Site hosted by Angelfire.com: Build your free website today!
THOMAS CHATTERTON



Thomas Chatterton, gemalt von Henry Wallis

 





Niels Höpfner

Ein Wunderkind aus England

Zum 250. Geburtstag von Thomas Chatterton am 20. November 2002

 

 

 

Das Wunderkind kommt herein- im Saale wird's still.

Thomas Mann



Es erscheint unglaublich: ein Schuljunge schrieb Verse, die aus dem Mittelalter hätten stammen können, obwohl sie Jahrhunderte später entstanden. Er malte sie in Schnörkelschrift auf Pergamente, die er mit Ockerfarbe "vergilbte", absichtlich verschmutzte und über einer Kerzenflamme versengte, damit sie geziemend alt aussahen. Die Fälschungen blieben eine Zeitlang unentdeckt. Der Schuljunge hieß Thomas Chatterton.

 

Sein stürmischer Lebenslauf, den zuverlässige Quellen bis in kleinste Einzelheiten belegen, läßt sich vergleichen mit der Lebenslegende eines Arthur Rimbaud, François Villon, Cyrano de Bergerac oder Christian Günther.

 

Thomas Chatterton wurde am 20. November 1752 in Bristol geboren und starb in London durch Selbstmord, 17 Jahre und 8 Monate alt, am 24. August 1770, im Geburtsjahr Hegels und Beethovens. Er lebte im Zeitalter der Rüschen, Spitzen und Perücken. Sein Talent entfaltete sich in einer Zeit, für die der englische Ausdruck "cant" bezeichnend ist, der Heuchelei und Unehrlichkeit meint. Mit seiner Vorliebe für eine zierlich gekünstelte Sprache, für Pseudonyme und Kleidermaskeraden scheint das ganze Jahrhundert eine Fälschung gewesen zu sein.

 

Das Mittelalter bedeutete für Chatterton ein Refugium ursprünglicher, unverstellter Natur. Diesen Glauben vertieften zwei Literaten, die den damaligen Zeitgeschmack höchst erfolgreich bedienten: James Macpherson, der als begnadeter Fälscher unter dem Titel "Fragments of Ancient Poetry, collected in the Highlands" angebliche Teile der irisch-schottischen "Ossian"-Heldensagen veröffentlichte, und Thomas Percy mit seiner Sammlung alter Balladen "Reliquies of Ancient English Poetry".

 

Aber nicht nur das 18. Jahrhundert ist verantwortlich für die Tragödie Chattertons, sondern auch Bristol, die Stadt, in der er aufwuchs. Die vielen Kirchen und alten Straßen erinnerten auf Schritt und Tritt an die Vergangenheit, auch wenn Bristol, das um 1750 ungefähr 40 000 Einwohner hatte, inzwischen durch das Geschäft mit Baumwolle, Zucker, Pfeifen, Eisenwaren und Sherry eine kapitalistische Handelsstadt geworden war. In diesem amusischen Ort wurde Thomas Chatterton rücksichtslos von Kaufleuten ausgebeutet, die sich mit Trinkgeldern als mäzenatische Kunstliebhaber aufspielten.

 

In jenem Bristol verschanzte Thomas Chatterton sich hinter der Figur des Mönches Thomas Rowley, der im 15. Jahrhundert lebte, um ihn als Urheber seiner eigenen Werke auszugeben. Mit der Zeit nahm Rowley sein ganzes Denken in Besitz, was vielleicht sogar zu einer Bewußtseinsspaltung führte.

 

Niemand, dem Chatterton seine Rowley-Gedichte zeigte, glaubte, daß sie ein Kind geschrieben haben könnte. Denn seine Versdramen, Kriegsballaden, Eklogen und Pastoralen waren in altem Englisch abgefaßt, das Chatterton größtenteils aus den Wörterbüchern von Kersey und Bailey, obendrein aus den Chaucer-Editionen von Speght gelernt hatte. Es handelte sich nicht nur um sehr schwierige, vielstrophige Verse, auch der Geist des 15. Jahrhunderts war gelungen rekonstruiert. Trotzdem war Chattertons Vorgehen nur in einer Zeit möglich, die eine philologische Sprachforschung noch nicht kannte, sonst hätten grammatikalische und orthographische Fehler Chatterton sofort verraten.

 

Wie geschickt jedoch seine Einfühlungsgabe ist, bezeugen die Gedichte "The Battle of Hastings" ("Die Schlacht bei Hastings") und "Bristowe Tragedie, or the dethe of Syr Charles Bawdin" ("Tragödie von Bristol oder Tod Sir Charles Bawdins"), in deren Mittelpunkt ein Ritter aus Lancaster steht. Die Versdramen "Goddwyn" und "Ǽlla" lassen vermuten, daß Chatterton ein ausgezeichneter Dramatiker hätte werden können. Im Vorwort zu "Ǽlla" deutete er an, daß er selbst der Autor sei, was anfangs aber niemand bemerkte, obwohl ein solches Theaterstück auf keinen Fall aus dem 15. Jahrhundert stammen konnte, aus dem nur Mysterien- und Moralitätenspiele überliefert sind.

 

In die Tragödie "Ǽlla" ist das Gedicht "Dirge" ("Totenklage") eingeflochten, das in keiner gründlichen Anthologie der englischen Lyrik des 18. Jahrhunderts fehlt. Formal weist das Gedicht zum Volkslied hin, wie zum Beispiel der Refrain zeigt, thematisch spielt es wahrscheinlich auf Ophelias Tod in Shakespeares "Hamlet" an:

 

"Oh! sing unto my roundelay:

Oh! drop the briny tear with me;

Dance no more at holiday;

Like a running river be.

