Niels Höpfner
Der Hummelforscher
Ich
bin ein alter Mann. Zeit meines Lebens bin ich nie mit dem Gesetz in Konflikt
gekommen. Nie. Ich stehe zum erstenmal vor den Schranken eines Gerichts. Mir ist
diese Situation nicht vertraut. Ja, ich finde sie geradezu befremdlich.
Es ist mir alles so furchtbar peinlich... Verzeihen Sie, meine Herren, wenn ich etwas stockend rede. Aber ich muß mich erst in diese Situation, die für mich neu ist, hineinfinden. Ich bin ja bereit auszusagen. Und ich will Ihnen die Wahrheit erzählen, nichts als die Wahrheit. Die ganze Wahrheit. Sie sollen die ganze Wahrheit zu hören bekommen. Es ist mir wirklich alles furchtbar peinlich ...
Hohes Gericht: Ich bin bereit, mich der irdischen Gerechtigkeit zu stellen ... ja ... wo soll ich beginnen? Am besten beginne ich mit dem - Anfang ... ich will Ihnen berichten, wie alles anfing ... Jeder Anfang hat seinen Grund ... ein Anfang ist nie grundlos ... und bei mir war der Grund: Der Gärtner!
Obwohl alles schon Jahrzehnte zurückliegt, erinnere ich mich daran, als ob es gestern gewesen wäre ... Ein Kindheitserlebnis. Ich will Ihnen von diesem Kindheitserlebnis erzählen, das für mein Leben entscheidend war... das mein ganzes Leben geprägt hat...
Ich entstamme einem alten Gutsbesitzergeschlecht. Die Familienchronik reicht bis zu den Ordensrittern ... komme keineswegs von irgend einem armseligen Bauernhof ... riesige Ländereien ... mit einem Herrensitz, verstehen Sie? Knechte, Mägde ... kaum zu zählen, das Gesinde ... Und zum Gesinde gehörte auch: dieser verdammte Gärtner. Meine Frau Mutter liebte Rosen über alles, und jener Gärtner hatte sich um nichts anderes als um ihre Rosenstöcke zu kümmern. Er aber entpuppte sich als Unmensch, jenes Subjekt, jenes In-di-vi-du-um ging während seiner Arbeit einem mörderischen Vergnügen nach: Mit der Rosenschere zerfetzte er... schnipp ... schnipp .... schnipp ... jede, aber auch jede vorbeifliegende HUMMEL ... die Schere war immer blutbefleckt ... immer ... Für mich als Kind ist das ein großer Schock gewesen... ich veranlaßte die Entfernung des Mörders von unserem Gut... und ich beschloß, mein Leben ... fortan ... ausschließlich ... den Hummeln zu widmen.
Im letzten Jahr Jahr konnte ich mein 60jähriges Jubiläum als Bombologe... ähh... als Hummelforscher begehen. Mit Stolz darf ich behaupten, daß ich auf dem Gebiet der Bombologie als internationale Kapazität gelte.
Bereits vor 46 Jahren veröffentlichte ich mein ... auch heute noch gültiges Standardwerk Vom Segen der Hummeln - Eine Anleitung zur Einbürgerung, Haltung und Vermehrung in Nistkästen ... Durch widrige Umstände erlebte das Werk leider nur eine einzige Auflage. Es ist im Buchhandel nicht mehr erhältlich, kann aber immer noch bezogen werden direkt von mir. Außerdem ist es vorhanden in allen größeren Bibliotheken der Welt... Mein Bruder, übrigens, hat es zum ... nicht einmal unbedeutenden ... Hornissenforscher gebracht.
Ja... ich fahre fort mit meinen Ausführungen... Auch wenn Kriege, Inflation und Währungsreform das Familienvermögen schmälerten, so konnte ich vom Erbe doch immer meinen Lebensunterhalt bestreiten ... ja, ich konnte sogar eine Frau ernähren ... ich persönlich lebe sehr bescheiden und habe keine großen teuren Ansprüche ... Hauptsache, es geht meinen Hummeln gut ... ich bin also immer in der glücklichen Lage gewesen, nie einen Brotberuf ausüben zu müssen ... Universitäten ... höchst angesehene ... haben mir ... wiederholt! ... einen Lehrstuhl angeboten, aber ich habe alle Professuren abgelehnt... alle... allerdings... ich bin korrespondierendes Mitglied von zwei, drei Dutzend Akademien ... global... in Staatsdienste zu treten, ist mir nicht einmal im Traum eingefallen ... ein solcher Schritt ist mir immer absurd vorgekommen ... ich wollte nie einem Staat dienen, gleichgültig welchem ... Staatsdiener... wie allein schon das Wort klingt... es ist immer mein Wunsch gewesen, unabhängig zu bleiben ... ich wollte immer ... frei sein ... frei (Kichern) ... wie meine Hummeln.
