Wie sollte ich dir die Freude verheelen, welche dein Vertrauen in mich mir giebt, besonders da du so angenehm sagst, daß alle deine Gesinnungen für mich seit den acht Tagen, welche du bey mir zubrachtest, viel stärker geworden seyen. Du beobachtetest mich in Allem. Dank sey dem Himmel, liebe Lina! daß ich mich bey keiner Beobachtung zu fürchten habe.
71 Du bist mit meinem Thun und Bezeigen gar sehr zufrieden. -- Dank sey es deinem lieben, guten Herzen, welches so gerne Alles wohl aufnimmt! Thu es aber, mein Kind! nicht aus einer günstigen Vorliebe für mich allein, sondern suche bey Allem das Gute auf, und denke an die artige Unterredung zurück, welche wir darüber hatten, als uns bey der Lesestunde auf einmal der Ausspruch vorkam:
"Es gehöre mehr Verstand dazu, das Gute zu finden, als die Fehler."
Du sagtest am Ende so schön:
O da gewinne ich ja zweimal -- erst in der schuldigen Güte gegen meinen Nächsten vor Gott, der mein Herz sieht, -- und dann vor edlen Menschen in Rücksicht meines Verstandes; denn wenn ich das Gute gleich überall aufsuche, und bemerke, so sieht man, daß ich es kenne und liebe.
Glaube immer, meine Lina! daß die Stunde, in welcher der Gedanke dieser Eintheilung der Gesinnungen deines Herzens in dir erwachte, eine glückliche Stunde war. Und es freut mich, daß sie der Zufall in meinem Hause für dich herbeyführte. -- Denke auch, daß es gerade an dem Abende des Tages war, an welchem wir das schöne Bild der Zeit mit der Sanduhr in der Hand sahen, und die Auslegung des Bildes dich so nachdenkend machte. Er war schön -- der Ernst, mit dem du zuhörtest, und dann mit der treuherzigen Miene für dich allein einen Auszug der Gedanken unsers Freundes wiederholtest, während deine Augen auf das Bild geheftet waren, und
72 deine Hand jedes Stück davon berührte. Du sagtest:
"Ein alter hinkender Mann, von dem Niemand glaubt, daß er schnell gehen könne, bis man am Ende eines Tags sieht, daß er mit großen Fittigen vorüberflog, und eben so schnell Menschen, Glück, Entwürfe, Arbeiten und Gebäude mit seiner Sense weggemäht hatte. -- Ach! während in dieser Stunde die Sandkörnchen aus dem obern Theile des Glases sanft und leise herunterflossen, stürzten in Kalabrien [Region in Süditalien; Anmerkung] so viele Städte ein."
Dieser unerwartete Gedanke, und die Trauer der Menschenliebe, welche in deinen holden jugendlichen Zügen verbreitet war, rührte uns Alle, wie du es bemerkt haben mußt. O vergiß nie, mein Kind! daß einer der würdigsten Männer dir sagte:
Ich wünsche, daß Sie diese Aufmerksamkeit bey dem Hinfließen Ihrer Lebenstage behalten mögen. Denn eben so still, eben so unaufhaltsam, wie diese Sandkörnchen, folgen sich die Augenblicke unsers Daseyns.
Du warest für diese Lehre sehr dankbar, und deine Frage, wie die Sanduhren gemacht würden, zog natürlich die Idee von allen andern Uhren nach sich, ohne daß du wußtest, wie nützlich deine lobenswerthe Wißbegierde meiner lieben Caroline war; denn diese hatte noch nie etwas Ordentliches von den Uhren gehört, oder gedacht, als daß man durch sie wisse, wenn man Mittags und Abends esse, in die Kirche, in Gesellschaft, und schlafen gehe. Herrn Golde aber
73 weiß ich sehr vielen Dank, daß er sich um die Gabe des guten Erzählens bemüht hat: denn dadurch hast du nun auch ein Modell dieses schätzbaren Talents gesehen, welches in dem gesellschaftlichen Leben so nöthig und angenehm ist, und das meine Lina auch besitzen soll. Mir, meine Liebe! gabest du die Freude, einen meiner Wünsche für dich erfüllt zu sehen. Denn ich verlangte immer von Grund meines Herzens für das Glück des deinigen, daß du nichts unbemerkt möchtest vorüber gehen lassen. Und diesen schönen Weg hast du genommen. Ich seh es in dem Auszuge eines deiner Briefe an deinen Bruder, und in jeder Linie deines Briefes an mich:
Deine häuslichen Beschäftigungen sind dir lieb. -- Du möchtest, wenn du auch die reichste Frau würdest, nicht eine davon versäumen, und du glaubst, dieß nun recht gut gelernt zu haben, und willst jetzo noch Alles von mir wissen; weil ich in trübem Wetter und einsamen Stunden, wie bey Sonnenschein, und in artiger Gesellschaft, immer eine zufriedene Miene habe; weil es dir am meisten aufgefallen sey, und weil dir und Andern so wohl dabey war.