My love is dead,

Gone to his death-bed,

All under the willow-tree.

 

Black his hair as the winter night,

White his rode as the summer snow,

Red his face as the morning light!

Cold he lies in the grave below.

My love is dead,

Gone to his death-bed,

All under the willow-tree.

 

Hark! the raven flaps his wing,

In the briard dell below;

Hark! the death-owl loud doth sing

To the night-mares, as they go.

My love is dead,

Gone to his death-bed,

All under the willow-tree.

 

O stimmt in meinen Rundsang ein,

O weint mit mir, an Tränen reich,

Kein Tanz soll mehr am Festtag sein,

Dem Fluße werdet alle gleich.

Liebchen mein 

Im Totenschrein

Liegt unterm Weidenbaum.

 

Sein Haar war schwarz wie Winternacht,

Und weiß die Haut wie Sommerschnee,

Sein Antlitz rot wie Morgenpracht,

Nun liegt es kalt im Grabe, weh!

Liebchen mein

Im Totenschrein

Liegt unterm Weidenbaum.

 

Horch, horch! Der Raben Schwirren klingt

Hohl aus dem buschigen Tal empor,

Horch, horch! Die Toteneule singt

Den huschenden Gespenstern vor.

Liebchen mein

Im Totenschrein

Liegt unterm Weidenbaum."

 

Thomas Chatterton war ein eigenartiges Kind, mit seinem winzigen Appetit, mit seinen vernichtenden Sarkasmen und altklugen Reden, mit seiner Angewohnheit, bei Mondlicht zu schreiben. Einer von denen, die Chatterton täuschte, behauptete später, er habe Augen wie ein Habicht gehabt, in denen man seine Seele sehen konnte. Ein anderer Zeitgenosse stellte in seinen Augen abwechselnd Müdigkeit und Zorn fest, aber immer eine offensichtliche Verachtung für seine Mitmenschen. Chatterton konnte jedoch auch liebenswürdig sein, er war sehr begeisterungsfähig und grenzenlos naiv.

 

Thomas Chatterton war der Sohn eines Lehrers, der sich mit Schwarzer Magie beschäftigte und von dem es heißt, er sei imstande gewesen, seinen Mund so weit aufzureißen, daß er eine geballte Faust hineinstecken konnte. Der Vater, Thomas Chatterton senior, starb wenige Wochen vor der Geburt seines Sohnes, der leblos zu sein schien, als er auf die Welt kam, so daß er erst kräftig geschüttelt werden mußte, bis er ein Lebenszeichen von sich gab. Ähnliches wird über Goethe berichtet. Nach dem Tod des Vaters durfte die Mutter, Sarah Chatterton geb. Young, nur noch kurze Zeit mit ihren Kindern Thomas und Mary, deren Bruder Giles Malpas, erst ein Jahr alt, bereits gestorben war, in dem Lehrerhaus wohnen bleiben, in der Pile Street, im Schatten der gotischen Kirche St. Mary Redcliffe.

 

Die Familie hatte immer freien Zugang zu der Kirche gehabt, da der Vater auch das Amt des Küsters versah, eine Aufgabe, die nun Chattertons Onkel, Richard Phillips, übernahm, der zugleich Totengräber war. Das Privileg der Familie Chatterton, in der Kirche jederzeit ein- und ausgehen zu können, blieb also erhalten. In einem Raum über der nördlichen Vorhalle von St. Mary Redcliffe standen fünf alte Truhen, die noch ältere Urkunden enthielten. Eine einzelne eisenbeschlagene Kiste wurde "Mr Canynge's Cofre" genannt, in Erinnerung an einen philanthropischen Kaufmann und Bürgermeister aus der Zeit der Rosenkriege. Eigentlich hätte sie mit sechs Schlössern verriegelt sein müssen, sie stand jedoch jahrhundertelang offen, die Papiere in ihr waren oft durchwühlt, zum Teil gestohlen worden. Mit einigen hatte Chattertons Vater Schulbibeln ausgebessert, einige hatte seine Mutter mitgenommen, um sie im Haushalt zu verwenden. Auch in der Wohnung auf dem Redcliffe-Hügel, wohin die Familie umgezogen war und wo die Mutter eine Nähschule eingerichtet hatte, lagen alte Pergamentrollen herum, die für Schnittmuster benutzt wurden. Thomas Chatterton fand an den Pergamenten Gefallen und studierte sie ausführlich.

 

Anfangs schien er geistig zurückgeblieben zu sein. Als er sechs Jahre alt war, mußte er, den Anforderungen nicht gewachsen, die Pile-Street-Schule verlassen. Zwei Jahre später überraschte er mit einem merkwürdigen Ausspruch. Einem Mann, der seinen Trinkbecher verzierte, soll er den Auftrag gegeben haben: "Mal mir einen Engel mit Schwingen und eine Trompete, die meinen Namen in die Welt trompetet!"

 

Vom 3. August 1760 an besuchte Thomas Chatterton Colstons Bluecoat-Schule, eine Kaufmannsschule, die 1710 von einem gewissen Edward Colston als Stiftung eingerichtet worden war. Nach einer Ausbildung von sieben Jahren wurden die Zöglinge für weitere sieben Jahre von der Schule und der Stadtverwaltung an ihre Lehrherren vermittelt, von denen sie nur Kost und Logis erhielten. Bei der Berufswahl durften die Schüler nicht mitbestimmen.

 

Als Anstaltskleidung trugen die Jungen Talar, Bäffchen, Barett und orangefarbene Kniestrümpfe, außerdem wurde ihnen eine Mönchstonsur geschoren. Diese Äußerlichkeiten kamen natürlich Chattertons Vorliebe für die Historie entgegen, mit der er sich auch weiterhin stark beschäftigte.

