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Ein Funke, der längst Vergessenes in helles Licht taucht, kann die Anekdote sein, unentbehrlich der biographischen Darstellung:
An den Beginn der Lebensgeschichte des Hofkomponisten und Hofklaviermeisters der Kaiserin Maria Theresa, Georg Christoph Wagenseil, sei als
solches Aufleuchten folgende aus der Mozart-Literatur bekannte Episode gestellt.
Am 6. Oktober 1762 mußte der sechsjährige Wolfgang Amadeus Mozart vor der kaiserlichen Familie in Schönbrunn seine Kunstfertigkeit auf dem Klavier zeigen. Der Kaiser ließ ihn auf verdeckter Klaviatur und auch nur mit einem Finger verschiedene Stücke spielen, wodurch der Knabe keineswegs in Verlegenheit geriet. Als er aber ein Konzert darbieten wollte und der Kaiser bey ihm stand, sagte Mozart: "Ist Herr Wagenseil nicht hier? der versteht es." Wagenseil kam der kleine Virtuose sagte: "Ich spiele ein Conzert von Ihnen, Sie müssen mir umwenden".
Wer war dieser Herr Wagenseil, der "es" verstand? Er war einer jener schöpferischen Menschen, ohne die Kunst undenkbar wäre, einer jener, deren Größe es ist, den Boden für die Jahrhunderte überstrahlenden Werke des Genies zu bereiten, deren Tragik aber, in dessen Schatten zu stehen. Der Hauptrepräsentant der Wiener Vorklassik, Georg Christoph Wagenseil, wurde durch sein Werk zum Wegbereiter des Wiener klassischen Stils. Er verband die Tradition barocker Musikkultur mit den galanten und empfindsamen Ausdrucksformen des Rokoko und hatte wesentlichen Anteil am Werden der einmaligen, unverwechselbaren Welt, die im Schaffen Haydns und Mozarts zur Vollendung reifen sollte.
[... S. 14]
Gleichzeitig mit Wagenseil wurde auch Guiseppe Bonno zum Hofcompositeur ernannt, obwohl Fux seine Fähigkeiten [Bonnos] noch zwei Jahre vorher
als ungenügend befunden hatte. An die Stelle des am 23. September 1738 verstorbenen Carlo Agostino Badia waren damit zwei junge Hofkomponisten getreten.
Noch ein halbes Jahr mußte Wagenseil auf seine geringe Besoldung warten - die Traditionen zähflüssigen Aktenlaufes wurzeln tief. Messen, Magnificat, zwei Ave Regina und zwei Hymnen wurden in den Jahren 1739 und 1740 zu insgesamt elf Anlässen aufgeführt, und Wagenseil wandte sich einem für ihn neuen Genre der Musik zu.
Er war nicht soi wagemutig, sich gleich an einer Oper zu versuchen, jedoch zum Namenstag der Schwester Maria Theresias, der Erzherzogin Maria Anna, wurde am 26. Juli 1740 eine "Festa di Camera per Musica", eine dramatische Kantate mit dem Text von Giovanni Claudio Pasquini und der Musik von Cristofforo Wagenseil aufgeführt, "I lamenti d'Orfeo". Die "Handlung" spielt am Parnaß, Orfeo klagt der Muse Kalliopesein Leid um die verlorene Euridice. Mit dem mythologischen Stoff des Sängers Orpheus, der am Anfang der Geschichte der Oper steht und nicht nur in der Musik, sondern auch in Dichtung und bildender Kunst den schöpferischen Menschen zu immer neuen Darstellungsformen anregt, betritt Wagenseil den Boden der dramatischen Musik; in der zentralen Arie des Orpheo bricht schon durch, was den Opernkomponisten Wagenseil unter anderem auszeichnet - seine Fähigkeit, Affekten in feinsten Nuancen und großen Ausbrüchen musikalisches Leben einzuhauchen. Diese Klage des Orfeo ist ein kleines Juwel der vorklassischen Operngeschichte.
[... S. 20]
Die Geburtstagsoper für den Kaiser zu schreiben, wird Wagenseil übertragen.