Die Hummel: ... Klasse: Insecta ... Ordnung: Hymenoptera ... Familie: Adipae ... Gattung: Bombus ... die Hummel gibt es seit 80 bis 100 Millionen Jahren ... stellen Sie sich das vor, hohes Gericht ... seit 80 bis 100 Millionen Jahren! ... Und der Mensch? Was ist dagegen der Mensch? Ein Nichts ... allenfalls eine Episode ... allenfalls ... Im Vergleich zu Bombus: Grashummeln ... Erdhummeln ... Baumhummeln ... Sandhummeln ... Deichhummeln ... Dreihundert... fünfhundert ... vielleicht sogar achthundert Arten von Hummeln bevölkern die Erde ... sogar in der Antarktis kommen sie vor...
(Triumphierend) Hummeln können noch bei minus fünf
Grad überleben ... längstens noch nicht sind alle Hummelarten bekannt ... die
Hummelwelt, die Welt der Hummeln ist für den Menschen immer noch eine ... terra
incognita ... ein Buch mit sieben Siegeln ... ein weißer Fleck auf der Landkarte
des Wissens ... Ich darf mich rühmen ... mit aller Bescheidenheit ... der
Entdecker der Waldhummel zu sein ... Bombus silvarum ... und außerdem
schreibt mir die Wissenschaft die Entdeckung der sogenannten Veränderlichen
Hummel zu ... Bombus humilis variabilis ... Ich bin, glaube ich, der einzige
Mensch auf der Welt, der imstande ist ... mit geschlossenen Augen ... nur nach
Gehör... die Art einer Hummel zu bestimmen ...ja...
Wolfgang Büttner spricht den Hummelforscher
Meine Herren, gestatten Sie mir, daß ich auf den Hummel-Alltag zu sprechen komme ... um es einmal populär zu formulieren ... Ja ... Gründerin eines Hummelvolkes ist die Hummelkönigin ... (Zärtlich) Sie kreiselt im Frühjahr über Wiesen und Felder... mit einer Geschwindigkeit von vierzig bis sechzig Stundenkilometern ... und saugt mit ihrem Rüsselchen Nektar aus den ersten Blüten ... bürstet mit den Beinchen Blütenstaub ab ... denn es gilt, eine große Familie zu gründen ... in Vogelnestern ... in Baumhöhlen ... im Gebälk von Scheunen ... meistens jedoch, zu ebener Erde, in verlassenen Mäusenistplätzen ... ja, dort am häufigsten ... die Königin flicht aus Stroh, aus Maulwurfsfellwolle und aus Mäusefellwolle eine dichte Kugel... aus Pollen und Wachs baut hier die Königin, von morgens bis abends, ihre Brutzellen ... eine Zelle jeweils für sieben bis fünfzehn Eier... der Bau wird versiegelt mit Pollen und Wachs... enorm die Fürsorglichkeit der werdenden Mutter ... enorm ... nicht länger als zwanzig Minuten und nur zum Besorgen von frischem Nektar verläßt die Königin ihre Brut ... für einen eventuellen Versorgungsengpaß hängt am Eingang der Nestkugel ein Vorratstopf ... das sogenannte Tönnchen ...
Die ersten Larven schlüpfen nach etwa drei bis sechs Tagen... hilflose Babies, ganz auf Mutters Fütterung angewiesen... dann nach mehrmaligem Häuten... spinnen sie einen Kokon und verpuppen sich... neun bis zwölf Tage später sind zuerst die Arbeiterinnen erwachsen, nach zweiundzwanzig Tagen die Drohnen... und nach vierundzwanzig Tagen, als Krönung, sozusagen, die Jungköniginnen ... in Schüben schlüpfen immer mehr Hummeln, immer mehr, bis ein Volk seine optimale Stärke erreicht hat ... je nach Art 50 bis 600 Exemplare ... schon etwa sechs bis acht Wochen nach ihrer Staatsgründung ist die Königin unfruchtbar ... es sterben die Arbeiterinnen der ersten Stunde, während die Jungköniginnen auf Hochzeitsflug gehen ... sie vergnügen sich mit den Drohnen, lassen sich anlocken von dem Duft, der sie betört ... und dann, dann haben auch die Drohnen ihre Schuldigkeit getan ... eine Zweiwochenexistenz fristen sie lediglich ... gehen zugrunde nach dem Hochzeitsflug ... fröhlich und munter sammeln die Jungköniginnen in ihrer Honigblase etwa fünf Milligramm Nektar, futtern sich ungefähr hundert Milligramm Fett an, bevor sie sich zu ihrem Winterschlaf zurückziehen ... Wundervoller Kreislauf der Natur nach einem genialen Plan ... unergründlich ...
