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Literarische Rückrufaktion

Heinrich Böll hat J. D. Salingers «Fänger im Roggen» völlig falsch übersetzt. Das wird jetzt endlich korrigiert

 

 

 

Von REINHARD HELLING

 

Als «Wiederentdeckung» kündigt der Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch für den kommenden Februar eine Neuübersetzung von J. D. Salingers Klassiker «Der Fänger im Roggen» an. Dabei war der einzige Roman des US-Autors weder vergriffen noch vergessen. Vielmehr ist die Neuauflage der Identitätssuche von
Holden Caulfield eine heimliche Rückrufaktion für die 40 Jahre lang gedruckte deutsche Fassung von Heinrich Böll.

Die ist nicht nur veraltet, sondern war von Anfang an eine unzulängliche Version von «The Catcher in the Rye» (1951). Ein Umstand, der seinen Erfolg hier zu Lande gleichwohl nicht verhindern konnte. Auch weil der Roman bis heute Schullektüre ist
und sich um den völlig zurückgezogen lebenden Autor blumige Legenden ranken, verkaufte sich Bölls «Fänger» im deutschsprachigen Raum knapp 1,4 Millionen Mal.
Weltweit beträgt die Auflage der in drei Dutzend Sprachen übersetzten Bibel der Jugend heute mehr als 60 Millionen Exemplare.

Bölls Übersetzung hat eine kaum bekannte Vorgeschichte. Sein «Fänger» ist nämlich die Überarbeitung einer früheren Übersetzung, die Irene Muehlon 1954 für den Zürcher Diana-Verlag angefertigt hatte. Doch «Der Mann im Roggen» blieb ohne
nennenswerte Resonanz. Als 1961 in den USA mit dem Erscheinen von «Franny and Zooey» der Kult um den öffentlichkeitsscheuen Salinger einsetzte, kaufte Kiepenheuer den Schweizern die verbliebenen Exemplare ab und ließ den Freizeit-Übersetzer Böll sein Glück versuchen. Eine fatale Entscheidung.

Bereits 1966 hat Volker Marwitz in einer Examensarbeit die beiden deutschen Ausgaben untersucht. Das Ergebnis war erschütternd: «Bölls Übersetzung zeugt von ungeheurer Schlampigkeit und skandalösen Verbiegungen des Originals», so der
heutige Leiter des Goethe-Instituts Bremen. Auch die Literaturwissenschaftlerin Irene Hinrichsen kam 1978 in ihrer Untersuchung «Der Romancier als Übersetzer» zu dem Schluss, auf das Konto des späteren Literaturnobelpreisträgers gingen
«grobe Nachlässigkeiten und sinnentstellende Fehler». Besonders an Salingers Stilmittel der Wortwiederholungen hat sich Böll abgearbeitet: Oft ließ er diese einfach weg oder ersetzte sie durch Synonyme - ein falsch verstandenes Mitleid mit Holdens begrenztem Wortschatz. An eine breite Öffentlichkeit gelangten diese katastrophalen Befunde nie.

In England wurde der Roman gekürzt und zensiert

Dass Bölls Überarbeitung von Muehlons prüder Fünfzigerjahre-Übersetzung nicht die Frechheit des Originals erreicht, hat einen weiteren Grund. Ihm - wie auch Muehlon - lag als Ausgangstext eine in London erschienene «Catcher»-Ausgabe vor. Die aber weicht gravierend vom Original ab. Das deckte 1994 der Lektor Tim Bates
auf, der für Penguin eine Neuedition vorbereitete: «Ich musste 800 Änderungen vornehmen, um den Originaltext zu rekonstruieren.» Bei der ersten britischen Hardcover-Ausgabe hatte der Verlag Hamish Hamilton Holdens Odyssee durch New York gekürzt, Namen verdreht, Flüche des 17-Jährigen zensiert, Kursivsetzungen übergangen und selbst die Widmung «To My Mother» unterschlagen.

Jetzt endlich hat sich Kiepenheuer zur Korrektur dieses Missstandes entschlossen. Zwar erst nach vier Jahrzehnten - aber immerhin. Mit Eike Schönfeld, 53, wurde ein erfahrener Übersetzer (er übertrug u. a. Susan Sontag, Martin Amis und Henry Roth ins Deutsche) an das amerikanische Original gesetzt.

Drei Monate hat er an der Neufassung gearbeitet. Begeistert hat ihn die Sprache des Helden: «Sie ist wie ein Stock, an den Holden sich klammert und mit dem er sich gegen die Zumutungen wehrt, die ihm widerfahren.» Am kniffligsten fand Schönfeld die angemessene Wiedergabe der häufigen Flüche wie «goddam» und von Beschimpfungen wie «bastard». Auch die inflationär benutzten Anhängsel wie «and all», «or anything» oder «or something» zwangen ihn zu wiederholtem Feilen, um nicht in ein ständiges «und so» zu verfallen.

Schönfeld hat nicht den Fehler seiner Vorgänger begangen, die Sprache des Helden verbessern zu wollen. «Ich verstehe mich als Komplize des Autors», sagt er, «und wenn Holden unpassende Begriffe verwendet, die wie geborgte kraftmeierische  Versatzstücke wirken - was Salinger sehr bewusst zur Charakterisierung seines Protagonisten getan hat -, dann müssen sie auch auf Deutsch wie geborgt wirken.»

«Fuck you» heißt jetzt auch im Deutschen «fuck you»

Einen Ausdruck hat Schönfeld nicht übersetzt. Bezeichnenderweise jenen, der in der britischen Ausgabe verstümmelt «- you» lautet und den Muehlon verschämt mit «...»
wiedergegeben hat, während Böll mit einem völlig unverständlichen «dich ...» aufwartete. In Schönfelds Übersetzung heißt es wie im Original «fuck you». Und das dürfte jedem Leser verständlich sein.

«Frech und witzig, traurig und provozierend» nennt Kiepenheuer das Ergebnis von Schönfelds Spracharbeit. Zum neuen Sound dürfte auch beigetragen haben, dass der Ich-Erzähler den Leser nun nicht mehr siezt. «Es ist, als lese man ein neues Buch», meint der Verlag - und distanziert sich damit deutlich vom eigenen
Hausheiligen Böll.

Ob Jerome David Salinger, der am 1. Januar 84 Jahre alt wird, von der Runderneuerung weiß, ist nicht bekannt. Sicher ist nur, dass die von ihm beauftragte Literaturagentur Harold Ober strenge Vorgaben macht: Der Umschlag darf kein Foto enthalten, keine Illustration, nicht einmal einen Klappentext.

Jetzt, da ein Anfang zur Salinger-Renaissance gemacht ist, wünschte man sich noch ein wirklich neues Buch des Autors. Wenn der schon partout schweigen will, sollte er wenigstens seine letzte Wortmeldung, die 1965 im «New Yorker» abgedruckte
Erzählung «Hapworth 16, 1924», als Buch erscheinen lassen. In Amerika jedenfalls soll das bald geschehen. Vielleicht kommt sie dann bald auch auf Deutsch. In der Zwischenzeit dürfen wir uns auf den ersten echten «Fänger im Roggen» freuen.

 

 

(zuerst erschienen in: SonntagsZeitung, Zürich; 29. Dezember 2002)

 


 © 2014 Reinhard Helling

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