Niels
Höpfner
Stallknechte
des Pegasus
Über
drei Poeten-Freunde
Er
ist der ›Urvater‹ aller Stallknechte
des Pegasus: Gaius Maecenas, gestorben im Jahr 8 vor unserer Zeitrechnung.
Ein sehr reicher Herr, politisch höchst einflußreich, und ein dichtender
Dilettant. Er förderte, gesellschaftlich und materiell, die Großdichter seiner
Zeit: Vergil, Horaz, Properz und auch etliche Kleindichter, die heute nur noch
Experten bekannt sind.
Er sonnte sich im Glanz seiner erfolgreichen Poeten, ließ sich von ihnen ihre Werke widmen oder selbst odisch verherrlichen, wie von Horaz: »O Maecenas, du Sproß ältesten Fürstenstamms / du mein schützender Hort, freudiger, hoher Stolz!« Maecenas hat es weit gebracht, bis zur höchsten Adelung: sein Name wurde Begriff – als Mäzen ging er in die Sprache ein und ins Lexikon. Hier jedoch soll Rede sein von drei unbekannteren Maecenas-Nachkommen, die im vergangenen Jahrhundert Dichter der deutschen Literatur förderten als Stallknechte das Pegasus.
Die
Innsbrucker Halbmonatszeitschrift ›Der Brenner‹ druckte in ihrer Nummer vom
1. Mai 1912 das Gedicht ›Vorstadt im Föhn‹: es war die erste Veröffentlichung
von Georg Trakl. In der kurzen Lebenszeit, die Trakl noch blieb, weniger als
zwei Jahre, sind von ihm schließlich insgesamt 65 Gedichte im ›Brenner‹
erschienen.
Der
Herausgeber der Zeitschrift, Ludwig von Ficker, war durch Empfehlungen auf Trakl
aufmerksam geworden und förderte ihn und sein Werk mit einer in der
Literaturgeschichte exorbitanten Leidenschaft, fast hellseherisch begabt im
sofortigen Erkennen von Trakls überragendem Talent.
Die
erste persönliche Begegnung zwischen dem Mentor und seinem Schützling fand am
22. Mai 1912 im Innsbrucker Café Maximilian statt, wo sich im ersten Stock der
Treffpunkt von ›Brenner‹-Mitarbeitern befand. Ludwig von Ficker erinnerte
sich später: »Wieder einmal hatte ich mich, bald nach Mittag, dort
eingefunden, um am sogenannten Brennertisch Freunde zu treffen. Kaum hatte ich
mich gesetzt, als mir in einiger Entfernung ein Mensch auffiel, der zwischen
zwei Fenstern, die auf die Maria-Theresienstraße hinausgingen, allein auf einem
Plüschsofa saß und mit offenen Augen vor sich hin zu sinnen schien. Die Haare
kurz geschoren, mit einem Stich ins Silbrige, das Gesicht von unbestimmbarem
Altersausdruck: so saß dieser Fremde also da, in einer Haltung, die unwillkürlich
anziehend wirkte und gleichwohl Distanziertheit verriet. Doch merkte ich schon,
auch er sah, wenn auch scheinbar in sich gekehrt, mit prüfendem Blick
wiederholt zu uns herüber, und, kaum war ich aufgetaucht, dauerte es nicht sehr
lange, daß mir der Ober seine Karte übergab: Georg Trakl. Erfreut stand ich
auf – denn kurz vorher hatte ich sein Gedicht ›Vorstadt im Föhn‹ veröffentlicht
–, begrüßte ihn und bat ihn an unseren Tisch.«
Wer
war dieser Ludwig von Ficker? Er wurde geboren 1880 in München, wo er seine
ersten 15 Lebensjahre verbrachte, als Sohn eines in Innsbruck lehrenden
Universitätsprofessors für Rechtsgeschichte; die Mutter war eine Lehrerin aus
Bruneck in Südtirol. Dann die Übersiedelung der Familie nach Innsbruck; als
17jähriger erste literarische Versuche und der Wunsch, Schauspieler zu werden.
