. Haspinger war nicht allein im Wagen. Zwei andere Weiber ruhten sich gerade etwas aus und ein halbes Dutzend junger Mädchen ­ auch hier handelte es sich um verkleidete Jungen, wie generell sämtliche Figuren dieses Umzugs von Männern dargestellt wurden ­ wartete darauf, immer dann aus einer Tür zu schlüpfen, wenn ein altes Weib "herunter kam".

Der Lärm der Leute vor dem Wagen, das Rumpeln der mit einem weiteren Weib kämpfenden Müller auf der Brücke, das Lachen der Mädchen, das alles machte auf Haspinger einen recht bizarren Eindruck. Einer der beiden anderen "Weiber" reichte Haspinger eine Flasche Wein zum Trinken, stand auf und entschwand durch eine seitliche Öffnung in der Wagenwand. Haspinger wurde bewußt, daß er dieses Spiel wohl einige Male durchspielen mußte, wollte er nicht auffallen. Doch er fand auch Gefallen an seiner neuen bizarren Rolle, zumal sie ihm als das sicherste Versteck vor seinen Verfolgern schien, solange er diese Rolle nur gut spielte. Nachdem ein weiteres Weib erschöpft durch die Luke geflogen kam, wollte auch Haspinger wieder ins Freie entfliehen, gerade, als der Wagen an einer äußerst engen Stelle angelangt war und zum Verladen weiterer Weiber angehalten hatte. Haspinger zwängte sich nach vorne, lief aus der engen Gasse hinaus und konnte am Ende einer breiten, ansteigenden Straße den Dorfplatz ausmachen. Die Drachen, die er vorhin bereits bemerkt hatte, führten wieder ihren Tanz auf und während er sich seinen Weg durch die Menschenmenge bahnte, entschloss er sich, seine neu erlangte Bewegungsfreiheit zu nutzen, um ein erneutes Mal die Situation zu prüfen. Obwohl ihm wieder einige Müller nachjagten, gelang es ihm nicht nur, diesen immer wieder zu entkommen, sondern auch, nachdem er den von Menschen völlig überfüllten Dorfplatz erreicht hatte, festzustellen, daß dieser von der Polizei gänzlich abgeriegelt worden war. Offensichtlich lag den Gesetzeshütern etwas daran, eine Massenhysterie zu vermeiden. Aber ebenso offensichtlich war, daß seinen Verfolgern sehr viel daran lag, ihn zu fassen zu kriegen. Es war anzunehmen, daß sich auch diese in Zivil unter die Leute gemischt hatten. Haspinger mußte seine Rolle zu Ende spielen, auch wenn er nicht wußte, wie er dies schaffen sollte, ohne sich zu verraten. Haspinger lief wieder zurück, an der Kirche vorbei, Richtung weißer Wagen. Er wollte sich wieder fangen lassen, wollte in einem unbemerkten Moment eines der kleinen Mädchen fragen, wie der ganze Zauber wohl enden würde, da ihm schien, daß dieses wohl kaum Verdacht schöpfen würde, wenn er die Frage schlau genug stellen würde. Als er auf den von einem Traktor gezogenen Wagen zulief, konnte er an der Vorderwand die Aufschrift "Altweibermühle" lesen. Anscheinend war es eine Verjüngungskur, der diese alten Weiber unterzogen wurden. Als Haspinger am Wagen vorbeirannte, um auf sich aufmerksam zu machen, war eine Gruppe von Müllern gerade dabei, ein besonders widerspenstiges Weib den Wagen hochzuziehen. Hinter dem großen weißen Wagen stand, ebenfalls von einem Traktor gezogen, ein grobgezimmerter Käfig auf zwei großen Rädern. Haspinger, der jetzt tatsächlich zwei Müller auf den Fersen hatte, hatte ihn zuvor nicht bemerkt. Der Käfig war leer und als er von den Müllern gepackt wurde, bemerkte er, wie die beiden ihn zu diesem Käfig drängten und ihn schließlich dazu brachten, sich darin einsperren zu lassen. Einer der beiden Müller hatte etwas von Verletzung gesprochen und Haspinger war es, als hätte er "Mach du das!" verstanden. Immer die Angst im Nacken, sich durch Fehlverhalten zu verraten, ergab er sich auch dieser Rolle, sah wie das hölzerne Gitter zuschlug und spürte den Ruck, mit dem sein Karren wieder vorwärts gezogen wurde. Der Blick der Leute, an denen er vorbeigezogen wurde, hatte sich jetzt