Hohes Gericht: der Mensch ist das furchtbarste Tier... denn er ist verantwortlich für das große Hummelsterben ... Chemie ... Pestizide ... hierzulande sind von neunundzwanzig Hummelarten in einzelnen Gegenden bereits zehn verschwunden ... acht sind vom Aussterben bedroht... sieben sind stark gefährdet ... und es wird immer wieder vergessen: Hummeln bestäuben, gemeinsam mit ihren Vettern, den Wespen und Bienen, fast dreiviertel aller Pflanzen ... die gesamte Weltflora ist in Gefahr ... die Weltflora!
Ich hoffe sehr, daß meine Verteidigungsrede als ein Aufruf zur Rettung der Hummelwelt begriffen wird ... Und wenn Sie mich, hohes Gericht, einsperren ... ins Gefängnis werfen ... womit ich fast rechne ... dann bitte ich darum, in der Zelle meine Hummelforschungen weiterführen zu dürfen ... und da es Forschungen an Lebewesen sind, bitte ich Sie, mir zu gestatten, daß ich in meiner Zelle Hummeln halten darf ... sie sollen täglich mit einer Fruchtzuckerlösung gefüttert werden ... ein Leben ohne Hummeln ... das wäre für mich ... der Tod.
Ja... Wenn ich so mein Leben überblicke, komme ich zu dem Schluß: Hummeln sind die liebenswertesten Wesen der Welt ... sie tun niemandem etwas zuleide, der sie nicht angreift... unsere Wunschbrüder und Wunschschwestern: die Hummeln.
Ich hätte niemals heiraten dürfen ... meine Frau hatte nie Verständnis für meine Hummelleidenschaft... nicht das geringste Verständnis hatte sie dafür ... sie wollte immer nur, daß ich Karriere mache ... im normalen bürgerlichen Sinne ... sie hat nie begriffen, daß ich Karriere gemacht habe ... sie hat mich verspottet ... und verhöhnt... weil ich doch so sehr an meinen Hummeln hing... meine Hummeln waren mir ... sind mir wie - Kinder. Adoptivsöhne, Adoptivtöchter ... darum hab ich es auch strikt abgelehnt, meine Frau zu schwängern ... Ihre Eifersucht auf meine Hummeln war unerträglich ... manchmal redete sie tagelang kein Wort mit mir ... kein einziges Wort ... nur weil sie eifersüchtig auf meine Hummeln war ... hätte meine Frau ein eigenes Kind von mir bekommen, dann wäre mein sehnlichster Wunsch gewesen, sie hätte eine ... Riesenhummel zur Welt gebracht ... eine Demonstrationshummel für alle Welt.
Nein, diese Heirat war ein Fehler ... dieser Irrtum hätte mir nie passieren dürfen ... aber jeder ist im Leben einmal jung und - leichtsinnig... um nicht zu sagen: töricht ... dann genügt schon ein Kuß ... ja, ein Küßchen ... um den Verstand zu verlieren ... und, schwupp, sitzt man im Käfig ... und das anfängliche fleischliche Vergnügen aneinander ... so man es hatte ... wird auf die Dauer auch immer schaler ... und der beiderseitige physische Verfall ist unaufhaltsam ... welch ein Ekel, zerknitterte Haut zu streicheln ... einen ausgemergelten ausgedörrten Körper... einen vor Fett wabbelnden Leib zu streicheln, ist genauso schlimm ... es gibt nichts Widerlicheres, als alt zu sein ... ich sage das hier ganz offen ... entgegen der landläufigen Meinung, die sich so gern in der Verherrlichung des Alters gefällt... alles nur Lüge ... Lüge ... Lüge ... und auf den Straßen Jugend nachglotzen ... mit speichelloser Zunge sich die Lippen lecken ... nein, ewige Jugend haben einzig und allein meine Hummeln.
Heute erkenne ich genau, daß die Ehe nur meinen Lebensplan gestört hat... meine Frau ist mir, im Laufe der Zeit, immer mehr wie eine Kuckuckshummel vorgekommen ... die einzige Hummelspezies, die mir zuwider ist ... die Kuckuckshummel ist darauf spezialisiert, sich bei einer Wirtshummel einzunisten... um zu schmarotzen ... ein Sozialparasit... nicht in der Lage, selbst etwas zu leisten... Nein, ich hätte nicht heiraten sollen. Als Junggeselle hätte ich noch wesentlich mehr meinen Hummeln beistehen können.