1898 Mitglied der Innsbrucker Literatur- und Kunstgesellschaft ›Pan‹; 1900
wurde sein Drama ›Sündenkinder‹ am Innsbrucker Stadttheater »mit einigem
Erfolg« uraufgeführt. Auf Wunsch des Vaters Beginn eines Jurastudiums, das
jedoch mit dessen Tod 1902 endete; danach kunstgeschichtliche und germanistische
Studien in Berlin, Wien und. Rom. Nach dem Tod der Mutter heiratete er 1908 eine
Schwedin und versuchte, als freier Schriftsteller zu leben. Das väterliche Erbe
ermöglichte ihm einen großbürgerlichen Lebensstil – auf Photographien sind
seine Anzüge aus bestem Tuch: ein Gutbetuchter! – und 1910 die Gründung
seiner Zeitschrift ›Der Brenner‹, die er bis 1954 herausgab. In biblischem
Alter ist Ludwig von Ficker 1967 in Innsbruck gestorben.
Das
entscheidendste Ereignis seines Lebens dürfte wohl die Entdeckung Georg Trakls
gewesen sein – zumindest gründet darauf sein Verdienst um die deutsche
Literatur. Ficker war es auch, der, mit Hilfe von Karl Kraus, den Leipziger
Verleger Kurt Wolff zur Herausgabe von Trakls erstem Lyrikband ›Gedichte‹
veranlaßte – das einzige Buch Trakls, das noch zu seinen Lebzeiten erschien.
Ludwig
von Ficker wurde für Trakl zu einer Vaterfigur, denn der eigene Erzeuger hatte
keinen Sensus für die künstlerischen Ambitionen seines Sprößlings, in dem er
wohl eher einen endgültig verlorenen Sohn sah. Ludwig von Ficker hingegen,
unbeirrbar und apodiktisch, über Trakls Dichtung: »Ihr Blick hat alles
Zeitliche in sich überwunden.«
Ludwig
von Ficker war nicht nur der literarische ›Sponsor‹ für Trakl, sondern auch
sein Vertrauter in seelischer Not. Trakl in einem Brief vom April 1914 an Ludwig
von Ficker: »Vielleicht schreiben Sie mir zwei Worte; Ich weiß nicht mehr ein
und aus. Es (ist) ein so namenloses Unglück, wenn einem die Welt entzweibricht.
O mein Gott, welch ein Gericht ist über mich hereingebrochen. Sagen Sie mir, daß
ich die Kraft haben muß noch zu leben und das Wahre zu tun. Sagen Sie mir, daß
ich nicht irre bin. Es ist ein steinernes Dunkel hereingebrochen. O mein Freund,
wie klein und unglücklich bin ich geworden. Es umarmt Sie innig Ihr Georg
Trakl.«
Mitte
Juli 1914 erhielt Ludwig von Ficker einen Brief eines ihm unbekannten Mannes mit
höchst ungewöhnlichem Inhalt: »Sehr geehrter Herr! Verzeihen Sie, daß ich
Sie mit einer großen Bitte belästige. Ich möchte Ihnen eine Summe von l00.000
Kronen überweisen und Sie bitten, dieselbe an unbemittelte österreichische Künstler
nach Ihrem Gutdünken zu verteilen.«
Der
25jährige Mäzen war niemand anders als der spätere Philosoph Ludwig
Wittgenstein, der als Sproß einer der reichsten Familien Österreichs nach dem
Tode des Vaters einen Teil seines Erbes wohltätigen Zwecken zur Verfügung
stellte. Ficker gab, mit größter Selbstverständlichkeit, ohne jedes Zögern,
20.000 Kronen an Trakl weiter. Einer Anekdote nach soll dieser schweißgebadet
aus der Bank geflüchtet sein, als er in Fickers Begleitung von seinem Guthaben
Geld abheben sollte.