 

Besonders beeindruckten ihn Denkmäler. Jener William Canynge hatte ein Grab in der Kirche St. Mary Redcliffe gefunden, und Thomas Rowley, der Freund und Schützling des Idols, war in einer mit Steinbildern geschmückten Familiengruft in der Kirche St. John beigesetzt worden, wo er ab 1430 als Weltpriester gewirkt hatte. Niemals aber war er als Dichter hervorgetreten. In einem Brief an einen Freund in Süd-Carolina wird Rowley 1768 erstmals mit Namen erwähnt. Beigefügt war ein Gedicht, betitelt "The Tournament or The Unknown Knight" ("Das Turnier oder Der unbekannte Ritter"). In demselben Brief verrät Chatterton, zu diesem Zeitpunkt 16 Jahre alt, daß er bereits dreiundzwanzigmal verliebt war. Besonders ältere Damen nahm er für sich ein.

 

Die lokale Tageszeitung schien geeignet für den literarischen Beginn. "Felix Farley's Bristol Journal" druckte einige Verse von Thomas Chatterton, als er gerade zehn Jahre alt war. Man hielt ihn für den Botenjungen, dem aufgetragen war, das Manuskript zu überbringen. 1768 wurde eine neue Brücke über den Avon eingeweiht. Die Zeitung erhielt einen Text, der in alter Sprache sehr farbig die Einweihung einer mittelalterlichen Brücke am selben Ort schilderte und mit dem Namen "Dunhelmus Bristoliensis" unterzeichnet war. Der Bericht wurde gedruckt. Auf den Gedanken, Chatterton könne der Urheber sein, kam niemand.

 

Es ist verbürgt, daß seine ersten vollendeten Gedichte bereits entstanden, als er noch Colstons Bluecoat-Schule besuchte. James Thislethwaite, einer seiner Freunde, berichtet, wie er Chatterton 1764 in der Horse Street traf, der ihm bei dieser Gelegenheit von dem Gedicht "Elinoure and Juga" erzählte, dem Versdialog zweier verlassener Mädchen. Dies ist die einzige Rowley-Arbeit, die zu Lebzeiten Chattertons gedruckt wurde.

 

Am 1. Juli 1767 wurde er aus der Schule entlassen und zu dem Advokaten John Lambert als Schreiber in die Lehre gegeben. Auf zwölf Stunden täglich war die Arbeitszeit festgesetzt, tatsächlich betrug sie aber nur zwei Stunden, die restliche Zeit konnte Chatterton sich selbst beschäftigen. Er haßte die Kanzlei in der Corn Street 37, litt unter der Erniedrigung, mit den Dienstboten essen und das Bett mit einem Laufburschen teilen zu müssen. Aber Thomas Rowley, sein Patron, stand ihm bei und diktierte ihm eine große Anzahl von Versen. Und der Anwalt John Lambert verdiente jährlich 1ooo Pfund- eine erhebliche Summe damals.

 

Ein Rowley-Gedicht in Chattertons Handschrift

Chattertons Lebensumstände hatten sich geändert, und neue Menschen traten in seinen Gesichtskreis: William Barrett, ein Arzt und Geburtshelfer, und zwei Zinngießer, Henry Burgum und George Symes Catcott. William Barrett war ein Bilderbuchphilister. Er plante ein grandioses Geschichtswerk über die Stadt Bristol und war ständig auf der Suche nach alten Dokumenten. Dem Manne konnte geholfen werden. Einige Urkunden aus "Mr Canynge's Cofre" waren bereits in seinen Händen, und als Gegenleistung für die Benutzung seiner Bibliothek versorgte Chatterton ihn mit weiterem Material, das er selbst herstellte: Auszüge aus den Protokollen von 17 Pfarreien, Pläne längst verschwundener Häuser und Straßen. Auf diese Weise lenkte er auch Barretts Aufmerksamkeit auf einige Rowley-Werke, unter denen sich das Gedicht "The Parlyamente of Sprytes" ("Das Parlament der Geister") befand. Obwohl er Barrett erklärte, er selbst habe alles geschrieben, wollte dieser es nicht glauben. Barrett weigerte sich sein ganzes Leben lang, die Fälschungen als solche anzuerkennen, und als er schließlich im Frühjahr 1789 die gefälschten Akten in seinem Geschichtswerk "Geschichte und Altertümer der Stadt Bristol", an dem er über 3o Jahre gearbeitet hatte, veröffentlichte, wurde er ausgelacht, denn der Schwindel war inzwischen bekanntgeworden. Über dieser Schande starb Barrett noch im Herbst selben Jahres.

 

Die beiden Zinngießer waren zwei Parvenus par excellence. Catcott, glotzäugig und stotternd, drängte sich in den Mittelpunkt, wo er nur konnte. So bezahlte er fünf Pfund, um als erster über die neue Brücke reiten zu dürfen, als noch nicht einmal die Planken festgenagelt waren. Catcott genoß es, einen jungen Mann in seinen Diensten zu haben, der eigens für ihn nach alten Dokumenten forschte. Burgum hatte einen ähnlichen Charakter. Sein Herz hing daran herauszufinden, ob blaues Blut in seinen Adern fließe. Thomas Chatterton erfüllte ihm den Wunsch. Er malte einen Stammbaum, der Burgums Familie bis zu Wilhelm dem Eroberer zurückführte. Burgum zahlte fünf Shilling.


