Niels
Höpfner
Das
Wunderkind kommt herein- im Saale wird's still.
Thomas
Mann
Es erscheint unglaublich: ein Schuljunge schrieb Verse, die aus dem Mittelalter hätten stammen können, obwohl sie Jahrhunderte später entstanden. Er malte sie in Schnörkelschrift auf Pergamente, die er mit Ockerfarbe "vergilbte", absichtlich verschmutzte und über einer Kerzenflamme versengte, damit sie geziemend alt aussahen. Die Fälschungen blieben eine Zeitlang unentdeckt. Der Schuljunge hieß Thomas Chatterton.
Sein stürmischer Lebenslauf, den zuverlässige Quellen bis in kleinste Einzelheiten belegen, läßt sich vergleichen mit der Lebenslegende eines Arthur Rimbaud, François Villon, Cyrano de Bergerac oder Christian Günther.
Thomas Chatterton wurde am 20. November 1752 in Bristol geboren und starb in London durch Selbstmord, 17 Jahre und 8 Monate alt, am 24. August 1770, im Geburtsjahr Hegels und Beethovens. Er lebte im Zeitalter der Rüschen, Spitzen und Perücken. Sein Talent entfaltete sich in einer Zeit, für die der englische Ausdruck "cant" bezeichnend ist, der Heuchelei und Unehrlichkeit meint. Mit seiner Vorliebe für eine zierlich gekünstelte Sprache, für Pseudonyme und Kleidermaskeraden scheint das ganze Jahrhundert eine Fälschung gewesen zu sein.
Das Mittelalter bedeutete für Chatterton ein Refugium ursprünglicher, unverstellter Natur. Diesen Glauben vertieften zwei Literaten, die den damaligen Zeitgeschmack höchst erfolgreich bedienten: James Macpherson, der als begnadeter Fälscher unter dem Titel "Fragments of Ancient Poetry, collected in the Highlands" angebliche Teile der irisch-schottischen "Ossian"-Heldensagen veröffentlichte, und Thomas Percy mit seiner Sammlung alter Balladen "Reliquies of Ancient English Poetry".
Aber nicht nur das 18. Jahrhundert ist verantwortlich für die Tragödie Chattertons, sondern auch Bristol, die Stadt, in der er aufwuchs. Die vielen Kirchen und alten Straßen erinnerten auf Schritt und Tritt an die Vergangenheit, auch wenn Bristol, das um 1750 ungefähr 40 000 Einwohner hatte, inzwischen durch das Geschäft mit Baumwolle, Zucker, Pfeifen, Eisenwaren und Sherry eine kapitalistische Handelsstadt geworden war. In diesem amusischen Ort wurde Thomas Chatterton rücksichtslos von Kaufleuten ausgebeutet, die sich mit Trinkgeldern als mäzenatische Kunstliebhaber aufspielten.
In jenem Bristol verschanzte Thomas Chatterton sich hinter der Figur des Mönches Thomas Rowley, der im 15. Jahrhundert lebte, um ihn als Urheber seiner eigenen Werke auszugeben. Mit der Zeit nahm Rowley sein ganzes Denken in Besitz, was vielleicht sogar zu einer Bewußtseinsspaltung führte.
Niemand, dem Chatterton seine Rowley-Gedichte zeigte, glaubte, daß sie ein Kind geschrieben haben könnte. Denn seine Versdramen, Kriegsballaden, Eklogen und Pastoralen waren in altem Englisch abgefaßt, das Chatterton größtenteils aus den Wörterbüchern von Kersey und Bailey, obendrein aus den Chaucer-Editionen von Speght gelernt hatte. Es handelte sich nicht nur um sehr schwierige, vielstrophige Verse, auch der Geist des 15. Jahrhunderts war gelungen rekonstruiert. Trotzdem war Chattertons Vorgehen nur in einer Zeit möglich, die eine philologische Sprachforschung noch nicht kannte, sonst hätten grammatikalische und orthographische Fehler Chatterton sofort verraten.
Wie geschickt jedoch seine Einfühlungsgabe ist, bezeugen die Gedichte "The Battle of Hastings" ("Die Schlacht bei Hastings") und "Bristowe Tragedie, or the dethe of Syr Charles Bawdin" ("Tragödie von Bristol oder Tod Sir Charles Bawdins"), in deren Mittelpunkt ein Ritter aus Lancaster steht. Die Versdramen "Goddwyn" und "Ǽlla" lassen vermuten, daß Chatterton ein ausgezeichneter Dramatiker hätte werden können. Im Vorwort zu "Ǽlla" deutete er an, daß er selbst der Autor sei, was anfangs aber niemand bemerkte, obwohl ein solches Theaterstück auf keinen Fall aus dem 15. Jahrhundert stammen konnte, aus dem nur Mysterien- und Moralitätenspiele überliefert sind.
In die Tragödie "Ǽlla" ist das Gedicht "Dirge" ("Totenklage") eingeflochten, das in keiner gründlichen Anthologie der englischen Lyrik des 18. Jahrhunderts fehlt. Formal weist das Gedicht zum Volkslied hin, wie zum Beispiel der Refrain zeigt, thematisch spielt es wahrscheinlich auf Ophelias Tod in Shakespeares "Hamlet" an:
"Oh! sing unto my roundelay:
Oh! drop the briny tear with me;
Dance no more at holiday;
Like a running river be.
My love is dead,
Gone to his death-bed,
All under the willow-tree.
Black his hair as the winter night,
White his rode as the summer snow,
Red his face as the morning light!
Cold he lies in the grave below.
My love is dead,
Gone to his death-bed,
All under the willow-tree.
Hark! the raven flaps his wing,
In the briard dell below;
Hark! the death-owl loud doth sing
To the night-mares, as they go.
My love is dead,
Gone to his death-bed,
All under the willow-tree.
O stimmt in meinen Rundsang ein,
O weint mit mir, an Tränen reich,
Kein Tanz soll mehr am Festtag sein,
Dem Fluße werdet alle gleich.
Liebchen mein
Im Totenschrein
Liegt unterm Weidenbaum.
Sein Haar war schwarz wie Winternacht,
Und weiß die Haut wie Sommerschnee,
Sein Antlitz rot wie Morgenpracht,
Nun liegt es kalt im Grabe, weh!
Liebchen mein
Im Totenschrein
Liegt unterm Weidenbaum.
Horch, horch! Der Raben Schwirren klingt
Hohl aus dem buschigen Tal empor,
Horch, horch! Die Toteneule singt
Den huschenden Gespenstern vor.
Liebchen mein
Im Totenschrein
Liegt unterm Weidenbaum."