Du sagst: das Bücherlesen allein giebt es nicht.
Sie haben mich in Gesellschaften eingeführt; ich werde vielleicht einmal verheyrathet -- wenn mich aber auch mein Schicksal unverbunden läßt, und Sie, meine Tante und mein Bruder nicht mehr leben, so möchte ich Alles wissen, wodurch ich mir unter guten Menschen Freunde, und in einsamen Stunden Vergnügen machen könnte.
74 Dein Bruder hat deinen Brief gelesen, und findet deinen Wunsch gut. -- Er sagt, ich hätte dir eine Idee von den Romanen gegeben, welches die Schriften seyen, die man zum Zeitvertreibe liest, ich solle dir auch über andere Kenntnisse einige Briefe schreiben. Ich hatte dich an ihn verwiesen, damit er, nach der Geschichte und Geographie, auch die philosophischen Briefe an meine Schwester mit dir durchgehen möge. Nun will er nicht mehr, ohne die eigentliche Ursache zu sagen. -- Seine Amtsgeschäfte haben nicht zugenommen, und die Stunden, welche er dir gab, sind noch in seiner Gewalt. Ist es Laune, und muthwillige Neugierde, die Lücken in meinem Kopfe zu sehen? -- oder ist es Nachgiebigkeit für den eifrigen Wunsch, welchen du zeigtest, meine Art, zu denken und zu sehen, nachzuahmen -- welches freylich viel leichter ist, als den Fußtapfen des männlichen Geistes, und seinen Vorschriften zu folgen? Uebrigens hat dein Bruder recht, wenn er sagt: ich hätte eine mir selbst gemachte Weise, Menschen und Sachen anzusehen, und daß Alles, was ich sehe und höre, eine mir eigene Form annehme. Glaube, mein Kind! es ist nicht so viel Sonderbares in mir, als man sich vorstellt. Alle Menschen, die nur ein wenig eigene Kraft des Geistes oder des Willens haben, gebrauchen die Gedanken, und die Erfindungen der Andern auf ihre eigene Weise, wie man Leinewand und Kleiderzeug für die Form seines Körpers zurecht macht, wobey immer die freye Wahl auf das fällt, was uns bey dem ersten Anblicke eine
75 Art Vergnügen gegeben hat. Andere nehmen Alles an, was man ihnen giebt; sie lernen die Gedanken des Dritten auswendig, so wie sie sich durch Nachahmung kleiden. -- Die Verschiedenheit der Umstände macht aber das Meiste, wie es bey mir geschah. Ich hätte gern alle Wissenschaften in mir vereinigt; da es aber nicht seyn konnte, so bog ich meine Begierde nach Kenntnissen, wie es die Umstände erlaubten, und suchte mir wenigstens ihren Schattenriß zu eigen zu machen, wie es Gemälde-Liebhaber mit den Stücken großer Meister halten. Wenn ihnen der Mangel des Vermögens, oder Gelegenheit den Besitz der Gemälde versagt, so kaufen sie die Kupferstiche davon, welche auch als eine Gattung Schattenrisse angesehen werden können; denn man sieht die Zeichnung und die Stellung der Figuren, die Kunst der Entfernung in Landschaften, den Ausdruck eines historischen Stücks, oder den Grad Wahrheit und Schönheit der Natur im Werk eines jeden Meisters. Eben so, meine Lina! kenne ich die Werke und den Geist der Gelehrten, und habe es mit dem, was ich daraus lernte, gemacht, wie es mit den Kupferstichen geht, welche man theils in Rahmen unter Gläser faßt, und an Bändern aufhängt, theils in einem Schranke verwahrt, und sie nur zeigt, wenn die Rede davon ist. Meine Sternheim, meine Rosalie, und meine Pomona [Pomona für Teutschlands Töchter, ein Journal, welche Sophie von La Roche in den Jahren 1783-1784 publizierte, die Briefe an Lina waren ursprünglich für dieses Journal konzipiert; Anmerkung] sind eine solche Gattung Bilder, welche ich nach meinem Geschmacke des Artigen und Gefälligen einfaßte, und hinstellte. Ich zeige das Glück und die Freude, welche ich bey meinen Grundsätzen genoß, wie ein freundliches Mädchen dem andern