 

Auch dem Klerus kann Chatterton behilflich sein. Alexander Catcott, ein Bruder des Zinngießers, ist Vikar, und ein Rätsel bedeutet ihm der schiefe Turm seines Gotteshauses. Durch Chatterton erfährt er, bereits der Priester Thomas Rowley habe sich mit diesem Problem beschäftigt und dessen Vorgeschichte zu Papier gebracht: Der italienische Architekt der Kirche habe bei ihrer Errichtung  im 13. Jahrhundert die Warnungen einheimischer Fachleute vor dem sumpfigen Boden ignoriert. 


 

Ein anonymer Interpret im Internet gelangt zu der Analyse: "In diese Falsifikate gehen jedoch nicht nur die Sehnsüchte der Bristoler Bürger ein, sondern ebenso die ihres Urhebers. Es handelt sich um psychologische Vexierbilder, die je nachdem als Nostalgie oder Utopie verstanden werden können. Für das saturierte Bürgertum bietet die Scheinwelt des Mittelalters einen Ersatz für ideelle Werte, die in der Realität der kapitalistischen Gesellschaft keinen Platz mehr haben und die auch in der rationalen Theologie der anglikanischen Staatskirche nur noch ein Schattendasein führen. Die tonangebende Klasse kompensiert so ihre psychischen Defekte und Defizite. Für Chatterton sind diese Falsifikate dagegen eher ein Mittel, seinen kümmerlichen sozialen Verhältnissen zu entrinnen. Sie entspringen dem verzweifelten Bemühen, sich zumindest geistig über diese Verhältnisse zu erheben, womöglich aber auch seinen dichterischen Genius materiell anerkannt zu sehen. Mit Thomas Rowley und William Canynge erdichtet sich Chatterton die hochherzigen, edelmütigen und freigebigen Gestalten, welche die Gegenwart vermissen läßt. Es ist sicher kein Zufall, daß sein William Canynge den Laureaten Thomas Rowley immer wieder reichlich mit Lob und Geld bedenkt."

 

Auf der Suche nach großzügigeren Gönnern schickte Thomas Chatterton am 25. März 1769 eine Auswahl seiner Werke an Horace Walpole, einen damals sehr beliebten Literaten. Walpole hatte einige Jahre zuvor den Schauerroman "The Castle of Otranto" ("Das Schloß von Otranto") veröffentlicht, den er als Werk eines neapolitanischen Mönches ausgab, das angeblich 1520 entstanden sei. Chatterton wußte, Mittelalter war das Zauberwort, um die Gunst Walpoles zu erlangen, dessen gotischer Tick bekannt war: sein Haus quoll über von vorzeitlichem Plunder, über seinem Bett hing eine Abschrift der Todesurkunde von Charles I.

 

 

Walpole antwortet mit Dank postwendend am 28. März. Walpoles Antwort weckt Hoffnungen in Chatterton. Daraufhin schickt er sofort eine zweite Auswahl, die unter anderem eine Thomas Rowley untergeschobene Geschichte der Malerei in England enthält, auch diese macht den angeblichen Kunstkenner Walpole noch längst nicht stutzig. Immer noch deutet er eine Unterstützung bei der Veröffentlichung an. In Wirklichkeit aber war er unfähig zu einer generösen Tat, er war ein Geck mit einer zynischen Lästerzunge, der nur seinen eigenen Vorteil kannte.

 

Nun begeht Chatterton einen verhängnisvollen Fehler: er klärt Walpole über seine Person auf und bittet ihn geradeheraus um Hilfe. Als dieser erkennt, daß er es nicht mit einem Gelehrten, sondern mit einem armseligen Grünschnabel zu tun hat, gibt er ihm den hochherzigen Rat, sich erst einmal ein Vermögen zu schaffen, um seinen künstlerischen Neigungen nachgehen zu können. Einer der Briefe Chattertons aus der Korrespondenz mit Walpole, ein Rarissimum, wurde kürzlich im Autographenhandel für 14 000 Pfund angeboten.


Chatterton antwortet auf Walpoles niederschmetternde Absage zunächst noch ruhig und bescheiden. Zwischen den Zeilen schwingt allerdings der bittere Vorwurf mit, daß Walpole den poetischen Wert der Arbeiten nicht erkannt habe. Chattertons Drohung, die Texte zu vernichten, klingt wie ein Hilferuf: "Obzwar ich erst sechzehn Jahre alt bin, habe ich doch lange genug gelebt, um zu erkennen, daß Armut die Gefährtin der Literatur ist. Ich danke Ihnen, geehrter Herr, für Ihren Rat und will noch ein wenig darüber hinausgehen, indem ich meinen ganzen unnützen literarischen Kram vernichte und meine Feder hinfort ausschließlich in juristischen Dingen gebrauche."


Der düpierte Walpole antwortet jedoch nicht mehr. In seiner Gekränktheit reagiert Chatterton daraufhin mit einem wütenden Brief. Am 4. August schickt Walpole alles überlassene Material kommentarlos an Chatterton zurück.


Nach Chattertons Tod mußte Walpole sich in einer Verteidigungsschrift rechtfertigen, daß er daran nicht mitschuldig sei. Er behauptete, die Fälschungen von Anfang an durchschaut zu haben. Das war gelogen. Erst allmählich ging ihm ein Licht auf. Zwar erkannten von den Zeitgenossen die Autoren Samuel Johnson, James Boswell und Thomas Percy die Rowley-Werke auf Anhieb als Fälschungen, endgültig bewiesen wurde dies aber erst von Walter William Skeat mit seinem Essay über die Rowley-Gedichte aus dem Jahre 1871[!]. Walpole jedoch wurde von Chattertons Abschrift des angeblichen Rowley-Essays "The Ryse of Peynctynge yn Englande" ("Peynctynges Aufstieg in England") völlig getäuscht. Es sah alles so schwierig aus und flößte deshalb Ehrfurcht ein. Walpole war in seinem Zorn unversöhnlich, selbst noch den toten Chatterton nannte er "einen Lügner, einen jungen Spitzbuben". Hilfe hätte Thomas Chatterton sicher bei Oliver Goldsmith, dem Verfasser des "Pfarrers von Wakefield", gefunden, aber an den wandte er sich nicht, und als Goldsmith von ihm zum ersten Mal etwas las, voller Bewunderung, war Chatterton soeben gestorben.

