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RAGHADAN - Schauspiel von Matthias Zschokke

 

 


Raghadan

Schauspiel von Matthias Zschokke








FREI ZUR URAUFFÜHRUNG!

DAMEN: 4
HERREN: 6
DEKORATION: 1













 

Matthias Zschokke zu "Raghadan":



Mein Patenonkel war von Beruf Sänger. Er hatte eine wunderbar kraftvolle, samtene Baritonstimme, zum Weinen schön. Er lebte und arbeitete in Frankreich, machte aber alle Jahre einmal eine Tournee durch die Schweiz und trat dann privat auch bei uns zu Hause auf. Mal mit Schuberts „Winterreise“, mal mit Schumanns „Dichterliebe“, mal mit der „schönen Müllerin“ oder dann mit Liedern von Gabriel Fauré. Es war immer ein ungeheures Ereignis, wenn er kam. Das erste Mal, ich war noch klein, machte ich vor Begeisterung in die Hosen, so sehr erschütterte mich sein Gesang. Das war natürlich ein furchtbares Drama für mich. Es verzieht mir jetzt noch das Gesicht zur Grimasse, wenn ich daran denke. Zu meiner Entschuldigung lässt sich sagen, dass es in diesen Liedern ja tatsächlich meist sehr dramatisch oder tragisch zugeht. Das darf einen Knaben schon erschüttern. Später versetzten mich zusätzlich zu den Liedern auch noch die wechselnden Klavierbegleiterinnen, die er mitbrachte, in grösste Aufregung: bleiche, schlanke, junge Französinnen, die kein Deutsch sprachen und sich scheu im Hintergrund hielten, mit fiebrig grossen, dunklen Augen.

Wir lebten am Rand eines Weilers im Landhaus eines bankrottgegangenen Fabrikanten. Das Wohnzimmer glich einem Rittersaal in einem Jagdschloss. Es gab einen riesigen Kamin. An der Seite führte eine hölzerne Freitreppe in die erste Etage, wo von einer Balustrade weitere Räume abgingen. Diese Balustrade wurde für die Konzerte jeweils bestuhlt und diente den Zuhörern als Balkon. Auch parterre wurden Stuhlreihen aufgestellt. Die Wand zur Bibliothek liess sich dort ausserdem entfernen – es war alles aus stark duftendem Arvenholz gezimmert –, so dass eine Art Guckkastenbühne entstand, auf welcher der Onkel dann auftrat. Leider hatten wir keinen Flügel, der der Szenerie mit seinem schwarzen Lack zusätzlichen Glanz verliehen hätte. Es gab nur ein honigfarbenes Klavier. Das hatte meine Mutter mit in die Ehe gebracht. Ihr Vater war von Beruf Schreiner gewesen und hatte es einmal im Tausch für ein Bett bekommen. Im Winter verzog es sich jeweils. Das Haus stand am Ufer eines Flusses, der von Oktober bis März dampfte, und von wo dann unangenehm kalte, nasse Luft durch alle Ritzen kroch.

Vor den Konzerten, die meistens im Frühsommer stattfanden, wenn die Stämme der Birken am Ufer seidenglatt glänzten und die Blätter daran süss schmeckten und hellgrün waren, kam jeweils ein Spezialist aus der Stadt zum Stimmen. Er hiess Dambach. Mit den Jahren ermüdete das Klavier. Sein Klang wurde schütter. Eines Abends traten meinem Onkel, während er sang, die Adern auf der Stirn dick hervor, und er starrte den honigbraunen Kasten wütend an. Hinterher sagte er: „Dieser Klepper gehört zum Abdecker. Das war mein letztes Konzert hier!“ - die Worte Klepper und Abdecker machten mir grossen Eindruck; ich hatte sie vorher noch nie gehört –, und tatsächlich kam er danach niemals wieder.

Noch heute vermögen mich Lieder und gesungene Balladen zu fesseln. Das hat nichts mit Nostalgie zu tun. Erst vor kurzem wurde ich von einem dreissigjährigen Informatiker eingeladen zu einem Hauskonzert, wo ein junger Sänger solche Lieder vorgetragen hat – hier in Berlin, ganz traditionell, mit allem Drum und Dran. Sicher, solche Veranstaltungen werden mehr und mehr zur Gratwanderung. Auf der einen Seite ist es zugegebenermassen komisch, einem erwachsenen, wohlgenährten Mann in dunklem Anzug und Rollkragenpullover dabei zuzuschauen, wie er – mit vor Konzentration verzerrtem Gesicht – im einundzwanzigsten Jahrhundert von Mägdelein und Liebesleid singt. Das hat etwas Vergorenes, Überzüchtetes, und es verführt zum Kichern. Andererseits ist es zum endgültigen Dahinschmelzen, wegen der unendlich vielen widerständigen Sehnsucht, die dafür in unserer technokratisch nüchternen Zeit mobilisiert werden muss.