Umständlich schildert der Obersthofmeister [Khevenhüller im Tagebuch] seine schwierige Aufgabe, den Hofstaat protokollgemäß im Burgtheater zu placieren, da die Kaiserin
wie bereits vor diesem ein und anderes Mal geschehen, durch den Grafen Losi 200 Ducaten der Impresa, um dem Publico das Spectacle gratis zu geben schickte, und es sei
leicht zu erachten, wie groß der Zulauff und die Völle gewesen ... Die Opera, so mann repaesentiret, ware il Siroe dell'abbate Metastasio und die Musique von dem
Wagenseil, der bereits den Allesandro nelle Indie herausgegeben, welche Composition zwar nicht allerdings Approbation gefunden, jedoch scheinet, daß mann die gegenwärtige
mehr goutiret. Sehr vorsichtig drückt sich der Fürst aus, als sei er nicht ganz sicher ob die Musik i h m gefallen habe. Ein halbes Jahr später jedoch zum Geburtstag
der Kaiserin hatte Wagenseil auch den Bersthofmeister von seinem Opernstil überzeugt: Die Herrschafften ... sahen sodann die neue Opera, l'O l i m p i a d e, welche
an der Kaiserin Tag zum erstenmahl hätte gesungen werden sollen, auf allerhöchsten Befehl aber biß auf heut verschoben worden ware. Selbe fand ungemaine Approbation -
ein Glück, so dem Verfasser der Musique, Herrn Wagenseil, bishero noch nicht widerfahren wollen. Nach End derselben kerte alles [vom Burgtheater] zurück nacher Schönbrunn.
[...]
[S. 22-23]
[... S. 24]
In den vier Jahren Tätigkeit als Opernkomponist wurde Wagenseil durch den modernen, originellen Stil in so mancher Schlüsselszene seiner dramatischen Werke
zum Wegbereiter für die Glucksche Opernreform und im weitesten Sinne für Mozarts Meisterwerke. Er kann zu Recht als der bedeutendste österreichische Opernkomponist
am Wiener Hof in der Mitte des 18. Jahrhunderts bezeichnet werden. Trotz allem bleibt ihm in der Geschichte der Musik die Rolle des Mittlers, dessen, der
seine Kräfte zersplittert und auf halbem Wege stehen bleibt. Wagenseil war kein Genie wie Mozart - obwohl im verwandt in der Fähigkeit, fremde Einflüsse,
oft vergangener Stilepochen, aufzunehmen und zu verarbeiten - er verfügte aber auch nicht über die zielbewußte Willenskraft Glucks, den er als Musiker zuweilen übertraf.
Keineswegs kritiklos gegenüber den Dichtungen Metastasios, die er da und dort beträchtlich kürzte, kopmponierte er aber dann am Text vorbei, wenn er sich in den weitgeschwungenen
Bögen terzenseliger, schwebender Melodik verlor. Im Grunde seines Wesens Vorbote der Romantik durch die Wahrhaftigkeit in der Darstellung tiefer Empfindung,
Vertreter des Sturm und Dranges in leidenschaftlicher Affektdeutung, getragen vom unmerklichen Maßhalten des in der geistigen Atmosphäre des Barock wurzelnden Rokoko,
dem "Neuneapolitaner" Johann Christian Bach im Hang zu üppiger, sinnenfreudiger Kantabilität verwandt - all das ist der Opernkomponist Wagenseil, in dessen
Musik die innere Ruhelosigkeit eines in der Kunst einzigartigen Übergangszeitalters mitschwingt: dem genialen Einfall, der kühnen Gestaltung felht die Klarheit der Klassik, das Ebenmaß der großen Form.
[... S. 66]
Charles Burney ist eine ausführliche und ergreifende Schilderung vom Leben des ehemaligen Hofklaviermeisters zu danken. Er hatte ihn während seines Wiener
Aufenthaltes im September 1772 mehrmals im traditionsreichen Haus Wollzeile 11 Essiggasse 1 besucht, wo Wagenseil als Mitglied des kaiserlichen Hofstaates eine geräumige Wohnung im ersten Stock besaß.
