"Das trunkene Schiff - Das Leben Rimbauds"

"Außerdem hielten die Feuilletons einiger überregionaler Tageszeitungen Erinnerungen an die Moderne wach, die Kölnische Zeitung z.B. an Baudelaire (U. Menck Nr. 442 v. 31.8.1942), Rimbaud (H.B. Wagenseil Nr. 583 v. 17.11.1938), Verlaine [...]" (Manfred Durzak et al.: Deutsche Gegenwartsliteratur. Ausgangspositionen und aktuelle Entwicklungen, 1981, S. 194).

Der Kontext dabei ist 1938: ein Artikel "Autonomie der Slowakei" mit Zwischenüberschrift "Slowakei schiebt Juden ab", oben drüber "Staatsbegräbnis in Düsseldorf. Der Führer an der Bahre Ernst von Raths". Allerdings auch: Rimbaud ist auf der Titelseite. Die erwähnte Rimbaud-Biographie, die Hans B. (aus dem Englischen) übersetzt haben soll, verschenkten die Brüder Wagenseil auch am häufigsten, wenn sie neue Kontakte knüpften, um für sich zu werben.

Die Laufbahn des gefeierten französischen Dichters Arthur Rimbaud (dessen umfassende Biographie in deutscher Übertragung von Hans B. Wagenseil soeben im Hans-von-Hugo-Verlag, Berlin, erscheint) ist ein tragisches Beispiel eines verfehlten Lebens. Rimbaud besaß einen Feueratem, der alles verbrannte, was mit ihm in Berührung kam. Alles wurde zu Asche in seiner Hand, wie in der Hand des Königs Midas alles zu Gold. Es lagen viele Möglichkeiten in ihm, aber schließlich enttäuschte ihn alles und mißlang ihm alles. Sein poetisches Talent würde ihn zum ersten Dichter seiner Zeit gemacht haben! Er biß in die Frucht, fand, daß sie bitter war und warf sie fort. Mit neunzehn Jahren nahm er für immer Abschied von der Welt der Literatur. Er suchte dann nur zu leben, schweifte ruhelos über die weite Erde, ohne irgendein Ziel, das dem Leben einen Sinn gab. Er wanderte und wanderte unaufhörlich, um die Sehnsucht seines Herzens nach höhern Dingen zu betäuben. Doch dies erwies sich schließlich als ebenso schal wie alles andre. Auch sein letztes Bemühen, ein Leben heftiger Tätigkeit in Gestalt von Forschungsreisen und Handel zu führen, nahm kein gutes Ende. Es lag wie ein Fluch über ihn, ihm mißlang alles. Er brachte sein ganzes Leben in der Hölle zu.

Rimbaud war in erster Linie ein Abenteurer. Sein erstes Abenteuer waren Bücher, dann kamen seine ersten wirklichen Abenteuer. Seine z[...]haften Wanderungen durch Belgien, Deutschland, Skandinavien. Italien, Java, Abessinien. Das größte aller Abenteuer jedoch war die Erforschung der himmlischen Regionen. Von nun an konnte er an nichts anderm mehr Geschmack finden, von nun an war diese Welt für ihn zu klein. "Ich möchte durch die ganze Welt schweifen, die ja schließlich nicht so groß ist. Vielleicht würde ich dann einen Ort finden, der mir ein wenig gefiele." So schrieb der wunderbare Dichter des "Sommers in der Hölle" inmitten der Plackereien eines kleinlichen Händlerdaseins, über dem er in unerklärlicher vollster Absicht den Zauber einer unvergleichlichen Jugend vergessen hatte - vergessen die Nebel Londons und die Straßen von Brüssel, vergessen Paris, vergessen Wonnen und Fieber der Inspiration, vergessen die todesschmerzliche Freundschaft Verlaines.

Die Ursachen seines Versagens liegen nicht nur darin, daß Rimbaud kein "Glück hatte". Baudelaire hatte gezeigt, daß das Leid des Menschen hauptsächlich von seiner Schwäche kommt, von seiner Unfähigkeit, an den Idealen festzuhalten, die er als seine höchsten erkennt. Rimbaud brachte viel Unglück über sich, weil er nicht fähig war, sich dem Leben anzupassen, vor allem aber durch seinen maßlosen Stolz. "Par délicatesse j'ai perdu ma vie", hatte er selbst gesagt. In der geistigen wie in der materiellen Welt steckte er lieber Niederlagen ein, als Konzessionen zu machen und sich den Umständen zu beugen.

Er besaß eine weitere Schwäche: den Fluch der Unbeständigkeit. "Der Mann mit den Windsohlen", nannte ihn Verlaine treffend, und in einem etwas später verfaßten Gedicht beschrieb er die Ruhelosigkeit seines Freundes:

Verfluchter! Ein niemals Ermüdeter, dich reißt es
Mit jedem Ruck durch die Welt, einem Ziellosen zu...
Und du mußt jetzt vor Türen treten, die man kühl verschließt,
Die Schritte beflügeln, aus Furcht, daß man Hunde auf dich hetzt,
Und schon ist es gut, wenn kein Gelächter dich verletzt...
Unseliger! Du Christ, du Franzose, wie schade!
Du schreitest hin, im Sinn eine dunkle Ballade,
Voll plötzlichem Glück, das du, Ungläubiger, haben mußt:
So wie die Menge!