Mich erschütterte der Gesang meines Onkels bis zu seinem letzten Konzert. Bestimmt hing es auch mit der Inszenierung zusammen, mit dem ungeheuren Ernst des ganzen Vorgangs, mit der Stille zwischen den Liedern, in der sich niemand zu rühren wagte –  niemand klatschte, es wurde kaum geatmet –, mit dem Glanz und dem Licht (die Konzerte fanden natürlich abends statt, zu einer Zeit, zu der ich normalerweise ins Bett musste), mit dem festlichen Essen hinterher – es gab immer hinterher ein gemeinsames Essen mit allen Gästen.

Die ganze Opern- und Musikwelt ist für mich bis heute eine märchenhafte, übertriebene, exaltierte geblieben. Ich fühle mich darin selig wie als Kind in den zu grossen Schuhen meines Vaters oder im zu weiten Unterrock meiner Mutter. In Opernkantinen ist das Leben immer mindestens zum Lachen oder zum Weinen. Darunter gibt man sich nicht zufrieden. Der graue Alltag, das Mittelmass, kommt nicht vor. Sänger sterben leicht und schnell – in Gedanken. Sie verlieben sich hoffnungslos – mündlich. Sie verachten abgrundtief und beten an, wo Gewöhnlichsterbliche nichts als kleine Zu- oder Abneigungen empfinden. Das rührt daher, dass Sänger dauernd in zu stark aufgeblasenen Gefühlen über Bühnen taumeln müssen und dadurch mit der Zeit vergessen, wie sie selbst wirklich empfinden.

In dieser Kantinenwelt spielt "Raghadan". Die Farben muss man sich zu kräftig vorstellen, die Schatten zu tief, das Licht zu gleissend. Die Darsteller schreiten, wo andere gehen, sie sind empört oder entsetzt, wo andere irritiert sind, sie beben, wo andere zittern, sie treten auf, wo andere eintreten.

 „Raghadan“ spielt unter der Treppe, im Kirschgarten des weissen Rössl. Die Atmosphäre, die Farben, die Kostüme, der Klang, alles ist mit Vergangenheit gestopft bis zum Platzen, bunt, gefühlsprall, fiebrig; es ist gesättigt, überreif; es steht kurz vor dem Kippen.

Vielleicht eine Art spiegelverkehrter Pubertät: es lauert um die letzte Liebe herum, sehnt sich nach dem verlorengegangenen eigenen Glauben an Gefühle, möchte die grossen Fragen nicht länger relativieren, mag sich nicht mehr hüten vor Empfindungen, möchte sich ihnen ungeschützt ausliefern, möchte leben und sich nicht mehr schämen dafür, möchte endlich Schluss machen mit dem antrainierten ironischen Augengezwinker.

Die künstlich blutenden Herzen von Schauspielern und Sängern in nachmittäglichen Theaterkantinen, wo jahraus, jahrein an derselben grandiosen Tragikomödie weitergeschrieben wird, einer endlosen, todernsten Seifenoper ... Außenstehende mögen dieses Ambiente peinlich oder exaltiert finden. Wer sich jedoch darauf einlässt, den ergreift es und wühlt es auf wie eine doppelte Portion Leben.

 


Leseprobe:


Später am Abend. Es hat sich nichts verändert, ausser dass KANT und LEVIN inzwischen als SCHÖNE MÜLLER ihre Position eingenommen haben. Kant hat seine zwei Finger nach wie vor geschient und verbunden. Levin steht am Mikrophon. Sie tragen Taschentücher mit verknoteten Enden auf den Köpfen, um einen wüstenhaften Eindruck zu erwecken. Beide rauchen Kette. Zum Singen nehmen sie die Zigaretten nicht aus dem Mund.

 

Levin:            Meine Damen und Herren, oder besser, meine sehr verehrte Dame, werter Herr, ich darf wieder um Ihre Aufmerksamkeit bitten, wir machen weiter mit einer Hommage an dieses zauberhafte Etablissement, in dem wir uns hier befinden: „Raghadan“ ...