76 das Muster einer Haube oder einer Verzierung zuschickt, wodurch sie ihre Reize erhöhen kann, und wenn sie vermuthet, daß die Eltern ihrer Freundin nicht gerne große Ausgaben machen, so setzt sie hinzu: es kostet nicht viel, und steht doch sehr artig. -- Sieh, Liebe! so ist es mit mir geschehen, und geht auf einer Seite eben so mit dir. -- Umstände versagten uns den Schmuck kostbarer Edelsteine, und großer Kenntnisse; aber wohlgewählte Blumen zieren deinen Kopf, und mich eine anständige Haube. Indessen können wir doch wissen, was Diamanten und Rubinen sind, und zu was sie taugen, so wie wir den Werth aller Wissenschaften kennen lernen, und uns diese zu eigen machen wollen, die mit unsern Pflichten am meisten übereinstimmen, weil nur diese den wahren Theil unsers innerlichen Glücks, und unsern wahren Ruhm in sich fassen. Mit sechzehn Jahren ist nun meine Lina aus meiner Schülerin zu meiner jungen Freundin herangewachsen. Bisher sagte ich dir, was ich nach meinem Gutdünken für dein häusliches Leben nützlich achtete. Du befolgtest darinn alle Lehrstücke von deiner Tante und von mir. Nun willst du Alles wissen, was gesellschaftliches Verdienst werden kann. Dazu dünkt dich meine dauernde Heiterkeit wünschenswerth. Du willst wissen, auf was für einem Grund sie in meiner Seele ruht, weil ich keine der gewöhnlichen Lustbarkeiten aufsuche, und gewiß auch nicht immer ohne Sorgen, und ohne Widerwärtigkeiten lebe.
77 Laß mich hier, meine theure Lina! ehe ich dir antworte, etwas sagen, welches dir bey den Pflichten gegen die Töchter deines Bruders -- und überhaupt bey allen jüngern Personen, als du, nöthig ist:
Jugend wünscht immer das nachzuahmen und zu besitzen, wobey sie die Erwachsenen glücklich und vergnügt sieht.
Zeige daher deinen zwey Nichten immer eine große Zufriedenheit in deinen Mienen und Bezeigen, wenn du etwas Nützliches arbeitest, etwas lernst, oder einen Befehl deiner Tante vollziehst. Denn dadurch, mein Engel! wirst du in ihnen die nemliche Begierde, nach deinem Beyspiele zu leben, entflammen, wie du nach der Ursache meiner Heiterkeit begierig bist. -- Denke dir zugleich alle bösen, alle fehlerhaften Menschen, als so viel bedaurenswerthe Geschöpfe, welche das Unglück hatten, den Ausdruck der Freude das Erstemal in einer rohen oder schlechten Gesellschaft zu sehen, und nun durch die uns allen natürliche Begierde des Mitgenusses hingerissen, auf ihr ganzes Leben von der Wahrheit und Güte entfernt sind. Unser Wieland sagt in einem Gedicht, welches er im funfzehnten Jahre machte:
Tugend! o wie reizend schön bist du!
Ach! erkennten dich die Seelen,
Die für dich und deine Geistesruh
Laster und ein glänzend Nichts sich wählen!
O! wie würden sie die Stimme hassen,
Die sie lachend in ihr Elend ruft!
O! wie flöhen sie aus Circens Zaubergruft
Zu dir auf die königlichen Straßen!
78 Du, meine Liebe! sahest in deinem Hause immer die Schönheit der thätigen Tugenden deines Standes vor dir. Es ist also natürlich, daß dein biegsamer Geist ihr Bild und ihre Lehren mit Vergnügen faßte. Deine Tante zeigte dir die sanfte Würde des häuslichen Verdienstes aller Zeit -- und von mir willst du hören, wie man sanfte Munterkeit mit ernsthaften Grundsätzen vereint.