 

In Bristol gehörte er zu einem Kreis junger Leute, der sich "Spouting Club" nannte und in seiner politischen Tendenz revolutionär war, ein früher Vorgänger außerparlamentarischer Opposition. Schon damals muckte man auf gegen unterbezahlte Lohnarbeit, gegen die Repression weltlicher und kirchlicher Gewalt. In einem Brief, den Chatterton im April 1770 an ein Mitglied des englischen Hofes schrieb, findet sich der Satz: "Was sollen wir sagen, einzig, daß wir Sklaven sind und es immer bleiben werden, bis wir herausfinden, wie wir uns selbst befreien?"

 

Seinen Gesinnungsfreunden gegenüber hatte Chatterton damit geprahlt, was Walpole alles für ihn tun würde. Daher war dessen Desinteresse sehr erniedrigend, und Chatterton rächte sich mit einigen Schmähgedichten an Walpole. In einem der Pamphlete heißt es:

 

"Wär' ich nur reich, Geringen nicht entstammt,

 Du hättest nicht gewagt, mich so zu schmähen!

 Allein ich werde neben Rowley stehen

 Und leben, wenn du tot bist und verdammt!"

 

 

Der anonyme Interpret im Internet kommentiert: "Diese Verse klingen wie eine Verfluchung Walpoles. Chatterton verflucht zugleich sein eigenes Schicksal... Er erkennt, daß auch im Parnaß, den er für eine klassenlose Gesellschaft gleichgesinnter, erhabener Geister gehalten hat, durchaus soziale Unterschiede herrschen. Und in einer Trotzreaktion beschließt er, sich erst recht zu Rowley zu bekennen, diesem fiktiven Dichter aus dem 15. Jahrhundert, in dessen Texte er all das hineingelegt hat, was der Gegenwart abgeht."

 

Die erlittene schwere Niederlage war sicherlich ein Anlaß dafür, daß Thomas Chatterton, in der Hoffnung auf Erfolg, sich entschloß, nach London zu gehen, auch wenn es ihm nicht leichtfiel, Mutter und Schwester zu verlassen, obendrein seine Freundinnen, unter ihnen eine Mrs Barton, Mrs Carter, Miß Sukey Web, Miß Rumsey und eine Hester Saunders. Der Entschluß war auch deswegen nötig, weil seine Fälschungen in Bristol Aufsehen erregten. Hinzu kam schließlich noch, daß er seine Arbeit als Schreiberlehrling bei dem Advokaten Lambert nicht mehr ertrug.

 

Um sich von seinem Lehrvertrag zu befreien, setzt Thomas Chatterton am Ostersonnabend, dem 14. April 1770, sein Testament auf, "geschrieben zwischen 11 und 2 Uhr sonnabends, in äußerster Trübsal des Geistes", und spielt es Lambert in die Hände, der so erschrocken ist über die Ankündigung des bevorstehenden Selbstmordes, daß er Chatterton umgehend hinauswirft, zumal dieser bereits einige Zeit zuvor in einem anderen Schreiben den gleichen Schritt angedroht hatte.

 

In einem Brief an den Arzt Barrett rechtfertigte sich Thomas Chatterton: "...Meine Motive für die vermeintliche Unbesonnenheit betrachtend, möchte ich bemerken, daß ich keine ärgere Gesellschaft gekannt habe als mich selbst... Nein, mein Stolz, mein verfluchter, angeborener, unüberwindlicher Stolz ist es, der mich in Raserei stößt. Sie sollen wissen, daß neunzehn Zwanzigstel meiner Beschaffenheit Stolz ist. Ich muß entweder als Sklave leben, als Diener, ohne eigenen Willen, ohne eigene Empfindung, die ich freiweg als solche bezeichnen könnte- oder STERBEN- eine bestürzende Alternative! Aber es macht mich verrückt, daran zu denken- ich will mich bemühen, demütig zu werden; aber das kann nicht hier geschehen."

 

Chatterton nahm am 24. April, mit fünf Pfund in der Tasche und einem Bündel Manuskripte unterm Arm, die Postkutsche nach London, wo er einen Tag später gegen 17 Uhr eintraf. Er mietete sich bei einer Familie Walmsley ein, im Stadtteil Shoreditch, High Street 48. Eine Kusine, die Mrs Balance hieß, kümmerte sich um ihn. Sein erster Weg führte ihn zu Dodsly, dem bekanntesten Verleger und Buchhändler seiner Zeit, um ihm die Tragödie "Ǽlla" zum Druck anzubieten. Dodsly lehnte ab, als Chatterton einen Vorschuß verlangte. Ein letztes Rowley-Gedicht entstand, "An Excelente Balade of Charitie" ("Eine große Ballade von der Menschenliebe"), Rowleys Interpretation des barmherzigen Samariters, voll von Anspielungen auf seine eigene harte Zeit in London. In der letzten Strophe der Ballade spricht sich unverhüllt ein Wille zu gesellschaftlicher Veränderung aus:

 

"Allein, unglücklicher Pilger, lern von mir,

Es zahlt die Pacht dem Herrn kaum einer schon.

Doch du bist bloß, nimm meinen Mantel hier,

Nimm ihn, die Heiligen geben mir wohl Lohn.

Maria! Heilige, ihr, in Glorienpracht!

Gebt Mächtigen Willen oder Guten Macht!"