 

Kant setzt mit dem Klavier ein. Die Musik ist eine atemberaubende Mischung, ein deutsch-arabischer Schlager. Levin imitiert dazu mit einer Rassel einen Klapperschlangenrhythmus und deutet eine rudimentäre Choreographie an (die des geringsten Widerstands). Mit den Füssen bedient er verschiedene Knöpfe, die eine Lightshow steuern. Er singt:

 

Levin:         Raghadan!

Aus der Wüste Chammalla’ha schwankt verstaubt ein Reiter her.

Keiner kennt ihn, keiner grüsst ihn, seine Augen blicken leer.              

Sidi Kurt der weisse Scheich ist’s, mit dem silbernen Gewehr.

Tiefe Qual! ...

Reitet quer durch die Nomaden, die er weiter gar nicht sieht,

steigt vom Pferd ins dürre Flussbett, wo er traurig niederkniet

und von gramumwölkter Stirne seine weisse Fouta zieht.

Graues Haar! ...

Es erwachen die Fellachen, als die Sonne untergeht,

und die Stimme von dem greisen Muezzin herüberweht.

Sidi Kurt liegt tot im Wadi, jede Hilfe kommt zu spät.

Augen starr! ...

Hier ertrank vor siebzehn Jahren seine Lieblingsstute Yurrt,

seither wandert ohne Musse durch die Wüste Sidi Kurt.

Nur der Sultan kennt den Leichnam draussen in der heissen Furt.

Kurt, sein Freund!

Der Refrain dazu, von beiden gesungen, je nachdem auch zwischen den Strophen, lautet:

Sidi Kurt aus Raghadan, Kurt der weisse Scheich,

Sidi Kurt aus Raghadan, liegt dort dürr und bleich.

Leileileileichammallaaah, leileileileichamm ...

 

Die beiden Gäste applaudieren. Oskar ist immer noch bei seinem Thema.

 

Oskar:            Wie könnte man da bloss rauskommen?! (Er grimassiert.) Wo wir doch schon als Kinder antrainiert bekommen, welche Gesichter wir aufsetzen müssen, um diese oder jene Empfindung im Gegenüber auszulösen, Freundlichkeit, Mitleid, Zuneigung, Angst. Gesichter, die wir dann unser ganzes Leben lang benutzen. Das ist doch zum Davonlaufen! Der Allerdümmste in jedem von uns rennt hinaus, hängt die Mundwinkel in die vorgelochten Ösen, legt die Augen in die paar vorgeknickten Fältchen, führt seine schäbigen Verwandlungen vor – und diese armseligen fünf, sechs Gesichter variieren wir dann bis zum Grab, und das sollen dann wir gewesen sein?! Das ist doch unwürdig?!

 

Helene:          Na ja, Erziehung ... Mich hat man sehr früh daran gewöhnt, den Mund zu halten. So wie andere daran gewöhnt werden, Rote-Beete-Salat zu essen. Man schlägt auf die Kinder ein, der Rote-Beete-Salat spritzt, und dann können sie’s.  Das sind Erfahrungen, die den störungsfreien Gang durchs Leben erleichtern, wie ich gelesen habe.

 

Oskar:            (schaut sie verblüfft an, stellt sich dann vor:) Oskar. Mein Name ist Oskar. Sehr erfreut.

 

Helene:           (lacht ihn an) Ich verstehe: wieder mal so ein Tag, den man sich am liebsten aus dem Gedächtnis saufen möchte, weil er ist wie alle anderen? (Sie ruft zur Musik rüber:) Singen Sie doch noch mal das von Waikiki.

 

Levin:              Feierabend.

 

Wirt:               (mit einem Blick auf die Uhr) Für Waikiki reicht es noch gerade.

 

Levin:             Wir haben um halb angefangen, ich bitte doch darum, ja?! Es ist jetzt genug.

 

Wirt:               Fünfzehn Minuten Musik, fünf Minuten Pause, so steht’s im Vertrag, also bitte. Ich habe schliesslich auch keine Lust, hier ewig den Kneipier zu machen, und mache ihn trotzdem.

 

Levin gibt Kant gereizt das Zeichen zum Weiterspielen. Der legt los. Levin greift nach einer von seinen elektrisch beleuchteten Rosen und singt mit Blick auf die Uhr. Oskar summt begeistert mit.

 

Levin (singt):  Ihr sollt erfahren, wie die braune Nicki

uns hinters Licht geführt hat auf Waikiki.

Wenn ich mich umdreh

Und diesen Mann hier seh,

dann zieht ein bitterer Schmerz

mir tief ins Herz  ...