Er konnte sich nie äußerm Zwang unterwerfen und lernte nie, sich selbst im Zaum zu halten. Bis zuletzt blieb er in einem Zustand zielloser Auflehnung. Er revoltierte gegen alles, gegen soziale Verhältnisse, gegen überlieferte Religion, gegen die Kunst, und sogar gegen die Bedingungen des Lebens selbst. Das fanatische Verlangen nach Freiheit, eine weitere Folge seines Stolzes, war in seinen letzten Manifestationen krankhaft. Er konnte keines Menschen Hand auf seiner Schulter vertragen, lieber ging er unter. Er lernte zwar, aber tragischerweise erst, als es zu spät war, daß die Freiheit kein Gnadengeschenk ist, sondern etwas sauer Erworbenes, das wie alles andre in dieser Welt bezahlt werden muß und daß der Preis hoch ist.

Rimbaud hatte von Natur aus größere künstlerische Möglichkeiten in sich als irgendein andrer französischer Dichter; aber als er entdeckte, die Poesie sei nicht der Zauberschlüssel, für den er sie gehalten hatte, sie verwirkliche nicht das Ideal, nach dem er gedürstet, gab er sie auf. Das war der größte aller seiner Fehler. Die Zeit seiner größten dichterischen Schaffenskraft war die einzige Zeit seines Lebens, in der er mehr oder weniger glücklich war, die einzige Zeit, als er überschwengliche Freude und Erfüllung genoß. Mit seiner gewöhnlichen Heftigkeit und seinem Mangel an Mäßigung warf er gerade das Pfund weg, mit dem er hätte wuchern können und das allein seinem Leben einen Sinn gab, und von nun an blieb er für immer in der Hölle.

Rimbauds Dichtung hat bewiesen - selbst wenn dies nicht seine Absicht war - welch ein reiches künstlerisches Material im Unbewußten, in den halb vergessenen Empfindungen der Kindheit steckt, in jenen Empfindungen, die unser Geist zwar verzeichnet, aber deren volle Bedeutung wir nicht erkennen. Das hat der Literatur ein weites Feld eröffnet und man kann sagen, Rimbaud habe - jedenfalls in Frankreich - die Literatur der unterbewußten Tiefen der menschlichen Natur begründet. Sein Einfluß auf Schriftsteller wie Proust oder Jean Cocteau ist unverkennbar. Die symbolistische Bewegung, die bestrebt war, das Unbewußte zu erforschen, über dieses Leben hinauszudringen, verdankt ihm viel, obschon seine Bestrebungen mehr jenen der deutschen Romantiker ähnelt, die bewußt, aber ohne Rimbauds sparsame Mittel, das Unbewußte auszudrücken versuchen, mehr das Unbewußte als das Unterbewußte.

Rimbaud ist jedoch für uns heute nicht nur ein Dichter, der in der Geschichte der Literatur und der Menschheit in allgemeinen eine einzigartige Rolle spielt, bedeutend deshalb, weil er ein Symbol seiner Zeit darstellt oder weil er uns die Tore einer andern Welt geöffnet hat. Er ist vor allem auch bedeutend, weil seine Werke eine Lieblingslektüre jener sind, die sich nicht mit der Literaturgeschichte oder mit Poesie befassen. Diese lesen ihn wegen der wichtigen Dinge, die er ihnen zu sagen hat.

Viele Menschen finden heute in Rimbaud das, was mit ihren eignen Ansichten übereinstimmt. Er besaß denselben Haß gegen die Ausartung der Zivilisation, jenen Widerwillen gegen Heuchelei und behagliches Sichbescheiden, die heute viele mit ihm teilen. In seinen "Erleuchtungen" hat wie nirgendwo anders die ewige Sehnsucht des Menschen nach geistiger Schönheit ihren Ausdruck gefunden. ,"Ein Sommer in der Hölle" ist die Hölle des Zweifels, die immer in uns ist, der uralte Kampf zwischen dem Engel und dem Tier in uns, und wenige Schriftsteller haben in einer so durchdringenden und bewegenden Weise die ganze Bitterkeit des in uns aufsteigenden Schreies ausgedrückt, während wir im "Trunkenen Schiff" (das dem Buch den Titel gegeben hat), wohl seiner größten Schöpfung, das ganze sehnsüchtige Heimweh der menschlichen Natur finden, ihr leidenschaftliches Verlangen, überlebten Werten zu entrinnen und neuen Hoffnungen entgegenzueilen. Das Trunkene Schiff ist mit den Leiden einer elenden Welt befrachtet, die ihrer Umgebung grenzenlos müde ist. Sie trägt das Sehnen dieser Welt an Bord, aus dem erstickenden Gestank des Hafens aufs offene Meer hinauszukommen, sich dort von allem Schmutz reinzuwaschen und ein neues und sauberes Selbst zu gewinnen. Das Schiff segelt wie zwischen zwei Himmeln, zwei Unbegrenztheiten dahin. Aber möge es sich nicht wie Rimbauds Fahrzeug als ein gebrechliches Papierschiffchen erweisen, das ein Kind wie einen Frühlingsfalter auf das wildbewegte Meer setzt, nur damit es gleich von den schäumenden Wogen verschlungen wird.

Doch ich klagte zuviel. Jede Sonne ist bitter,
jeder Mond düster und traurig das Morgenrot.
Brennende Liebe berauschte mich. Gehe in Splitter,
schwankender Kiel! Ich sterbe gern den Wellentod!

Hans B. Wagenseil.

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