geändert. Es war nicht mehr diese erfreute, vielleicht auch gespielte Angst, die er vorher aus ihren Augen gelesen hatte. Jetzt waren es betonte Zurückhaltung und angstvoller Respekt, aber auch provozierender Spott. Jedesmal, wenn er sich bewegte, zuckten die ihm am nächsten stehenden Leute erschreckt zurück. Der Käfig war dunkel, weil er zum Teil mit Zweigen verdeckt worden war. Durch diesen Umstand, und durch die Tatsache, daß er sich mit der schwarzen Farbe sein Gesicht gänzlich verschmiert hatte, war Haspinger auch in gefangenem Zustand von den Polizisten nicht zu erkennen. Immer wieder wurden ihm von draußen Becher und Flaschen mit Trinkbarem und weniger Trinkbarem gereicht. Haspinger nahm jedesmal einen Schluck davon, spuckte das eine oder andere auch aus und machte sich daran ­ wohl annehmend, daß dies seine Rolle auch vorsehen würde ­ die Leute durch plötzliches Aufspringen und vereinzelte Schreie zu erschrecken. Er hatte auch versucht, die Stärke der Gitterstäbe zu testen, indem er daran rüttelte. Haspinger wollte wissen, ob es im Fall der Fälle eine Möglichkeit geben würde, aus diesem Gefängnis auszubrechen. Aber die Macher dieses Käfigs hatten ihr Handwerk verstanden. Zu heftiges Rütteln brachte höchstens den Wagen zum Umstürzen.

Als der Tross schließlich am Dorfplatz angelangt war, stand Haspingers Käfig erst eine Weile ohne Aufsicht etwas abseits. Wieder mußte Haspinger feststellen, daß er nur durch ein Wunder aus der polizeilichen Absperrung entkommen konnte. Haspinger bemerkte, daß sogar Kleinfamilien, die sich anschickten wegzugehen, von den Wachposten eingehend kontrolliert wurde. Haspinger begann unbewußt an den Stäben zu rütteln und versuchte seiner Wut auf diese Weise Herr zu werden. Ein kleiner Junge hatte sich dem Käfig genähert und sich am Gitter zu schaffen gemacht. Die Müller jagten immer noch verstreuten Weibern nach, die, das hatte auch Haspinger bemerkt, immer weniger wurden. "Jetzt kannst du raus Zenzi!" hat der Junge noch gesagt, und war angesichts des wütenden Blickes von Haspinger erschrocken zurückgewichen. Haspinger stieß mit seinen Füßen wieder an die Gitterstäbe und bemerkte schließlich, daß die Tür offen war.
Was jetzt? Er war frei? Sollte er raus? Mußte er raus? Haspinger brauchte keine Sekunde für die Entscheidung. Geschmeidig rutschte er aus dem viel zu engen Käfig, atmete tief durch und spürte anstatt der Holzstäbe jetzt das Gefängnis, das die Polizei und seine Verfolger um ihn gezogen hatte, unsichtbar für die anwesenden Menschen. Für einen kurzen Augenblick stand Haspinger vor dem Käfig, er drehte sich um und sah aus dem Augenwinkel, daß sich zwei weiße Gestalten in seine Richtung bewegten. Die Jagd war wieder offen. Diesmal jedoch, durfte er sich nicht fangen lassen, denn er wußte nicht, was ihm danach bevorstand. Andererseits, die einzige Möglichkeit aus Tramin hinauszukommen, war, Tramin als Weib ­ als "Zenzi", wie ihn der Junge genannte hatte ­ zu verlassen. Haspinger wollte nicht gefangen werden und so begann eine Jagd, von der Tramin noch Jahre danach sprechen würde. Die Jagd der Zenzi war, das wußte Haspinger nicht, in groben Zügen abgesprochen und irgendwann, wenn die Zenzi ihre physischen Grenzen erreicht hatte und dem Publikum eine stets spannende Flucht geboten hatte, fiel sie unwillkürlich den zahlreichen Müllern zum Opfer, die sie ­ die sich bis zum letzten wehrte ­ doch noch der Verjüngungskur unterzogen und sie durch das Loch warfen, sie, "die nicht jung werden wollte". Haspinger wußte auch nicht, daß dies der Höhepunkt des gesamten Umzugs war und daß mit dem Ende dieser Jagd der Wagen das Dorf verlassen würde. Haspinger wußte das nicht und reagierte wie er in all seinen Ein-sätzen bisher reagiert hatte. Er wollte sich nicht auf sein Glück verlassen.