 

Beide:             Trickinicki auf Waikiki,

Trickinicki auf Waikiki ...

 

Levin:             (bricht mitten drin ab) Dankeschön, das war’s. (Zum Wirt:) Für mich das Übliche. (Oskar und Helene applaudieren, der Wirt zapft ein Bier für Levin.)

 

Oskar:            (zu Helene) Kennen Sie das ungarische? „Andras Szabo geht aufs Feld / Mit ihm geht seine Ehefrau / Wäre ich seine Ehefrau /Würde ich mit ihm aufs Feld gehen“? – Das gefällt mir.

 

EVA kommt atemlos in die Bar gestürzt. Sie trägt Blumen bei sich, die sie offenbar abends in Lokalen zu verkaufen sucht.

 

Eva:                Das gibt’s doch nicht! Jedesmal gerate ich in die Pause. Ich renne rum, von Pause zu Pause! In jedem Lokal dasselbe: Ich mache die Tür auf, und die Musiker trinken Bier! Das ist doch nicht normal!

 

Wirt:               Weil Sie zu langsam sind für dieses Leben. Das ist ganz einfach.

 

Eva:                 Das sagt mir ein Blitz wie Sie, der stundenlang trübsinnig vor sich hinstarrt, weil unsere Welt im Untergang begriffen ist.

 

Kant:              (zum Wirt) Könnten wir heute vielleicht etwas früher Schluss machen? (Er deutet ins Lokal.) Es lohnt sich ja doch nicht mehr.

 

Wirt:               Ja, ja, ja, das seh ich wohl, allein mir fehlt ... oder umgekehrt. – Jedenfalls: Viel Bosheit lehrt der Müssiggang, merken Sie sich das.

 

Levin:             Wieder mal ein Rendezvous? Einer Ihrer vielversprechenden Konzertagenten? Zukunft sichern? Kontakte pflegen? Vergessen Sie diese Zuhälter doch endlich. (Er deutet auf die lädierte Hand.) Mit neun Fingern geht man sowieso nicht mehr auf den Strich.

 

Kant:              Könnte klappen diesmal. Ist etwas ganz Neues. Ein junger Mann, der sein Geld mit Spassbädern und Freizeitparks verdient und offenbar steinreich geworden ist damit. Der will irgendwie in Kultur investieren. Es klingt alles sehr professionell. Die jungen Leute stehen wieder auf Lieder, glauben Sie mir. Wir dürfen bloss nicht so abgeschabt daherkommen. Nichts Angejahrtes, Vergilbtes, Mitleiderregendes. Echte deutsche Romantik, mit Stil, Herz, klar, vornehm. Natürlich müssen wir das hier (er zupft an seinem Müller-Kostüm) vergessen, erst einmal. Absolut alte Schule, wie früher. Das Sein bestimmt das Bewusstsein.

 

Levin:             Hören Sie endlich auf mit Ihren Comebackplänen. Das ist ja ekelhaft. Kindisch, diese Hoffnungen immer! Das grenzt an Altersstarrsinn!

 

Helene:          Kommen Sie schon: noch einmal Waikiki, aber das Ganze diesmal, für unseren neuen Gast hier (sie deutet auf Eva).

 

Levin:            Der singe ich später was vor, ganz allein für sie, bei mir zu Hause, im Separee. (Zu Eva:) Sie kennen ja meine Adresse.

 

Helene:          Dann wenigstens das andere, für mich, das mit den Eunuchen. (Sie summt:) „Im Harem sitzen heulend die Eunuchen. Die Lieblingsfrau des Sultans ist entflohn. Er möchte hmhm sie und köpfen und verfluchen. Die Lieblingsfrau erwartet einen Sohn...“ (Skandal im Harem - Musik: Gerhard Winkler; Text: Ralph Maria Siegel)

 

Kant:             Schluss für heute, tut mir leid, wir sollten wirklich ... (Er beginnt sich umzuziehen.)

 

Helene:         Gut, aber vorher müssen Sie noch einmal die Geschichte mit Ihren Fingern erzählen. Die ist gut. (Zu Oskar:) Der Schmerz der anderen, das kommt immer gut.

 

Kant:             (schaut sie an, durch sie hindurch) Ich muss gar nichts.

 

Levin:           (unvermittelt heftig) Herr, es ist Zeit! (Er schaut Oskar und Helene wütend an, nimmt eine Teilzahnprothese aus seinem Mund, fuchtelt damit vor deren Gesicht herum und sagt:) Das Leben ist kurz! Das Leben ist kurz!