1914
meldete sich Trakl als Kriegsfreiwilliger. Nach einem psychischen Zusammenbruch
wurde er ins Krakauer Garnisonshospital eingeliefert, wo ihn als erster und
einziger Ludwig von Ficker besuchte, der über diese letzte Begegnung mit Trakl
schrieb: »Auf dem Korridor im Erdgeschoß der Psychiatrischen Klinik hielt ich
einen Wärter an, der eben vorbeikam, und fragte ihn nach Trakl. Er trat auf die
nächstgelegene Tür zu und öffnete ein Guckloch: ›Meinen Sie den da?‹ –
Ich warf einen Blick hinein: ›... danke – ja!‹ Trakl saß, die Bluse lose
zugeknöpft, auf dem Bettrand, rauchte eine Zigarette. (...) Plötzlich wandte
Trakl, die Zigarette weglegend, kaum merklich den Kopf, sah gespannt zur Tür
her, als begegnete er meinem Blick. Da hatte ich auch schon geöffnet – und
nun geschah es, daß der Freund, der sich erhoben hatte, mich groß anblickend
ruhig auf mich zukam und, ohne ein Wort zu sagen, mich in die Arme schloß.«
Nach
seinem Selbstmord Anfang November 1914 wurde Trakl zunächst in Krakau
beigesetzt. Ludwig von Ficker betrieb die äußerst schwierige Überführung der
sterblichen Überreste des Dichters nach Österreich, wo in Mühlau bei
Innsbruck erst 1925 eine zweite Beisetzung stattfinden konnte. Am Grab sprach
– wer anders? – Ludwig von Ficker einen ›Abschiedsgruß‹.
*
»Ich
empfand das Bedürfnis, für die Publikation seiner Werke und für ihn selbst
etwas zu tun. Unter allen zeitgenössischen Schriftstellern der Schweiz
schien er mir die eigenartigste Persönlichkeit zu sein.« Diese Sätze
hat Carl Seelig in seinem Erinnerungsbuch ›Wanderungen mit Robert Walser‹
geschrieben. Über die erste persönliche Begegnung, die am 26. Juli 1936 in der
Nervenheilanstalt Herisau stattfand, wo Robert Walser bis an sein Lebensende
noch weitere 20 Jahre verbrachte, berichtet er: »Nun
kam der achtundfünfzigjährige Dichter in Begleitung eines Wärters aus einem
Nebenhaus. Ich war frappiert über seine äußere Erscheinung. Ein rundes, wie
durch einen Blitzschlag gespaltenes Kindergesicht mit rot angehauchten Backen,
blauen Augen und einem kurzen, goldenen Schnurrbart. Die Schläfenhaare schon
angegraut. Der ausgefranste Kragen und die Krawatte etwas schief sitzend; die Zähne
nicht in bestem Zustand.« Carl
Seelig wurde zum Lebensmenschen Robert
Walsers, zu seiner engsten Bezugsperson während zweier Jahrzehnte, bis zu
seinem Tod 1956. Und er war einer der begeistertsten Trommler »in Sachen Robert
Walser«, ein echter glühender Walser-›Missionar‹. Robert
Mächler in seiner Walser- Biographie zur Person: »Carl Seelig, 1894 geboren,
war als Sohn des Besitzers einer Zürcher Seidenfärberei von Hause aus vermöglich.
Nach mancherlei Studien und Reisen wirkte er in Zürich als Journalist und
Schriftsteller, schrieb für zürcherische und andere Zeitungen und
Zeitschriften Buchbesprechungen und Berichte über kulturelle Veranstaltungen,
hauptsächlich über Filme und Theaterstücke, war Herausgeber und Übersetzer
und veröffentlichte eigene Lyrik. Wer nichts als das von ihm wüßte, könnte
in ihm den Typ des vielgeschäftigen Großstadtliteraten ohne festen
Gesinnungsgrund vermuten. In Wahrheit lebte er aus einer Gesinnung der helfenden
Mitmenschlichkeit, wie man sie zumal im neuzeitlichen Kulturleben, selten
antrifft. (...) Der ihn erfüllende Humanitätsglaube gab ihm den Antrieb, die
Biographie Albert Einsteins zu schreiben. (...) Seelig war noch mehr ein Täter
als ein Lobredner der Humanität. Gerne setzte er sich für abseitige und
erfolglose, ihm aus diesem oder jenem Grund sympathische Dichter und
Schriftsteller ein, förderte sie durch öffentliche Hinweise, von ihm angeregte
Preisverleihungen, persönlichen Ratschlag und manchmal auch durch unmittelbare