Vielleicht, mein Kind! geht es mir, wie Künstlern, die von selbst Etwas erlernten, und sich gewisse Handgriffe angewöhnten, die ihnen ganz geläufig wurden, die sie aber nicht deutlich angeben können, weil die Kunst ohne Ordnung in ihren Kopf kam. -- Aber ich will es versuchen, und zwar nur durch Erzählung dessen, was ich that.
Die seligste Stunde meines Lebens war die, in welcher ich zuerst wünschte, Alles zu kennen, was Gott auf unserer Erde schuf, und was wir Menschen thun können, und thun sollen. Denn ich achte es für eben so große Pflicht, die Werke der Schöpfung, als die von der Erlösung zu kennen. Ja, ich finde die Anweisung dazu in der Bibel selbst, wo zuerst die Geschichte der Schöpfung beschrieben ist. Ich wiederhole es, meine Lina! daß diese Stunde die seligste meines Lebens war, weil sie die Entdeckung einer unversiegenden Quelle von reiner Freude, von Wahrheit und Erquickung für mich wurde. Mein theurer ehrwürdiger Vater gab mir früh einen Begriff von der Erde und ihren Bewohnern. Aber auch, als ich erwachsen war, zog mich das Pflanzenreich zuerst an sich, gewiß weil ich darinn die ersten Gefühle
79 eines innigen Vergnügens genossen hatte, und ich bekenne dir, meine Lina! daß mein Herz äußerst bewegt wurde, als ich vor zwey Jahren von Herrn [Christian Jacob] Wagenseil in Kaufbeuren, dem schätzbaren Verfasser des so nützlichen Wochenblatts für Bürger, einige Blümchen geschickt bekam, welche auf der Wiese wuchsen, auf der ich als Kind von zwey und drey Jahren die ersten Blümchen für mich gepflückt, und an ihren Farben und ihrer Gestalt mich ergötzt hatte. Ich sah diese von Wagenseil mit dem Gedanken an: --
Ihr seyd Nachkömmlinge von denen, die ich in meiner aufkeimenden Jugend sah. -- Aber welch ein Unterschied ist zwischen den physischen und moralischen Geschöpfen dieser Erde! – wie viele Veränderungen sind mit mir vorgegangen? und diese Wiese blieb immer nach ihrer ursprünglichen Bestimmung ruhig, in immerwährendem Ertrag nützlicher Kräuter, und lieblicher einfacher Blüthen. Das Bild der ersten gütigen Mühe und Sorgfalt meiner geliebten Eltern erneuerte sich auch in mir. -- In Kaufbeuren erhielt ich Leben, und die Grundlage im Unterricht meines Geistes, neben dem unsterblichen Gefühl für die Schönheit der Natur.
Gerne hätte ich dir nach meinem Gefühl von dem Pflanzenreich fortgeschrieben; aber da ich dein Vertrauen in mich zu deinem Nutzen gebrauchen will, so denke ich einen Gegenstand vorzunehmen, der zu der Jahrszeit taugt, in welcher wir uns befinden. -- Denn ich wünsche, daß das, was ich an Kenntniß
80 dir nöthig achte, mit so viel Ordnung, und so viel deutlichen Bildern vor dir erscheine, als möglich ist. Nun dünkt mich eine Betrachtung über die Erde jetzo grade recht schicklich zu seyn:
Sie ist die allgemeine Wohnung aller Geschöpfe. Jetzo schlafen die Keime der Pflanzen in ihrem Schooße; alle Gewürme haben sich unter ihrer Oberfläche vor der Kälte verborgen; große wilde Thiere haben ihre Höhlen gesucht, und die Menschen zogen aus ihren hohen und niedern Gebirgen Steine aller Art zu ihren besondern Wohnungen hervor, den Thon zu ziegeln, den Kalk zum Mörtel, mit welchem man die Steine in Mauern zusammen verbindet, und Schieferplatten, womit sie ihre Häuser decken, in denen wir denkende Wesen auch Schutz gegen die Kälte und den Regen finden. -- Aus den Eingeweiden der Erde holte man das Eisen, mit welchem so viele Theile unserer Gebäude verfertigt und befestigt werden, und aus welchem man die Aexte und Sägen gemacht, mit denen die Waldbäume gefällt, zu Balken gehauen, zu Bretern geschnitten werden, aus denen die Scheidewände in bürgerlichen, und durchgehends die Dachgestelle in allen Häusern, und dann die Fußböden und Thüren bearbeitet werden. Aus der Erde wird der Stein, das Salz und der Sand gegraben, aus welchem das Glas und das Porcellan bestehet. -- Alle Edelsteine, alle Metalle sind von ihr.