 

Das "Town and Country Magazine" lehnte den Druck der Ballade ab. In den wenigen Wochen, die Chatterton noch zu leben hatte, arbeitete er unablässig. Er schlief kaum und aß fast nichts. Er ernährte sich von getrockneter Hammelzunge, Fisch oder nur von Keksen, dazu ein paar Schluck Wasser oder Tee. Er belieferte Zeitschriften, unter ihnen das "Middlesex Journal" und "Freeholder's Magazine", mit politisch-satirischen Artikeln, die er signierte mit "Junius", "Probus" oder "Decimus". Chatterton bekämpfte die Regierung, im Namen von Freiheit und Wahrheit. Er hatte den Oberbürgermeister von London, Lord Mayor William Beckford, kennengelernt, der ihn fördern wollte und ihm einen einträglichen Posten bei der Zeitung "The North Briton" versprach, dem Blatt eines politischen Freundes, des progressiven Abgeordneten John Wilkes. Einen Augenblick sah es aus, als würde sich alles zum Guten wenden. Da starb William Beckford.

 

In diesen Tagen verlegte Chatterton sein Quartier zu einer Mrs Angell, in den anrüchigen Londoner Stadtteil Holborn, Brook Street 39. Es ist nicht bekannt, warum er dies tat. Vielleicht wollte er auf die gemeinsame Ghettosituation von Dichtern und Huren hinweisen.

 

Er arbeitete weiter wie besessen und vollendete sein Singspiel "Die Rache", das heute verschollen ist. Lediglich eine Arie daraus blieb erhalten. Diese Arie, die der Knabe Cheney in London öffentlich sang, brachte Chatterton zwar fünf Pfund und fünf Shilling ein, wie er eigenhändig auf der Rückseite eines Manuskriptblattes bestätigte, das man 1841 bei einem Käsehändler aufspürte, aber das Singspiel selbst wurde nicht aufgeführt. Verzweifelt wandte Thomas Chatterton sich an den Arzt William Barrett, mit der Bitte, ihm eine Approbation als Assistenzarzt auf einem Schiff zu besorgen. Barrett half ihm nicht.

 

Der Schriftsteller Hans Henny Jahnn schreibt über den Zustand, in dem Chatterton sich jetzt befindet: "Das Experiment, als armer Mensch von der Dichtkunst leben zu wollen, war mißlungen. Geist und Körper waren auf grauenvolle Weise zugerichtet. Die Bedürfnisse nach Nahrung, Schlaf, Zärtlichkeit waren fast erloschen. Die Empfindungen waren in Düsterkeit und Melancholie erstickt. Immer häufiger stößt er den Schrei aus, von 'diesem verhaßten modernen Babylon' befreit sein zu wollen."

 

Thomas Chatterton tötet sich mit Arsenik und Opium. Er stirbt qualvoll. Er wird gefunden inmitten zerrissener Manuskripte, deren winzige Fetzen den Fußboden seiner Dachkammer bedecken. In seinem Taschenbuch stehen diese vom 24. August 1770 datierten "Letzten Verse":

 

"Leb wohl, Bristols schmutzige Ziegelwelt!

Ihr Liebhaber von Ränken und von Geld,

Ihr lohntet des Jungen alte Lieder mit Hohn

Und gabt der Gelehrtheit leeres Lob zum Lohn.

Lebt wohl, ihr ratsherrlichen, zechenden Toren,

Zum Werkzeug der Verderbtheit, ihr, erkoren!

Ich geh' dahin, wo Engelchöre sich scharen,

Doch ihr, wenn ihr sterbt, werdet zur Hölle fahren!

Leb wohl, o Mutter! Geängstigte Seele, laß ab!

Verschlinge mich nicht, der Zerstörung Wellengrab!

Hab Gnade, Himmel! Und höre ich auf zu leben,

Sei mir diese letzte Tat des Elends vergeben!"

 

Auf einem Karren wird Chattertons Leichnam zum Armenhaus in der Shoe Lane gebracht, wo er verschollen ist. Wahrscheinlich wurde er –junge Leichen waren gefragter als alte- an ein anatomisches Institut verkauft, ein Grab ist jedenfalls nicht bekannt, auch wenn in der Kirche St. Mary Redciffe ein Denkmal an ihn erinnert. Im Totenschein wird sein Name –fälschlicherweise!- angegeben mit William Chatterton. Daneben hat jemand gekritzelt: "The poet."

 

Was nun der entscheidende Grund dafür war, daß Chatterton Selbstmord beging, darüber herrscht Unklarheit: War es seine psychische Zerrüttung? Drohte er zu verhungern? War er entsetzt über eine Geschlechtskrankheit, wie der Apotheker Cross erklärte, der ihm Calomel und Vitriol verkaufte? Standen seine Sterne schlecht, wie ein Astrologe behauptete, der später das Horoskop untersuchte? Fürchtete Chatterton wegen seiner Fälschungen eine öffentliche Anklage? Oder war er immer noch verstört über zwei Sterbefälle in seinem Freundeskreis? Am 12. August 1769 nämlich hatte sich ein Schulkamerad erschoßen, Peter Smith, der Sohn eines Bierbrauers, und am 1. November 1769 war ein junger Lehrer der Colston-Schule gestorben, Thomas Phillips, beiden war Chatterton sehr zugeneigt. Durch diese Geschehnisse wurde er so unvermutet heftig mit menschlichem Elend konfrontiert, daß er zu jenem Zeitpunkt öffentlich protestierte gegen die Versklavung von Schwarzen. Er wollte sogar zum Islam übertreten, weil er sich schämte, Christ zu sein.




