1984 veröffentlichte Matthias Zschokke, gefördert vom Deutschen
Literaturfonds, sein zweites Buch Prinz Hans. Im ersten Teil liest es sich
wie eine Fortsetzung von Max. Die Titelfigur ist zweifellos ein Bruder von
Max, wenn nicht gar sein Zwilling- auch er ein Flaneur, der mit Kinderaugen
durch die Welt spaziert: verwundert... erschreckt... verwundet.
Von seinem sozialen Status aus gesehen, kein imposanter Mensch, dieser Hans:
"Er ist Angestellter eines Tabak-, Zeitungs- und Spirituosenhandels,
wo er viermal die Woche um halb sechs die Tore, das heißt die Tür
öffnen muß, um danach zehn Stunden ohne Unterbrechung im Verkauf
tätig zu sein. Das trägt seinen bescheidenen Unterhalt. Auf Grund
seines Dienstplans hat er oft zu den Zeiten der Arbeitslosen frei und sieht
viele davon."
Trotzdem (und eben darum) adelt der Autor seinen Hans ironisch zum Prinzen
hoch, denn "nur Prinzen und Könige können die Welt so hochnäsig
negligieren, weil sie ihnen gehört. Was einem gehört, das bemerkt
man nicht. Ihm steht eben auch die Welt zu und deren Liebe, drum vergißt
er sie". Nun, so ganz schnell vergißt Hans die Welt denn doch
nicht, aber zwischen ihr und ihm scheint sich eine dicke Panzerglasscheibe
zu befinden. Für Hans, den "Rotzbub mit einem Kassandrawissen"
(Zschokke), könnte auch gelten, was Claudio in Hofmannsthals Der Tor
und der Tod übers Leben sagt: "Bin freilich scheinbar drin gestanden,/
Aber ich hab es höchstens verstanden,/ Konnte mich nie darein verweben./
Hab mich niemals dran verloren."
Auch in Zschokkes zweitem Buch Prinz Hans finden sich wiederum unzählige
köstliche Beobachtungen und Reflexionen von melancholischem Witz. Etwa:
"Wenn einer aus dem fahrenden Zug springt, gibt das eine ein- bis zweistündige
Unterbrechung; deswegen läßt man ungern jemand springen. Man
hält einander an der Jacke fest. Wenn einer v o r den einfahrenden
Zug springt, geht man wieder hoch und kann einen Bus nehmen, der schnell
von übergeordneter Stelle zur Entlastung hindirigiert wird. Darum macht
das nicht soviel aus. Sehen möchte man es nicht. Man erschrickt."
Oder: "Jeder hat die Möglichkeit, auf die Höhe der Zeit zu
gelangen, er soll sich bloß nicht anstellen. Der Zeitgeist wartet
nicht. Der schreitet voran. Springen Sie auf, oder versteinern Sie in den
Regalen für Zurückgebliebene!"
Ein (glückliches) Max-Déjà-vu-Erlebnis stellen ebenfalls
die Selbstkommentare des Autors dar, die sein Schreiben begleiten: "Weigert
sich noch jemand, bunte Geschichten zum besten zu geben? Dieses Erzählungsgefährt
wird dann schon wieder in Fahrt gebracht, das wird versprochen." Oder:
"Die hintere Neonröhre links muß flackern, weil sie erwähnt
werden will." Aber Prinz Charme treibt den Flirt mit seinen Lesern
noch weiter, liebenswert-dreist, indem er eine Max-Repetition unverhohlen
eingesteht: "Jetzt staunen Sie, wie ich mich frech wiederhole, über
die unverschämte Tatsache, daß türkische Musik in den Hans
wie in den Max hineinließt, das Gewaltige der Wiederholung..."
In Max hatte Zschokke ein diskontinuierliches Erzählen auf die Spitze
getrieben, indem er epische Trümmerstücke ziemlich aleatorisch
montierte (so erschien es zumindest), in Prinz Hans reiht er längere
Episoden aneinander, um einen größeren epischen Bogen zu erreichen.