materielle Hilfe. Ein Helfer war er auch Flüchtlingen, Kranken und Bedürftigen
ohne Ansehen von Bildung und Leistung, zudem ein großer Tierfreund. Im Drang zu
kulturdienlichem und mitmenschlichem Wirken ließ er sich freilich auf allzu
vieles ein. Die Qualität seiner journalistischen und literarischen Arbeiten
litt darunter, und die höheren Schöngeister Zürichs behandelten ihn deswegen
ein bißchen herablassend. Aber in der Beschwingtheit seiner Herzensgüte war er
gegen Verbitterung gefeit.« Sicher
läßt sich bei Seelig bereits ein Helfersyndrom konstatieren, und in Robert
Walser fand er eine ideale Möglichkeit, ihm entsprechend zu agieren. Über dem
Dichter schwebte zeitweilig das Damoklesschwert einer Überstellung ins
Armenhaus; also sanierte Seelig zunächst die Finanzen Walsers, indem er für
ihn eine Sammlung in der Zürcher Geschäftswelt veranstaltete, die immerhin
5.000 Franken einbrachte. Auch später war er als unermüdlicher Geldsammler für
Walser unterwegs, schnorrte für ihn, was das Zeug hielt, zapfte öffentliche
Geldquellen an und vermehrte mit großem Geschick das Sparbuch-Guthaben. Noch
vor seiner Ernennung zum Vormund Walsers im Jahre 1944 konnte er einem
Verwandten des Dichters nicht ohne Genugtuung mitteilen: »Robert besitzt jetzt
auf Jahre hinaus durch das Heft, das ich für ihn angelegt habe, die Mittel, um
in der Anstalt sorgenfrei leben zu können. Ist die Summe aufgebraucht, so werde
ich Wege finden, um ihm weiter zu
helfen.« Natürlich
bewerkstelligte Seelig in den 40er Jahren auch die Publikation etlicher
Robert-Walser-Bücher, wodurch ebenfalls einiges Geld aufs Konto des Dichters
floß. Aber für uns Nachgeborene ist natürlich wesentlich wichtiger die
Existenz dieser Bücher, die es ohne Seelig nicht gäbe. Außerdem hat er uns
unschätzbar wertvolle Mitteilungen über seinen »Wanderkameraden« Robert
Walser hinterlassen. Eigentlich
wollte er noch dessen Biographie schreiben, aber der Tod hinderte ihn daran. Auf
welche Art stirbt ein hektisch-umtriebiger Mensch wie Carl Seelig? Ein
Antonio-Gaudí-Tod: am Bellevueplatz in Zürich wurde Seelig am 15. Februar 1962
tödlich verletzt, als er auf eine Straßenbahn aufspringen wollte und stürzte. * 1949
notierte Gottfried Benn in seinen autobiographischen Aufzeichnungen
›Doppelleben‹: »(...) 1932 trat jener Herr Oelze aus Bremen in mein Leben,
den ich selten sah, in dessen Haus ich nie war, mit dem ich, mit dem wir beide
gegeneinander hinsichtlich des Privaten immer ›die Regeln wahrten‹, der mich
aber brieflich hoch- und wachhielt und in jenen Jahren Balsam in meine Schrunden
träufelte. Literarisch spezialisiert war der Grund seines ersten Besuches bei
mir mein Aufsatz über ›Goethe und die Naturwissenschaften‹, der in dem dann
berühmt gewordenen Heft der ›Neuen Rundschau‹ im April 1932 stand – in
seinem Alt-Bremer Patrizierhaus ward Goethe seit Generationen sehr gepflegt. Aus
diesem Besuch entwickelte sich eine Korrespondenz, immer wachsend, die sich
heute auf nahezu zweitausend Briefe belaufen wird, und vieles von dem, was in
meinen neuen Büchern steht, fand sich als Keim und Setzling in unseren
schriftlichen Gesprächen auf jenen blauen Bogen, die er wie ich benutzten. Ich
habe ihm daher die erste Arbeit, die nach 1936 wieder erschien, ›Die drei
alten Männer‹, in Dankbarkeit gewidmet.« »Jener
Herr Oelze aus Bremen« schreibt im Vorwort zur dreibändigen Edition der
Briefe, die er von seinem Idol empfing: »Benn, der Lyriker, war mir aus seinen
1927 in Berlin erschienenen Gesammelten
Gedichten bekannt, der Goethe-Essay
war meine erste Begegnung mit dem Prosaschriftsteller, sie wurde entscheidend.