Mit Hasse, Gluck, Wagenseil, Haydn und allen Tonkünstlern in Wien wollte Burney während seines kurzen Aufenthaltes persönlich bekannt werden, und er charakterisierte kurz und treffend das allgemeine Musikleben in Wien mit dem bis heute gültigen Satz: Unter den Dichtern, Tonkünstlern und ihren Anhängern herrscht zu Wien eben so viel Cabale als anderswärts. Über den freundlichen Empfang im Hause Hasse ist er voll des Entzückens, für einen Besuch bei Gluck erbat er sich mit gutem Grund die Vermittlung durch ein Billett der Gräfin Thun. Gluck hatte eine, nach seiner Art, sehr höfliche Antwort darauf geschickt: denn er ist ein ebenso fürchterlicher Mann, als Händel zu seyn pflegte: ein wahrer [S. 67] Dragoner, vor dem sich jedermann fürchtet. Seinen Vorsatz, Haydn zu sehen, konnte Burney nicht verwirklichen, da dieser nicht in Wien lebte.
Am 6. September stand Burney zum ersten Mal dem Künstler gegenüber, an dessen Bekanntschaft ihm neben Glucks und Hasses so viel gelegen war. Wagenseil ist schon ziemlich bey Jahren, mager und schwächlich; er konnte nicht von seinem Canapee aufstehen, empfing mich aber doch sehr höflich und sprach eine ziemliche Zeit ganz frey über musikalische Dinge. Er hat viel Respekt für Händel und spricht von einigen von seinen Werken mit Entzücken; ausserdem daß er nicht von seinem Sitze aufstehen konnte, hatte das Podagra seine linke Hand übel zugerichtet, daß er kaum zwey Finger daran bewegen konnte. Dennoch ließ er sich auf mein dringendes Bitten, einen Flügel vorschieben, und er spielte mir verschiedene Capriccio's und Sonaten von seiner eignen Komposition auf eine sehr feurige und meisterhafte Art vor; und ob ich gleich gern glaube, daß er ehedem besser gespielt haben mag, so hat er doch noch Feuer und Phantasie genug übrig, zu gefallen und zu unterhalten, ob er mich gleich eben nicht sehr überraschte. Er war so gefällig, mir von verschiedenen seiner ungedruckten Claviersachen eine Abschrift zu versprechen und eine kleine musikalische Gesellschaft zusammen zu bringen, damit ich Gelgenheit hätte, einige von seinen Schülern zu hören.
Er hat, wegen einer Lähmung, die ihm nach und nach auf eine ausserordentliche Art zugestossen ist, schon seit sieben Jahren nicht aus dem Zimmer gehen können. Die Sehnen in seiner rechten Hüfte haben sich zusammen gezogen. Seine Zirkulation ist gehemmt; so, daß solche ohne alle Hülfe ausgedörret und empfindlich geworden ist. Er ist fünf und achtzig[!] Jahr alt, war ein Schüler von Fux und lange Jahre Musikmeister der Kayserinn-Königinn, weswegen er noch eine jährliche Pension von fünfzehn hundert Gulden hat. Er hat itzt den Titel Musikmeister der Erzherzoginn, der ihm gleichfalls einen kleinen jährlichen Gehalt bringt.
Das sind glückliche Umstände für einen Mann, der völlig unvermögend ist, den Fuß aus der Stelle zu setzen, um seine Profession zu treiben. Indessen [ist er in seinem] Hause, und komponirt dabey, wodurch er sein Einkommen einigermaßen vermehrt; und da er glücklicher Weise nicht verheyrathet, und Wien für seine Einwohner eben kein theurer Ort ist, so kann man glauben, daß er sich in ganz guten Umständen befindet.
Tags darauf beschreibt der wissensdurstige Musik Doctor einen zweiten Besuch in der Wollzeile: Heute Nachmittag ging ich abermals zum Herrn Wagenseil. Er hatte eine Schülerinn bey sich, ein junges Mädchen von ungefähr bis zwölf Jahren, mit dem er Duette auf zwei Flügeln spielte, die eine [schöne?] Wirkung thaten. Das Kind spielte sehr rein und fest im Tackte. Herr Wagenseil war so gut, mir auf Ersuchen zu versprechen, daß er mir, wo möglich, einige von den Duetten und andern neuen Sachen gegen den Sonntag wollte abschreiben lassen bis [S. 68] wann ich wiederkommen sollte, um sie mit einer Begleitung von Violinen zu hören, und Abschied zu nehmen. Es war noch ein andrer von seinen Schülern, ein junger Graf, da, der ungemein fertige Finger hatte, und einige sehr schwere Flügelsonaten mit grosser Genauigkeit herausbrachte.