Wie ein wildes Tier lief er, dicht gefolgt von einigen Müllern, über den Platz, den Treppenaufgang zum Rathaus hoch, stieg auf das steinerne Geländer und sprang in den großen Kastanienbaum. Das Publikum raunte erstaunt. Der weiße Wagen stand in der Nähe eines dicken Astes, der über den Platz ragte und Haspinger sprang von diesem Ast auf die Brücke. Die dort stehenden Müller waren im ersten Moment zu verdutzt, um zu reagieren und versäumten somit die erste Gelegenheit, Haspinger zu schnappen. Dieser schwang sich über das Gitter, das den Platz auf der "Altweibermühle" begrenzte, hielt sich mit beiden Händen daran fest und knallte mit den ganzen Körper an die Außenwand des weißen Kastens. Er ließ sich fallen und lief den nahegelegenen Treppenaufgang hinauf, die dort stehenden Leute bestimmt, aber doch ohne sie zu gefährden, beiseite drängend. Haspinger wußte, daß dem Publikum nichts passieren durfte ­ es durfte kein Blut fließen, sonst würde die Polizei einschreiten. Fluchend stellte er jetzt nicht nur fest, daß mehr Müller hinter ihm her waren, als ihm lieb war, sondern daß die Treppe in ein Haus führte. Das Haus wurde traditionellerweise als Beobachtungsposten von Besuchern des Umzuges in Tramin dazu verwendet, von den Fenstern aus dem ersten und zweiten Stock das Treiben auf dem Dorfplatz mitzuverfolgen. Dadurch waren glücklicherweise nicht nur sämtliche Türen, sondern auch alle Fenster offen. Obwohl Haspinger kurz darauf gehofft hatte, durch einen Hinterausgang zu entweichen,und einfach zu verschwinden, schienen die Müller diese Aktion vorhergesehen zu haben und trieben ihn in den zweiten Stock. Dort gelangte er in ein Zimmer mit den Fenstern zum Dorfplatz. Die Leute, die bis vor kurzem an diesen Fenstern gelehnt hatten, wichen erschrocken zurück. Haspinger warf einen kurzen Blick aus dem Fenster, kletterte hinaus und schaffte es, bis zum vorstehenden Gitterfenster des ersten Stockwerks hinunterzuklettern. Die Müller, die ihm gefolgt waren, wagten es nicht, es ihm gleich zu tun, machten kehrt und liefen wieder nach unten. Einige wenige Müller wollten Haspinger bereits in Empfang nehmen, doch dieser war flink zum nächsten Gitter geklettert, sprang von dort auf den Boden und überquerte, diesmal laufend, den Dorfplatz. Verzweifelt suchte Haspinger nach einer neuen Fluchtmöglichkeit, aber es bot sich ihm keine. Auch wenn er den Müllern, die langsam wieder alle hinter ihm her waren, in der Menge für eine Zeit lang ausweichen konnte, so würden sie ihn früher oder später zu fassen kriegen. Nach einigen spektakulären Aktionen gelang es ihm schließlich, von einer Rampe aus auf einen der vier Kastanienbäume zu springen, die den Dorfbrunnen säumten. Unwillkürlich begann die Menschenmenge zu jubeln und ihn mit "Bravo!"