Ab Seite 134 von Prinz Hans setzt sich die Prosa fort mit einem Theaterstück,
das sich als eine feine Kostbarkeit herausstellt. Unter dem Mammut-Titel
Elefanten können nicht in die Luft springen, weil sie zu dick sind-
oder wollen sie nicht- hat am 1o. Mai 1986 im "Theater zum westlichen
Stadthirschen", einem Berliner Off-Theater, die Uraufführung stattgefunden.
Der Kritiker Heinz Ritter urteilte: "Ein vielschichtiges, bizarr versponnenes
Stück von hohem intellektuellen Reiz und subversiver Komik."
Das Stück spielt in einem sogenannten Loft, in einer ausgedienten und
nicht gerade sehr komfortablen Fabrikhalle. Hier versammelt sich außer
Hans, der nun graubündnerisch-poetisch Gionandris heißt, ein
Rest der Jeunesse, die schemenhaft bereits in der vorangegangenen Prosa
auftauchte: zum pirandellesken Rollenspiel finden sich ein die beiden jungen
Frauen Leta und Zaira, gemeinsam mit einem Mann ihres Alters, der fortan
die Hauptperson darstellt, namens Seume. Letzterer ist biographisch nicht
identisch mit dem Dichter Johann Gottfried Seume (1763-181o), der den Spaziergang
nach Syrakus im Jahre 18o2 schrieb, aber sicher ist die Namengebung eine
Hommage für einen außenseiterischen Lieblingsdichter Zschokkes.
Das Fabrikhallen-Quartett inszeniert sich in seiner öden Behausung
eine neue und buntere Welt, denn die, die existiert, läßt sich
nicht ertragen, muß überspielt werden. Bei "bitterlicher
Kälte" träumt man sich fort ins Indische, ins wahrhaft "Prinzliche",
hinüber zu Licht und Glanz- allen Störungen zum Trotz: obwohl
"ein höflicher Mensch" Flugblätter verteilt und zu absurden
Polit-Demonstrationen einlädt, obwohl ein Nachbar, der "Herr Riemer"
(das wandelnde Prinzip Banalität), blödeste Außenwelt hereinzuschleppen
versucht und obwohl sogar Gevatter Tod (als elegant-blasierte Allegorie)
ein- und ausgeht (und sein Theater-Comeback feiert), ganz zu schweigen von
einer Figur, die im Personenzettel des Bühnentextes "Jemand Bläuliches"
heißt und (für die Akteure unsichtbar) destruktiv sich gebärdend,
eine Art Assistent des Sensenmannes ist.
Beim Spiel des Quartetts geht es wirklich um alles: ums Leben. In der Tat
findet ein Überlebens-Spiel statt, ganz im Gegensatz zu den Mätzchen,
die ein ungebetener Gast-Clown darbietet: was der vorführt, ist lediglich
L'art pour l'art, das sind nur mit viel Schweiß eingeübte und
im Grunde dämliche Kunst-Stückchen.
Wie bewundernswert dagegen die Imaginationskraft der existentiellen Traumspieler!
Sie schaffen es sogar, daß sich der ursprüngliche Beckett-Endspiel-Raum
in ein paradiesisches Grün verwandelt. Und wenn dennoch am Schluß
der Tod, zusammen mit seinen Schergen, abernten will, hat er damit doch
erhebliche Schwierigkeiten: "Die bläuliche Person klappert nachdenklich
mit den Zähnen, der Tod probiert verblüfft noch einmal sein Tänzlein."
Zwar hat er Zaira bereits kassiert (sie wurde -in konkretem Wortsinn- von
einem Geldsack erschlagen), aber das verbleibende Trio singt ihn (höchstwahrscheinlich
und hoffentlich) t o t, "zu einer jämmerlichen Cellobegleitung"
von Gionandris, dem "Prinzen" Hans.
Der Reichtum des rätselhaft-luziden Zschokke-Stückes läßt
sich nicht in wenige Worte fassen: seine Heiterkeit, seine Trauer, sein
Witz, seine Skurrilität, seine Naivität, seine Klugheit, ja, seine
Weisheit. Ein riskanter Vergleich soll gewagt werden: Matthias Zschokkes
Theaterstück hat eine ähnliche literarische Qualität wie
Georg Büchners vor ungefähr 16o Jahren entstandenes Bühnenwerk
Leonce und Lena.