Ja, ich komme jetzt auf jenen Schicksalstag zu sprechen, der mir bis ans Lebensende unauslöschlich in Erinnerung sein wird ... unauslöschlich ...
Es war ein Sonntag ... ein naßkalter trüber Tag im Herbst ... Meine Frau servierte mir, pünktlich wie immer, Schlag sieben Uhr das Abendessen. Ich habe immer auf pünktliche Mahlzeiten bestanden, denn Unregelmäßigkeit ist der Gesundheit abträglich ... Meine Frau war außergewöhnlich gutgelaunt, ja geradezu aufgekratzt war sie. So hatte ich sie jahrelang nicht mehr erlebt. Das hätte mich mißtrauisch machen müssen ... mir hätte Böses schwanen müssen ... mir hätte eigentlich schwanen müssen, daß sie irgend etwas gegen mich im Schilde führte ... ich aber war arglos ... völlig arglos ... ich löffelte, ohne besonderen Genuß, meine Tomatensuppe ... neben dem Teller aufgeschlagen meine Fachzeitschrift Der Hummelbote... schließlich lasse ich mich nicht durch eine läppische Tomatensuppe von meinen Studien ablenken ... und außerdem war es eine Suppe aus der Dose ... während unserer ganzen Ehe hat meine Frau keine einzige eigene Suppe zustande gebracht... immer nur Dosensuppen ... und wenn sie mich besonders quälen wollte, dann gab es Tomatensuppe ... an sich schätze ich Tomatensuppe sehr, aber sie muß frisch sein ... frisch ... aus frischen Tomaten ... alles andere ist: Barbarei... nein, meine Frau konnte absolut nicht kochen ... aber was konnte sie überhaupt schon ... Nach der Tomatensuppe jedoch geschah ein - kulinarisches Wunder ... als Hauptgericht trug meine Frau eine Pastete auf, wie ich sie so köstlich nie ... mein ganzes Leben lang ... nie gegessen hatte ... ihren Geschmack zu beschreiben, dafür reichen Worte nicht aus ... es war eine Pastete von unübertrefflicher Köstlichkeit... höchste Zungenfreude, höchstes Gaumenglück ... jeder Bissen wie ein Kuß ... Manna ... Himmel und Erde berührten sich ... Ich duldete es nicht, meiner Frau auch nur einen einzigen Happen zu überlassen ... nicht das kleinste Bröckchen ... ich verspeiste die Pastete allein ... ganz allein ...
Mit jedem Bissen durchströmte mich immer größeres Wohlgefühl ... das Mahl war wie ein Jungbrunnen ... Käse schließt den Magen. Als ich meine Frau um ein Eckchen Camembert bat, sagte sie hämisch: Hol ihn dir doch selbst, du weißt doch, wo der Kühlschrank steht. Ich bin es leid, dir noch länger das Dienstmädchen zu machen ... so oder so ähnlich beliebte sie, sich auszudrücken ...
Zwar ist mir eiskalter Camembert zuwider, aber trotzdem ging ich zum Kühlschrank... öffnete ihn... und brach beinahe zusammen ... vor Entsetzen ... Am Tage zuvor hatte ich in dem Kühlschrank einen Karton deponiert ... mit 98 Hummelköniginnen ... um sie in den Winterschlaf zu wiegen ... der Karton war leer... Und meine Frau warf mir höhnische Blicke zu ... ihr Gesicht war haßverzerrt... und sie begann zu lachen und lachte immer lauter... als ob sie von Sinnen wäre...
Da fiel es mir wie Schuppen von den Augen ... und ich begriff das entsetzliche Geschehen ... Weltuntergang ... ich ergriff eine Schere und stach damit auf meine Frau ein ...Immer wieder... immer wieder... ich habe nicht gezählt, wie oft es war... aber es kommt mir heute wie eine höhere Gerechtigkeit vor, daß ich genau achtundneunzigmal zugestochen haben soll ... noch heute dröhnt mir in den Ohren dieses bestialische Lachen meiner Frau ... ich konnte nicht anders handeln ... ich mußte es tun ... Verstehen Sie mich, Herr Staatsanwalt? Sie verstehen mich doch auch, Herr Richter, oder? ... Wollen Sie wissen, meine Herren, was sich am Tag des Jüngsten Gerichts ereignen wird?... Es wird ein Schwirren und Summen sein, ein Surren und Brummen ... Millionen und Abermillionen von Hummeln werden sich rächen... an dieser Menschheit.
Gedruckt in:
Laubacher Feuilleton, München, Nr. 19/ September 1996; gesendet im
Südwestfunk/ Baden-Baden, 23.9.1985