 

Helene:         Ist ja gut, ist ja gut, wir gehen ja schon ... (Sie macht dem Wirt Zeichen, dass sie bezahlen möchte.)

 

Kant:            Eigentlich sollte der längst da sein. Ich habe vorgeschlagen, wir treffen uns hier und gehen dann zusammen rüber ins „Davidoff“.

 

Levin:           Vergessen Sie ihn. Alles Ignoranten, Kretins ... Idioten ... Wombarts.

 

Sie beginnen zusammenzuräumen; Levin zieht sich ebenfalls um.

 

Oskar:          (während sie zahlen, zu Helene) Im Grunde genommen ist doch schon das erste Wort, das wir bilden, bereits angekränkelt? Das erste Lächeln, das wir zustande bringen, eine einzige Kompromissfratze? Von Geburt an. Die Anmut, der Reiz, die Unschuld der Jugend sind doch angenagt, noch bevor wir überhaupt auf den Beinen stehen können? So ist es. Hier drin sitzen widerwärtige Bremser, träge, teigige Wichte, die uns andauernd gegen unser besseres Wollen verbiegen und verkrümmen. So ist es doch?!

 

Helene:         Ich verstehe nicht, warum Sie sich so aufregen? Die Menge tuschelt und tratscht doch immer. Achten Sie nicht auf sie. Der, der sich wagt hinauszutreten, wird von den anderen immer niedergezischt.

 

Levin:             (ruft Helene zu) Und dann kaufen Sie ihr (deutet auf Eva) ein paar Blumen ab und schenken Sie sie ihm (deutet auf Oskar), dann haben Sie am Ende des Tages wenigstens noch ein poetisches Werk vollbracht.

 

Helene:          (Sie schaut Oskar wieder an, überlegt, ob und wie sie ihn umarmen könnte, lässt es bleiben.) Vielleicht hat man ja auch nur so eine Angst davor, es einmal wirklich auszuprobieren, weil es sehr viel weniger sein könnte als die Vorstellung davon ...

 

Sie haben inzwischen bezahlt und sind mit den letzten Worten zusammen zum Ausgang gelangt. Helene winkt Eva, sie soll ihnen folgen, sie wolle ihr ein paar Blumen abkaufen. Zu dritt verlassen sie die Bar. Levin ruft Helene hinterher:

 

Levin:             Und bringen Sie mir morgen etwas von sich zum Lesen mit, etwas Einfaches, über gute Menschen, über eine gute Liebe, über die Sonne, über einfache Freuden! (Zu Kant:) Ich schlafe kaum noch. (Er knetet sich gedankenverloren den Magen.)

 

Kant:              Das mit der Zukunft stimmt nicht. Was Sie mir da eben vorgeworfen haben, mit der Hoffnung und so. Im Gegenteil: ich habe ganz bewusst damit angefangen, in der Gegenwart zu leben, im Moment, verstehen Sie? Leben jetzt! Ich glaube – ich meine das jetzt nicht theoretisch, sondern ganz konkret –, kein Mensch ist in der Lage, auch nur einen Augenblick absolut zu erleben. Nicht einmal Schmerz. Zum Beispiel diese Hand ... Ich hab’s kaum gespürt, als er zugebissen hat. Erst hinterher, eigentlich erst jetzt merke ich’s wirklich. Oder Liebe, oder Glück, egal was, immer erst hinterher können wir sagen, etwas war entsetzlich, etwas war wunderschön, etwas war ... Verstehen  Sie? – Da habe ich mir eben einfach vorgenommen, ich verlängere die Zukunft rückwärts bis zu mir heran und sage immer schon im Moment, in dem etwas geschieht: das ist jetzt abscheulich, das ist jetzt einmalig, das ist – und so weiter, verstehen Sie? Ein Lebenstrick, aus der Mathematik: ich warte nicht mehr darauf, bis ich etwas empfinde, sondern ich extrapoliere rückwärts und empfinde gleich, sofort, auf der Stelle!

 

Levin:            Das ist gut, genau, scheiss auf die Zukunft, scheiss jetzt, genau, sehr gut. Nicht vergessen. (Er krümmt sich unmerklich zusammen.) Bin gleich zurück, muss nur mal schnell pissen gehen ... (Er geht aufs Klo.)

 

Der Wirt tritt auf Kant zu.

 

Wirt:              (deutet auf die bandagierten Finger) Das ist sicher ärgerlich? Schmerzt es? (Er schaut Kants Hände an.) Sie haben wunderschöne Hände.

