Site hosted by Angelfire.com: Build your free website today!

4. "Der gute Mensch von São Paulo"

Die Sonne ging auf über São Paulo.
Astrids Wecker piepste. Sie schlug die Augen auf und stellte, nicht sehr entzückt, fest, dass es wieder Zeit war. Sie stand auf, wusch sich unter der improvisierten Dusche, zog sich ihren Arztkittel an und schmierte sich noch mit Sonnencreme ein, bevor sie an die Arbeit ging.

Wie jeden Morgen brachte sie sich zuerst auf den neuesten Stand, damit sie auch vorbereitet war auf das, was sie heute erwartete.

"Wie geht es den Patienten? Ist in der Nacht irgend etwas passiert?" fragte sie Christina, die Nachtschwester.
"Ich glaube, den meisten geht es gut", antwortete Christina. "Ich habe vorhin noch einmal nach ihnen geschaut. Vielleicht sollten Sie noch einmal bei Suzana vorbei schauen."
"Gut. Hat sich sonst wirklich bei keinem etwas verschlimmert? Und sie haben dir auch nicht gesagt, dass ihnen irgend etwas fehlt?"
"Nein, Doktor."

Das hieß also, dass sich Astrid heute nicht schon vor dem Frühstück um Notfälle kümmern musste. Natürlich hätte sie so etwas getan, falls es nötig gewesen wäre, aber andererseits war es doch auch schön, einmal in Ruhe frühstücken zu können. Es kam selten genug vor.

Christina ging, um sich von der Nachtschicht auszuruhen. Astrid frühstückte mit Kaffee, ein paar Wurstbrötchen, Papaya-Suco und frischem Obst, und machte sich so langsam bereit für den Tag. Die Arbeit würde heute sicher kein Zuckerschlecken werden, und sie wusste nicht, was der Tag noch alles bringen würde.

Um acht Uhr kam Schwester Rosimar und half, die neu eingelieferten Patienten herein zu bringen. Es waren sechs. Einigen von ihnen ging es schon sehr schlecht, und Astrid fragte sich wieder einmal, wie sie das aushielten. Wahrscheinlich waren die Leute hier eher daran gewöhnt, Beschwerden und Leiden zu ertragen. Dann bauten sie und Rosimar noch zwei neue Notbetten auf und legten die Kranken hinein.

Nachdem die neuen Patienten fürs Erste untergebracht waren, konnte Astrid zum üblichen Tagesplan übergehen.

"Rosi, ich werde mich jetzt um die Kranken kümmern. Bring du inzwischen den Kindern ihr Frühstück, und achte auch darauf, dass sie ihren Suco trinken. Sie brauchen ihre Vitamine."
"Soll ich dir helfen, wenn ich damit fertig bin?" bot Rosimar an.
"Nein, das erledige ich schon", lehnte Astrid ab. "Kümmere du dich um die Kinder."

Während Rosimar den kranken Kindern ihr Essen brachte, begann Astrid mit der Untersuchung von den neuen Patienten. Einer war malariakrank, zwei von ihnen litten an Beri-Beri, und einer hatte Typhus. Natürlich. Die Leute waren unterernährt, hatten kein sauberes Trinkwasser, und vor allem bekamen sie kein anständiges Essen mit genug Nährstoffen. Ohne dieses Problem würde es den Leuten in den Favelas erheblich besser gehen, und die meisten von den Patienten hier wären völlig gesund. Dabei gingen sie erst ins Krankenhaus, wenn es sowieso fast schon zu spät war. Alle die Probleme, von denen in Europa schon kein Mensch mehr wusste, hatte Astrid hier jeden Tag zu lösen.

Astrid gab den neuen Patienten erst einmal die nötigen Medikamente. Sie musste sparsam damit umgehen, denn es gab nie soviel, wie sie bei der Masse an Kranken eigentlich brauchten. Außerdem verabreichte sie ihnen bei der Gelegenheit ein paar Impfungen.

Anschließend kümmerte sich Astrid um Suzana, ein Unfallopfer. Die Kleine war mit heißem Wasser verbrüht worden. Jetzt lag sie in ihrem Bett, unter einem Laken, das wie ein Zelt aufgebaut war, denn schon die kleinste Berührung tat ihr weh.