Erstausgabe London 1782; Antiquariatspreis im Januar 2011: 275 US-$ + 65 US-$ Porto)

POEMS,1782







 

Wie die Kirche, wie die Politik braucht offenbar auch die Kunst ihre Märtyrer. Kaum war Thomas Chatterton gestorben, erhob sich Begeisterung für ihn. Die Realität übertrifft manchmal den übelsten Kolportageroman. Zwar berichteten die Zeitungen nichts über die Tragödie in der Brook Street 39, an jenem 24. August 1770, vermerken vielmehr, daß an diesem Tag ein wildgewordener Stier Cannon Street und Tower Street herunterraste, einen Metzgerlehrling niedertrampelte und ihm beide Beine brach, aber in der Oktobernummer 1770 des "Town and Country Magazin" veröffentlichte Thomas Cary, einer der ältesten Freunde Chattertons, eine Elegie auf den Toten. Chattertons Schwester Mary sorgte mit ihren Schriften, in denen sie die Unschuld und die guten Absichten ihres Bruders beteuerte, noch für eine Ausweitung der Diskussion. Der Rummel um den Toten ging schließlich so weit, daß sogar ein Erinnerungstaschentuch verkauft wurde, bedruckt mit einem Bildnis und Versen von Chatterton. Der tote Dichter als Popstar. Wer denkt hier nicht an den Totenkult, der dem Filmidol James Dean und dem Rocksänger Jim Morrison bereitet wurde?

 

Wäre Chatterton einige Jahrzehnte später geboren worden, hätte er das Schoßkind der englischen Romantik werden können, deren Hauptvertreter Wordsworth, Coleridge, Keats, Shelley und Rossetti ihn als einen der ihren ansahen und ihn feierten als Begründer ihrer Stilrichtung. William Wordsworth nannte Chatterton "the marvellous boy"- das Wunderkind.

 

Die literarischen Spuren, die der knapp Achtzehnjährige hinterließ, sind beträchtlich, obwohl Person und Leben wohl sein größtes Kunstwerk waren. In die englische Lyrik brachte er eine neue, bildstarke Naturschilderung, die ihre Vollendung bei Shelley findet, außerdem bereicherte er die englische Literatur um die sogenannte romantische Geschichtauffassung, deren typischer Vertreter Walter Scott ist. In der Übergangszeit vom Klassizismus zur Vorromantik lebend, überwand Chatterton die Starrheit klassizistischer Formen, indem er sie durch die schöpferische Originalität eines romantischen Genies auflockerte.

 

Das Verzeichnis der verschiedenen Ausgaben seiner Werke und der Sekundärliteratur nimmt in dem monströsen Bücherkatalog des British Museum gut fünf Seiten ein. Michael Lort wurde der erste gründliche Erforscher der Lebensgeschichte Chattertons. E.H.W. Meyerstein setzte diese Arbeit fort.

 

Thomas Chatterton und kein Ende: Die letzte größere Veröffentlichung eines britischen Autors stellt Peter Ackroyds Roman "Chatterton" dar (1987, deutsch 1990), ein bemerkenswert triviales Werk: "Und als seine Leiche am nächsten Morgen gefunden wird, lächelt Chatterton noch immer." Der deutsche Verlag heißt nicht Bastei-Lübbe, sondern Rowohlt.

 

In Bristol hat sich die Thomas Chatterton Society konstituiert, die im September 2oo2 ein Chatterton-Jubiläums-Symposion veranstaltete und auch im Internet aktiv ist, wo sich, besonders im angelsächsischen Raum, noch etliche andere Chatterton-Webseiten finden lassen.

 

Die bildende Kunst beschäftigte sich ebenfalls mit Thomas Chatterton. Der Maler Henry Wallis schuf 1856 ein pathetisch-zuckeriges Gemälde "The Death of Chatterton" ("Chattertons Tod"), zu dem ihm der (28jährige) Schriftsteller George Meredith Modell lag. Das –mittlerweile auch als Poster erhältliche- Bild hängt in der Londoner Tate Gallery. Ebendort bewundert es der Protagonist des Films "Love & Death On Long Island" (1997), Giles De'Ath (John Hurt), bevor eine homoerotische Liebesverstrickung beginnt. Die amerikanische Künstlerin Kim Stringfellow erneuerte 1991 in einer Collage aus einem Porträt-Foto des jung gestorbenen  Malers (Jean-Michel) Basquiat und einer Reproduktion des Gemäldes von Henry Wallis den Kult um den Dichter. Ein beglaubigtes Bildnis aus Chattertons Lebzeiten gibt es nicht.

 

Schließlich erreichte die Chatterton-Bewegung den Kontinent. Der französische Romantiker Alfred de Vigny schrieb die Tragödie "Chatterton", die am 12. Februar 1835 im Pariser Thêátre Français uraufgeführt wurde; ihr Weg nach Deutschland brauchte 15 Jahre. Alfred de Vignys Gesamtwerk ist in hohem Maße von einem aristokratisch-stoischen Pessimismus geprägt: dieses Lebensgefühl spiegelt sich in seinem "Chatterton"-Drama wider. Der Autor prangert nicht das Versagen der Welt an, er sieht in Chattertons Scheitern die Ursituation des romantischen Dichters, der unfähig ist, seine idealen Forderungen mit der Wirklichkeit in Einklang zu bringen: "Les poètes n'aiment rien... le cerveau se nourrit aux dépens du coeur." – "Die Dichter lieben nichts… das Hirn nährt sich auf Kosten des Herzens."

 

Die Pariser "Chatterton"-Aufführung war ein Sensationserfolg, weniger wegen des elenden Schicksals der Titelfigur, sondern vielmehr einer eingeflochtenen sentimentalen Love-Story wegen:  für seine Geliebte, die Schauspielerin Marie Dorval, hatte Alfred de Vigny die Rolle der Kitty Bell, einer verheirateten Frau, erfunden, in die sich Chatterton tragisch verliebt- entgegen aller Theorie und historisch unwahr.