 

Kant:               So? Finden Sie?

 

Wirt:               Und Sie riechen gut. (Kant lacht verlegen und murmelt etwas von Holz.) Darf ich Sie küssen? (Er küsst ihn auf den Mund.)

 

Kant:              Entschuldigen Sie ... (Er geht ebenfalls aufs Klo.)

 

EVA kommt ohne Blumen zurück.

 

Wirt:              Und dann war da der Lehrer, der mit dem Lineal auf die kleine, heisse Handinnenfläche schlug, wenn man etwas falsch machte, und da war da diese Schildkröte, die ...

 

Levin:             (kommt vom Klo zurück) Das ist gut, Ihr Ding da, sehr gut, hab ich mir überlegt, eben gerade, echt gut: pissen jetzt! Genau! ... (Er realisiert, dass Kant weg ist, sieht dafür Eva.)

 

Eva:                Die hat mir den ganzen Rest abgekauft. Vielen Dank.

 

Levin:              Dann hat es sich ja doch noch gelohnt, dass Sie gekommen sind, sehen Sie.

 

Eva:                 Nicht ganz. Ich habe Sie nicht singen gehört.

 

Levin:              Da haben Sie nicht viel versäumt. „Trickifickiaufwaizicki ...“ – muss ja nun wirklich nicht sein.

 

Eva:                (singt den Anfang des Schumannlieds) „Hör ich das Liedchen klingen, das einst die Liebste sang ...“, das meine ich.

 

Levin:              Aber Mädchen, doch nicht hier! Vor fremden Leuten!

 

Eva:                Es ist ja niemand mehr da. Bitte. Sie singen diese Lieder ungeheuer schön. (Sie deutet auf den Wirt:) Er hat das auch gesagt. Ist Ihnen bewusst, dass Sie ein begnadeter Künstler sind?

 

Levin:             Aber sicher, das hört doch jedes Kind. – Sie gehen jetzt besser nach Hause. Oder noch besser: gehen Sie zu mir und warten Sie dort auf mich. Hier ist der Schlüssel (holt ihn aus der Tasche). Ich habe hier noch kurz etwas zu erledigen. Danach komme ich und singe Ihnen Lieder vor, die Sie noch nie gehört haben.

 

Eva:                Kunst ist etwas Göttliches. Sie sollten keine Witze machen darüber. Kennen Sie die griechischen Sagen? Einer wird da sogar gehäutet, von einem Gott, und in einen Baum gehängt, aus Eifersucht, weil er so schön flöten kann. Und da heult er heute noch, wenn der Wind weht. – Ich habe Sie auf CD bekommen.

 

Levin:             Da mussten Sie aber lange suchen? (Zum Wirt:) Sieht doch eindeutig so aus, als ob sie in mich verknallt ist? Wie früher? (Zu Eva:) Sie wissen, so ein Sänger kann höllisch gefährlich werden für junge Frauen. Das haben Sie ja dann bestimmt auch gelesen in den griechischen Sagen?

 

KANT kommt vom Klo zurück.

 

Levin:             (zu ihm) Das war echt gut, Ihr Ding da mit der Zukunft. Wie war das noch mal genau? (Zu Eva:) Hören Sie ihm gut zu, da können Sie etwas lernen fürs Leben.

 

Kant:               Na ja, muss man eben zurückextrapolieren, in die Gegenwart, ist Mathematik.

 

Levin:             Genau, genau, extrapo..., genial. (Er küsst ihn auf die Stirn.) Da steckt Gold dahinter. (Zum Wirt:) Hinter dieser Stirn steckt Gold. Fick die Zukunft. Extrapo ... Schnapp sie dir, jetzt. Zukunft now! (Zu Eva:) Wenn Sie nicht auf der Stelle verschwinden, mache ich mit Ihnen hier und jetzt das erste Kantsche Experiment, nehmen Sie sich in acht ...

 

Wirt:               Nun ja, ob das Gold ist? – Ich will ja nicht auch noch anfangen, von der Welt, vom Leben zu reden. Ich verstehe nichts davon. Ist Watte, in die ich sinke ... (Er hat in der Zwischenzeit die Abrechnung gemacht und legt die Gage für Kant und Levin auf den Tresen.) Ich geh dann. Bitte hier unterschreiben und dann schliessen Sie ab. Hier sind die Schlüssel. (Er geht.)

