GOETHE UND SEIN "BLITZ PAGE" PHILIPP SEIDEL ·
Zur Homosexualität des Dichterfürsten
Wenn
es denn nun so war, daß Goethe erst 1788 in Rom zu seinem ersten Koitus mit
einer Frau kam, dann lautet die Kardinalfrage für seine Biographie: Wie hat
Goethe, ein Mann voller Aktivitäten, strotzend vor Saft & Kraft, fast 40
Jahre sein Triebleben organisiert? Hat er seine Libido ausschließlich
schreibend sublimiert? Hat er sich nolens volens auf Onanie beschränkt? Huren dürfte
er wohl kaum aufgesucht haben, aus (berechtigter) Angst vor Syphilis (die damals
kaum heilbar war); obendrein stand er unter ständiger sozialer Kontrolle,
Weimar war ein Klatschnest mit seinerzeit6
000 Seelen. Aber von der biedersinnigen Germanistik ist die Kardinalfrage
anscheinend nie gestellt worden. Dabei hat sie nichts mit Schlüssellochguckerei
oder Sensationshascherei zu tun, sondern gehört einfach zu einer so eminenten
Persönlichkeit wie Goethe, über den der Interessierte alles und jedes wissen
will. Und sie nicht stellen zu dürfen, bedeutete das Ende jeglicher Biographik.
Ich
stelle, Goethe betreffend, ein paar logische Fragen und gebe einige logische
Antworten. Ob die Antworten richtig sind, weiß ich nicht, da ich nicht der
Kerzenhalter neben Goethes Lager gewesen bin. Aber die Wahrscheinlichkeit, daß
es so war, wie von mir geschildert, halte ich für sehrhoch. Und wenn es so war, gewinnt der Olympier nur an Menschlichkeit.
Niels
Höpfner
War Goethe schwul? Die Frage will nicht verstummen, obwohl sie klar zu beantworten ist: Er war es nicht. Aber er hat sich in homosexuelles Fühlen hineingedacht wie wenige, hat den großen Winckelmann als Schwulen gewürdigt, in der "Harzreise" schwulen Selbsthaß thematisiert und nicht zuletzt mit dem "Erlkönig" eine männlich pädophile Vergewaltigungsphantasie gedichtet, wie Nicholas Boyle schlagend nachgewiesen hat. Und da soll er selber davon lebensweltlich unberührt geblieben sein? Niels Höpfner meint mit guten Gründen: nein. Meint, in Goethes Verhältnis zu seinem Diener Philipp Seidel "Nothomosexualität" nachweisen zu können, zumindest für den Goethe der ersten Weimarer Jahre (1775 bis 1786) und vor dem heterosexuellen Comingout in Italien. Briefe des "Blitzpagen" sprechen eine deutliche Sprache: "Wir haben ganz das Verhältniß wie Mann und Frau gegeneinander. So lieb ich ihn, so er mich, so dien ich ihm, so viel Oberherrschaft äußert er über mich." So Seidel am 15. Oktober 1777 an einen Freund.
Tilman Krause/"Die Welt", 16. April 2005
Bücher wie das von Niels Höpfner, das angeblich "Kardinalfragen" zu Goethe beantwortet, sind nicht Desiderata, sondern Nägel am Sarg der ernsthaften Biographik.Kai Agthe/ "Thüringische Landeszeitung", 3. Mai 2005
Es gibt wohl kein Detail im Leben des Johann Wolfgang von Goethe, das nicht bereits zu Lebzeiten, spätestens jedoch nach seinem Tod 1832 minutiös erforscht wurde. Bis auf eine klitzekleine Fußnote: die mutmaßliche Homosexualität des Dichterfürsten. [...] Anhand von Briefen, diversen Goethe-Zitaten und Einschätzungen anderer Goethe-Experten sowie allerlei Rückschlüssen unterstellt Höpfner dem Dichter eine unterschwellige homophile Neigung. Der Text liest sich recht unterhaltsam - trotz der vielen mit germanistischem Eifer eingefügten Zitate. Auch erfährt der geneigte Leser weitere interessante Details aus der privaten Existenz Goethes. Höpfners Antworten auf seine drängenden Fragen kann man goutieren, muss es aber nicht.
Emmanuel van Stein, "Kölner Stadt-Anzeiger", 27.8.2005