Bei der Lektüre dieser knappen, kaum sechzig Seiten umfassenden Darstellung
erfuhr ich das spontane Betroffensein, wie es nur die Kunst zu bewirken vermag,
wenn die Stunde der Bereitschaft da ist. Die Konturen bekannter Dinge schienen
plötzlich verwandelt durch das Medium einer bislang nicht gehörten Sprache,
die geeignet war, ein ›köstliches Befremden‹ zu erregen.« Der
Beginn der Freundschaft war ziemlich ächzend. Auf den ersten Brief Oelzes
antwortete Benn spröde. »21.XII.32. vielen Dank für Ihren Brief. Mir eine
grosse Freude, wenn Ihnen meine Aufsätze gefallen haben. Eine mündliche
Unterhaltung würde Sie enttäuschen. Ich sage nicht mehr, als was in meinen Büchern
steht. Seien Sie vielmals gegrüsst.« Unendlich
langsam schmolz das Eis zwischen dem Dichter und seinem Bewunderer, auch wenn
zeitlebens zwischen ihnen eine unsichtbare Wand blieb. Aber immerhin trotzte
Oelze mehr als 700 Briefe Benn ab, in denen sich dieser personal authentisch
zeigt wie eigentlich sonst nirgendwo; Oelze selbst bestritt offenbar ungefähr
zwei Drittel der Korrespondenz. Testamentarisch untersagte er, in vornehmer
Bescheidenheit, die Veröffentlichung der eigenen Briefe. Von
1935 bis zu Benns Tod 1956 – zeitlich seltsamerweise fast kongruent mit der
symbiotischen Verbindung von Walser und Seelig – trafen sich der Meister und
Oelze einmal im Jahr persönlich, meistens in Berlin. Als man sich während des
Krieges nicht sehen konnte, belebten kleine Geschenke die Freundschaft: Oelze
ließ öfter »2 Flaschen Rum« schicken oder »schwarze Diamanten«: Kaffee –
was Benn höchst entzückte. Oelze
hat Begegnungen mit Benn sehr subtil überliefert: »Er war kein Mann des
brillanten unverbindlichen Gesprächs; wer von ihm ging, konnte kein Bonmot,
keine Anekdote mit nach Hause nehmen. (...) Bei der ersten Begegnung fiel als
sehr ungewöhnlich seine Stimme auf, die in allen mechanischen Wiedergaben um
eine Schattierung zu hoch erscheint; sie war dunkel, immer leise, fast monoton,
was den preußischen Akzent mit dem entfernten Echo des Militärischen noch
befremdlicher machte; niemals druckte sie Pathos oder Erregung aus. Man könnte
sagen, eine Stimme in der Dämmerung, in der er sein Leben zu verbringen liebte.
Keine seiner Wohnungen, keiner seiner Arbeitsräume empfingen direktes
Sonnenlicht, grelle Tagesbeleuchtung war ihm physisch fast unerträglich. (...)
Eine große Ruhe und Gelassenheit war immer um ihn und teilte sich seiner
Umgebung mit. Er konnte lange zuhören und schweigen, so daß man glaubte, er träume,
während nicht das geringste seinem wachen und immer gespannten Bewußtsein
entging (...) die kühl distanzierende leidenschaftslose Haltung gegenüber den
Gefühlen anderer, das Unpathetische, auch wo er ablehnte oder protestierte,
machte manchen, den Neugier zu ihm geführt hatte, unsicher und betroffen.