 

Levin:             Nehmen Sie die Kleine gleich mit, sonst passiert ihr noch was. (Zu Eva:) Wir werden Ihnen kein Gute-Nacht-Lied singen, da können Sie so lange glotzen wie Sie wollen.

 

Eva:                (nachdem sie ihn lange angeschaut hat) Ich glaube nicht, dass Sie so dumm sind wie Sie tun. Sie haben nicht das Recht dazu. Einer, der so singen kann.

 

Sie macht auf dem Absatz kehrt und verlässt die Bar; der Wirt folgt ihr.

 

Levin:             (schaut ihnen hinterher, denkt nach) Sire, geben Sie das Recht auf Dummheit ... (Er greift zur Abrechnung, prüft sie.) Sechsundachtzig siebzig! Für die drei, vier Bierchen, die wir getrunken haben, hat er uns allen Ernstes sechsundachtzig siebzig abgezogen! Ist ja grotesk!

 

Kant:               Grotesk, mhm ...

 

Levin:            Und so einer will eine Weltstadtkneipe führen! Glauben Sie, in Rom, London oder Paris würde jemand auf die Idee kommen, einen klassischen Sänger wie mich seine drei, vier Bierchen bezahlen zu lassen? Oder in Madrid?! Oder gar in Neapel?! In Neapel würde man das Glas küssen, aus dem ich getrunken habe. Das reinste Bruchsal hier! Pforzheim. Cloppenburg. – Zehn Minuten warte ich auf Ihren grossen Zampano, keine Sekunde länger. – Kennen Sie den vom Tenor, der sich in Bruchsal an der Oper bewirbt?

 

Kant:               Ja. (Er massiert seine lädierte Hand.)

 






Nach dem Skandal an der Mailänder Scala

"Ich wollte auf der Stelle sterben"

Weil er ausgebuht wurde, flüchtete Roberto Alagna von der Bühne.

Dafür gab es Applaus und Kritik. Jetzt zweifelt der Startenor an der Opernwelt.
Interview: Marten Rolff

 
roberto alagna
 

"Das Orchester hat weitergespielt, als wäre nichts gewesen." Roberto Alagna bei einer Pressekonferenz in Mailand.
Foto: Reuters

 

Mehr als 20 Jahre war Verdis Aida an der Mailänder Scala nicht gespielt worden. Nun spricht man in der ganzen Welt darüber. Allerdings nicht wegen der protzigen Inszenierung von Italiens Regie-Nestor Franco Zeffirelli, sondern weil Startenor Roberto Alagna zu Beginn der zweiten Aufführung am Sonntag von der Bühne floh. Die Buh-Rufe hatten ihm zu sehr zugesetzt.

SZ: Wie geht es Ihnen, Signor Alagna?

Alagna: Ich habe vier Nächte lang nicht geschlafen. Vier Nächte, das ist mir noch nie passiert! Ich sehe aus wie ein Leichentuch und bin todmüde. Aber trotzdem geht es mir jetzt etwas besser, weil ich beginne zu verstehen, dass ich im Recht bin.

SZ: Das müssen Sie genauer erklären.

Alagna: Je länger ich über den Sonntag nachdenke, desto mehr glaube ich, die Kritik an der Aufführung war vorbereitet.

SZ: Eine Art Komplott? Geht diese Theorie nicht doch ein wenig zu weit?

Alagna: Ich weiß nicht, aber ich glaube nicht, dass die Kritik gegen mich gerichtet war. Ich fühle mich eher benutzt. Viele Dinge, die hier passiert sind, kann ich mir nur schwer erklären. Oder sagen Sie mir, warum man einen Tenor ausbuht, der noch gar nicht angefangen hat zu singen.

SZ: Vielleicht ist es ja am einfachsten, wenn Sie noch einmal erzählen, wie das war mit Ihrem Abgang von der Bühne.

Alagna: Alles an dem Abend war seltsam. Ich bin - wie immer - zwei Stunden vor Vorstellungsbeginn in der Oper gewesen. Dort warteten drei Männer vor dem Künstlereingang auf mich, die mir mit einer Art Karatezeichen bedeuteten: Wir hacken dich in Stücke. Heute wirst du Probleme bekommen. Ich war etwas verstört, habe mich aber damit nicht aufgehalten. Als nächstes traf ich dann auf den zweiten Ersatztenor, der sich schon warmsang.

SZ: Und? Ist das ungewöhnlich?