 

In Deutschland veröffentlichte 1840 H[ermann] Püttmann, Lyriker und frühsozialistischer Publizist aus dem Umkreis von Marx und Engels, neben einer Biographie die erste und einzige größere Übersetzung aus Chattertons Werken. Zu dieser Zeit fertigte ein Porträtmaler, Emil Sachse, ein Bildnis, das sich in Dresden befindet und vermutlich Chatterton darstellt.

 

Fast 50 Jahre war es dann still um Thomas Chatterton. 1900 erschien über ihn eine vorzügliche wissenschaftliche Arbeit in Wien und Leipzig von Helene Richter (Nachdruck New York 1964). 1928 kam der Roman "Der arme Chatterton" heraus, den der Romancier und Dramatiker Ernst Penzoldt geschrieben hat. Wahrscheinliches mit Wahrem verknüpfend, zeichnet er ohne Larmoyanz ein sympathisches Bild des Wunderkindes. Im Nachwort äußert er über Chatterton: "Es gibt Engel. Chatterton konnte einer sein, einer von den flügellosen Engeln, jenen halb wirklichen, halb jenseitigen Wesen, die Gesichte, manche (nun quälende) Fähigkeiten und Sehnsucht (des Fliegens etwa) behalten haben aus dem andern Reich."

 

Vielleicht durch diesen Roman angeregt, beschäftigte sich nun wiederum eine wissenschaftliche Arbeit mit Thomas Chatterton. An der Universität Bonn erschien 1935 eine psychologische Studie zum Fall Chatterton, die Dissertation eines Paul Staubert. Ungefähr 25 Jahre später dichtete der Lyriker Johannes Bobrowski eine elfstrophige "Ode auf Thomas Chatterton", die abgedruckt ist in dem Gedichtband "Das Land Sarmatien".


Ihren Höhepunkt erreichte die Chatterton-Welle in Deutschland mit Hans Henny Jahnns Tragödie "Thomas Chatterton", die am 26. April 1956 im Deutschen Schauspielhaus in Hamburg, unter der Regie von Gustaf Gründgens, mit Heinz Reincke in der Titelrolle, uraufgeführt wurde. Im Berliner Schillertheater spielte 1958 Klaus Kammer das Wunderkind, eine der großen Rollen seines Lebens, das ebenfalls mit Selbstmord endete. Der Komponist Matthias Pintscher hat jüngst Jahnns Drama veropert. Die erste "Chatterton"-Oper stammt jedoch von Ruggero Leoncavallo, dem Schöpfer des "Bajazzo", sie wurde 1876 uraufgeführt.

 

Hans Henny Jahnn macht, im Gegensatz zu Alfred de Vigny, die gesellschaftlichen Verhältnisse verantwortlich für Thomas Chattertons Schicksal. Am Schluß seiner Tragödie steht eine zornige Anklage, die darauf hinweist, daß Historie nur dadurch Sinn hat, indem sie einen Lernprozeß auslöst: "Wenn ein Achtzehnjähriger, der vom Genie berührt war, hungernd und ausgestoßen erlischt, bleiben Schuldige zurück. Die Armen, die nichts besitzen, sind freizusprechen. Die Regierenden, die Besitzenden, die Herren, die den Mund voll nehmen, darf man fragen: Erwartet ihr, daß der machtlose Engel, der den Berufenen beigegeben wird, Handel treibt, stiehlt, raubt, betrügt, euresgleichen niederschlägt, um ein wertvolles Leben zu erhalten? Die Pflicht der Engel ist eine andere. Die Pflicht der Menschen aber ist es, nicht an den Besten schuldig zu werden."



 

(Revidierte Fassung. Erstveröffentlichung unter dem Titel Das Wunderkind im Hessischen Rundfunk/ Frankfurt, 3o.7.197o; gedruckt unter dem Titel Fälscher, Dichter, Wunderkind und Bahnbrecher in: Die Presse/ Wien, 29./3o.8.197o und Kurzfassung in Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.11.197o; auch in: Niels Höpfner, Die Hintertreppe der Südsee, Köln: Braun 1979.)


Supplementum




Vom selben Autor:

ZSCHOKKE · EIN SANFTER REBELL

DAS TIER · MONOLOG

SÜDSEE · GROTESKE

ZU LANDE, ZU WASSER UND IN DER LUFT · HÖRSPIEL

DER HUMMELFORSCHER

STALLKNECHTE DES PEGASUS

SCHWERER BROCKEN TRAUERARBEIT

DER ALKOHOL, DIE DICHTER & DIE LITERATUR

NACHRICHTEN AUS DER WOLFSWELT

BESTSELLERITIS

KARL MARX, SEIN VATER UND PEGASUS

'ICH NEHME ALLES ZURÜCK'

HOMMAGE À PETE

DICHTERQUARTETT

GOETHE UND SEIN "BLITZ PAGE" PHILIPP SEIDEL ·
ZUR HOMOSEXUALITÄT DES DICHTERFÜRSTEN


GLÜCKSKEKSE

BLACKBOX

DIE BÖSE MUTTER IN DER LITERATUR

FURCHT UND ELEND DER DEUTSCHEN LITERATUR
IM 19. JAHRHUNDERT · ÜBER ZENSUR & EXIL


DER NORDPOL IST GRAUSAM WIE DIE SAHARA · HÖR-COMIC


HTML-PRINTVERSION
PDF-PRINTVERSION


 

© by the Author, 2002



E-Mail: Niels Höpfner