›Gebildete Menschen bringen ihr Leben ohne Geräusch zu‹, dieses Wort
Goethes wiederholte er oft.« In
nuce: Benn. Und
wer war »jener Herr Oelze aus Bremen«? Das Nachwort zum Briefwechsel gibt
Auskunft: »Friedrich Wilhelm Oelze (1891 – 1978) hatte Jura studiert,
promoviert und nach dem Ersten Weltkrieg zunächst die Absicht gehabt, in den
diplomatischen Dienst einzutreten, wurde dann aber Importkaufmann und übernahm
später die väterliche Importfirma in Bremen. (...) Er selbst war durchaus
literarisch begabt, besaß ein sehr ausgeprägtes Stilgefühl und eine starke
Neigung zur schriftstellerischen Betätigung, der er aber nie nachgegeben hat:
Zwei Tragödien, die er als Primaner verfaßte, hat er selbst wieder
vernichtet.(...) Er war von einer unüberwindlichen Scheu vor der Öffentlichkeit
(...), eine tiefe Unsicherheit, gepaart mit ständigen Zweifeln an sich selbst,
hielt ihn stets davon ab, den geschätzten und überschaubaren Kreis der bürgerlichen
Privatexistenz, an den er sich zugleich gefesselt fühlte, zu verlassen und
seiner schriftstellerischen Neigung zu folgen.« Der
Autor des Nachworts, Harald Steinhagen, gelangt zu dem Resümee: »(...) Benn
hat seinen Briefpartner ohne Zweifel stilisiert, hat ihm erkennbar eine
bestimmte Rolle zugewiesen: die des Weltmanns und Aristokraten, des gebildeten
und begüterten Großbürgers. Das war Oelze seinem Habitus nach zweifellos
auch, aber er war nicht nur das. Es gab daneben noch andere Züge an ihm, von
denen Benn wohl wußte, auf die er auch – etwa als Arzt – eingegangen ist;
aber er hat sie nicht in sein Bild von Oelze einbezogen, weil sie nicht zu der
Rolle paßten, die Oelze für Benn selbst spielte. Er brauchte dieses Bild des
sicheren und gesicherten Aristokraten, der ›Synthese aus Oxford und Athen‹,
jenes ›Herrn von Ascot‹ (...).« Ein
Rezensent des Briefwechsels hat Benns Dilemma auf den Punkt gebracht: »Benn hat
in seinem Werk einen fast lebenslangen Abschied
von den ästhetisierten Trümmern namentlich der Welt des Adels und des
erblichen Geldadels genommen, (...) falls er sie nicht gerade – ebenso von ihr
gebannt – in einem aktuellen Bewußtsein eigener sozialer Inferiorität lästerte.
Man muß diese und verwandte Vorstellungsmuster Benns als Voraussetzungen der
Beziehung zu Oelze berücksichtigen. (...) Sie erklären die besondere lebens-
und werkgeschichtliche Funktion gerade dieser Beziehung, in der Benn seine ästhetische
contenance zu der Zeit wahren konnte,
in der ihm die Selbstdefinition durch eine literarische Öffentlichkeit nicht möglich
war.« Wie
an den gezeigten drei Beispielen unschwer erkennbar, ist die Stallknecht-Rolle
eine kompensatorische, die durchaus nicht tragischer Akzente entbehrt: eigene
Talente sind nur wenig vorhanden, oder sie erweisen sich als nicht
durchsetzungsfähig, und also wird, da zum Glück auch die ökonomischen
Voraussetzungen gegeben sind, Pegasus gestriegelt. Zu gegenseitigem Nutzen:
Ego-Rettung und Kunst-Produktion – und beides mit latentem Schielen auf
›Ewigkeit‹. Fast schon Täter-Opfer-Verknotungen: Laokoon. Und
Pegasus wiehert aus Freude über Hafer und Heu, scharrt, mehr oder weniger
dankbar, mit den Hufen und hebt ab zum Höhenflug. Literatur: Benn,
Gottfried: Briefe an F.W. Oelze, Limes Verlag, Wiesbaden und München 1977 ff. Mächler,
Robert: Das Leben Robert Walsers, Suhrkamp,
Frankfurt am Main 1992 Wedekind,
Klaus-Peter: Gottfried Benns Briefe an F. W. Oelze (1932 -1945), in: Frankfurter
Hefte, Nr.1/1979 Weichselbaum,
Hans: Georg Trakl, Otto Müller, Salzburg 1994 Vom
selben Autor: © by the Author, 2002
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