Alagna: Ich bitte Sie, doch nicht in meiner Garderobe! Zwei Stunden vor der Aufführung! Absolut ungewöhnlich! Er behauptete, dass der eigentliche Ersatztenor - Walter Fraccaro - unterwegs sei, aber im Stau stecke. Ich habe mich angezogen, geschminkt und bin zum Aufwärmen hinter die Bühne gegangen. Sonst kommen in dieser Phase viele Kollegen, um mir Glück zu wünschen. Nun ignorierte mich jeder. Als wäre ich ein Aussätziger.

SZ: In einem Interview hatten Sie die eher mäßigen Premieren-Kritiken...

Alagna: Die Kritiken waren schlecht!

SZ: ...damit kommentiert, dass die Scala Sie überhaupt nicht verdiene...

Alagna: ... aber auf der Bühne gab es den ersten Buhruf, bevor ich überhaupt angefangen hatte. Im Publikum war es daher natürlich unruhig. Nach Ende der Arie "Celeste Aida" kam erst ein "Bravo", gefolgt von Buhrufen. Ich fühlte mich, als müsste ich auf der Stelle sterben.

SZ: Sie waren natürlich verletzt.

Alagna: Jeder Tenor weiß, dass er ausgebuht werden kann, aber wenn es dann tatsächlich passiert, ist es schwer, sich zu kontrollieren. Meine Füße sackten mir weg. Ich konnte nicht atmen. Wenn Sie da weitersingen, riskieren Sie Ihre Stimme. Das Verlassen der Bühne war Selbstschutz, ich musste erst einmal Luft holen.

SZ: Franco Zeffirelli tobt und betreibt derzeit in Interviews Ihre Hinrichtung.

Alagna: Zeffirelli tobt immer vor Journalisten. Er hält alle für Dummköpfe außer sich selbst. Derzeit weigert er sich, mit mir zu sprechen, am Tag zuvor weinte er noch vor Glück über unsere in Rom geplante Inszenierung von La Traviata.

SZ: Ihr Regisseur sagte auch, dass es eigentlich auf der Welt derzeit keine dramatischen Tenöre, also auch keine Idealbesetzung für den Radames gebe. Sie seien nervös gewesen, weil der Radames nicht Ihr Repertoire sei. Hat Zeffirelli die Scala-Saison mit einer Notbesetzung eröffnet?

Alagna: Ich habe den Radames ja auch mit Erfolg in Kopenhagen gesungen. Ich will Ihnen vorlesen, was Zeffirelli mir nach der Premiere schrieb: "Für meinen lieben Roberto. Mit Herz, Seele und unendlicher Dankbarkeit und Bewunderung. In unendlicher Liebe, Dein Franco." Sind das Zeilen an die Notbesetzung?

SZ: Sicher nicht. Was wird der Vorfall vom Sonntag für Ihre Karriere bedeuten?

Alagna: Das lässt sich jetzt noch nicht sagen. Vielleicht hat mich das beschädigt. Aber es gab auch schon viele Anrufe anderer Opernhäuser, die sagten: "Wenn Du jetzt frei bist, sing doch bei uns" - Valencia, Covent Garden. Auch Placido Domingo will, dass ich nach Los Angeles komme.

SZ: Was werden Sie jetzt tun?

Alagna: Mein Anwalt wird die Scala verklagen. Es ist Zeit, darüber zu sprechen, wie schlecht man Künstler in unserem Geschäft behandelt. Ich nehme noch eine Platte auf., dann reise ich nach Frankreich. Ich brauche dringend Erholung.


(SZ vom 14.12.2006)

Beleidigter Startenor singt vor der Oper
Ständchen vor der Mailänder Scala

Nach seinem plötzlichen Abgang von der Bühne bei einer Aufführung der Oper «Aida» in der Mailänder Scala am letzten Sonntag sorgt Startenor Roberto Alagna erneut für Schlagzeilen.
Während am Donnerstagabend in der Scala die vierte «Aida»-Aufführung begann, zeigte sich Alagna vor dem Mailänder Opernhaus und begann, einige Noten aus «Madame Butterfly» zu singen.
Mit dem Handy in der Hand schoss der 43-jährige Sänger auch einige Bilder von der Scala. «Ich nehme dieses Bild der Scala mit mir. Ich weiss nicht, wann ich dieses Theater wieder sehen werde», sagte er.

(15.12.2oo6)







Aufführungsrechte:
Kiepenheuer Bühnenvertriebs GmbH
Schweinfurthstr. 60
D - 14195 Berlin
Telefon: 030 - 897 18 40
Telefax: 030 - 823 39 11
Email: Kiepenheuer Bühnervertrieb






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