-Rufen anzufeuern. Die Müller, sichtlich nervös, weil die Jagd schon viel zu lange dauerte, umkreisten den Brunnen. Haspinger war definitiv in einer Sackgasse. Als einige der Müller ebenfalls auf den Baum kletterten, versuchte Haspinger über einen Ast zum daneben stehenden Kastanienbaum zu gelangen. Doch der Ast war zu dünn und Haspinger schaffte den Sprung nicht mehr, zumal ein Müller bereits zu nahe war. Krachend begann der Ast zu brechen und Zenzi samt Müller landeten im kalten Wasser des halbgefüllten Dorfbrunnens. Beob- achter der Szene konnten später nicht mehr feststellen, ob das darauffolgende Lachen der umstehenden Leute den Applaus übertönte oder umgekehrt. Fest steht, daß die Müller ihre Chance nutzten und Haspinger an Armen und Beinen packten und ihn zum Wagen schleppten um das Ritual zu Ende zu führen. Doch Haspinger, der sein Ende gekommen sah, gelang es noch einmal auszubrechen, noch einmal konnte er den Müllern ein Schnippchen schlagen und noch einmal brachte er die Menge zu einem staunenden und gleichzeitig anerkennenden Raunen. Doch schließlich gewann die Überzahl der Müller. Haspinger war zu Tode erschöpft. Erst als er den Gurt, mit dem er hochgezogen werden sollte, um sich spürte, kam er wieder zu sich, wehrte sich erneut äußerst vehement und es dauerte extrem spannende und für die Müller ebenso anstrengende 15 Minuten, bis sie ihn schließlich durch das Loch in das Innere des Wagens werfen konnten. Während draußen tosender Applaus anhob und sich die Müller den Schweiß von der Stirn wischten, lag Haspinger regungslos mit dem Gesicht nach unten auf der Matratze im Inneren des Wagens. Respektvoll ließen ihn die anderen Weiber liegen. Während Haspinger wieder neue Kräfte sammelte, dachte er bereits darüber nach, wie er sich jetzt verhalten sollte. Als plötzlich der Wagen mit einem Ruck anrollte, sah Haspinger eine neue Hoffnung. Bisher hatte ihn niemand erkannt. Niemand hatte noch danach gefragt, wer er sei und wahrscheinlich hielten sie ihn durch seine Kleidung für jenen, der geknebelt immer noch im Gestrüpp weit ab vom Dorfplatz lag. Haspinger wollte sich diese letzte Chance nicht entgehen lassen. Gespannt hörte er auf die Geräusche, die von draußen kamen, versuchte herauszufinden, wann wohl die beste Gelegenheit war, aufzuspringen und den Wagen durch die Seitentür zu verlassen. Als das Gefährt nach wenigen Minuten langsamer wurde und auch der Lärm von angeheiterten Umzug-Besuchern abgenommen hatte, richtete sich Haspinger plötzlich auf, sprang zur Seitentür und verließ unter den erstaunten Blicken der anderen Weiber den Wagen. Einmal draußen, blickte er sich um, sah in die Richtung, aus der der Wagen gekommen war und bemerkte, daß ihm ein Polizist, der eine Kreuzung überwachte, den Rücken zuwandte. Links und rechts von ihm waren zwei hohe Mauern. Ein geparktes Auto nutzend, setzte er über die rechte Mauer, gelangte auf ein Kellereigelände und lief durch die Weinberge Richtung Kurtatsch.

Es dauerte einige Stunden, bis der geknebelte Mann gefunden wurde. Nachdem dieser den Überfall bei der Polizei gemeldet hatte, wurde ihnen klar, daß Haspinger nicht nur entkommen, sondern auch noch vor ihren Augen die größte Show abgezogen hatte, die Tramin je gesehen hat. Wenn die Müller auch darüber fluchten, daß er sie so lange hingehalten hatte und Blut schwitzen ließ, so war kein einziger Traminer diesem angeblichen Geheimagenten böse, schließlich war er die beste Zenzi, die es je gegeben hat.

(Oktober 2000)

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