81 Was für ein reicher Stoff, liebes Kind! einen Theil der Wintermonate damit hinzubringen, wenn du nun von dem Sandkorn -- bis zu der Idee der höchsten Gebirge gehst, welche die nemliche Grundbeschaffenheit haben, und dir dann auch alle Steinarten und ihren Gebrauch denkest, vom Mühlstein an, welcher die einfachste Form hat, und uns so nützlich ist, bis zu den herrlichen Bildsäulen, und halberhabener Arbeit, von der griechischen Baukunst, bis zu der Staunen erregenden mühsamen Arbeit der gothischen Thurmspitzen, und ihrer Verzierungen; wenn du die Reihe der Verschiedenheit durchgehst, von der aus Letten und Erde zusammengeklebten Hütte des armen, aber fleißigen, Grasmähers zu Speyer, bis zu dem aus lauter Marmor erbauten Pallast des Fürsten Orlow in Petersburg [Möglicherweise Grigorij Grigorjevich, 1734-1783, Graf (1762) und Reichsfürst (1772), ein Zeitgenosse von Catherine II. Während der Jahre 1766-1772 erbaute Orlov einen Palast in Gattschina, Rußland, Anmerkung] , alle Bauer-, Bürger- und Herrenwohnungen in der Zeichnung betrachtest, alte Ruinen und neue Schlösser nach ihrem verschiedenen Geschmacke gegen einander hältst, von dem kleinen an der Landstraße stehenden Heiligenhäuschen, bis zur St. Peterskirche in Rom -- die Dorfkapellen, die Klöster und Stadtkirchen durchschauest, und darinn die so vielfältigen Formen und Abänderungen siehst, welche in dem Geiste der Menschen über das Schöne, Schickliche und Nützliche der Gebäude entstanden; -- die viele Kunst, Mühe, Nachsinnen, und Anstrengung aller Leibes- und Verstandeskräfte in so vielen Handarbeitern und Künstlern, die zur Aufführung der so verschiedenen Gebäude nöthig sind.
82 Siehe, meine Liebe! dieses ist der Weg, den ich mit meinen Betrachtungen nahm. Ich fand darinn viel wahren Genuß der schönen Kenntniß. Prüfe nun deine Gefühle bey einem nochmaligen Durchlesen dieser Gedanken. Findest du auch Vergnügen dabey; ist dir dann durch jeden Mauer- und jeden Baustein ein Theil dieser Betrachtung über Menschenfleiß zurückgerufen worden, so gieb auch auf die verschiedenen Gefühle Acht, welche bey dem Anblick zertrümmerter Felsenschlösser der alten Zeit, und bey neuen zierlichen Landhäusern, bey Gefängnissen und Theatern, bey Tanzsälen und Hospitälern, in dir entstehen werden, so auch bey Schulgebäuden, Rathhäusern u. a.
Dein Bruder, mein Kind! hat die Gelegenheit, dir die schönsten alten und neuen Gebäude in Kupfer zu zeigen, und dich etwas über Baukunst lesen zu lassen. -- Sage mir dann aufrichtig, wie er und du mit diesem ersten Spaziergange auf dem kleinen Fußpfade zufrieden waret, auf welchen ich in dem großen Gebiete der Wissenschaften einsam, allein durch meine Gefühle geleitet, gegangen bin. -- Adjeu, liebe Lina! Wie sehr wünsche ich dir zu gefallen, und in deiner Gesellschaft auf jeden Schritt zurückzusehen, den ich mit meinem Kopf und Herzen machte! -- Baukunst ist ein Liebling meines Geistes, darüber könnte ich noch viel sprechen, aber der Brief wird ohnehin schon ermüdend lang für dich gewesen seyn. Ich will also das übrige in dem nächsten nachholen, wenn es dir Vergnügen geben kann.