Sie nahm etwas Salbe und cremte das Mädchen, das leise wimmerte, vorsichtig ein. Astrid sorgte sich sehr um sie. Natürlich tat sie alles, damit Suzana durchkam, aber garantieren konnte sie es nicht. Eigentlich durfte sich nicht zu sehr auf die Patienten einlassen, weil es sie sonst gefühlsmäßig zu sehr mitgenommen hätte, aber die Kleine war für sie doch ein bisschen wie eine Tochter. Immer, wenn Astrid an ihrem Bett stand, stellte sie sich vor, wie sie sie ein bisschen verwöhnte, vielleicht sogar mit ihr Spiele machte oder ihr Geschichten erzählte. Aber jetzt war Suzana noch zu schwer verletzt, als dass sie an so etwas denken konnte.

Um zwölf Uhr machte Astrid kurz Mittagspause. Sie aß nicht viel, ein paar Tortillas, Joghurt und etwas Obst. Dann ruhte sie sich noch kurz aus, bevor sie wieder an die Arbeit ging.

In der Zwischenzeit waren keine Notfälle eingeliefert worden, und so konnte sich Astrid schnell um ein paar organisatorische Sachen kümmern. Es fehlten noch so viele Sachen im Krankenhaus, die sie eigentlich unbedingt benötigt hätte. Aber die "Solidarität 3. Welt", ihre Hilfsorganisation in Schweden, hatte nie genug Geld übrig. Trotzdem, Astrid musste es probieren.

Sie wählte die Nummer und wartete, bis jemand dran ging.
"Petersen?" meldete sich ihr Kollege in Schweden. Seine Stimme war nicht sehr gut zu verstehen.
"Hallo, hier spricht Astrid Jonsson vom Not-Krankenhaus Santa Constância in São Paulo", begann sie, laut genug, dass er sie am anderen Ende hören konnte. "Ich wollte von euch wissen, ob ihr uns hier unten mit etwas Geld aushelfen könntet. Wir bräuchten dringend Geld von euch, es fehlt hier an allen Ecken und Enden. Meine Patienten geht es sehr schlecht, wir brauchen unbedingt Medikamente und medizinische Geräte! Wenn ihr mir ein paar zehntausend Kronen schickt, könnte ich wahrscheinlich ein paar Menschenleben damit retten! Jetzt, wo hier Sommer und Regenzeit ist, sind die Krankheiten doppelt so schlimm wie sonst!"
Das war nicht übertrieben.

"Astrid, wir wissen schon, wie es bei dir unten aussieht, aber wir können leider auch nicht alles tun. Die Regierung gibt uns einfach nicht genug Geld, und wir haben noch so viele andere Projekte in Afrika und Indien, die wir unterstützen müssen. Aber der Chef hat versprochen, er wird in den nächsten paar Tagen einen Vertreter vorbei schicken, der sich alles ansieht. Dann bekommst du alles, was du brauchst."
"Gut, einverstanden, aber macht das dann bitte auch. Ich warte jetzt schon seit Anfang des Jahres darauf. Lange kann ich so nicht weitermachen! Bitte kümmert euch darum!"
"Okay, Astrid, ich werde noch mal versuchen, mit dem Chef zu reden", versprach er. "Bis dann."
"Ja, bis dann." Astrid legte auf, ziemlich frustriert von der ewigen Warterei. So würde sie hier nie mit den Problemen fertig werden.

"Ich könnte soviel für die Menschen hier tun, wenn dieser verdammte Bürokratismus nicht wäre", meinte Astrid zu Rosimar, als sie wieder bei den Kranken zurück war.
Rosi nickte. Sie kannte das alles auch schon lange. Eigentlich hatten sie hier im Krankenhaus nie genug von dem, was sie dringend gebraucht hätten, aber trotzdem konnten sie nichts tun, außer weiter zu arbeiten. "Ja, Doktor."
"Für die sind wir hier so etwas wie irgendein Ordner, den man in ein Regal abstellt; ein paar Nummern auf dem Papier, weiter nichts." Sie seufzte. "Viele Ärzte von heute sind so sarkastisch und zynisch den Patienten gegenüber... Ich finde immer noch, sie sollten mehr auf die Menschen eingehen. Früher war das noch anders."

Am Nachmittag waren alle Patienten versorgt. Rosimar machte Schluss für heute und wurde von Isaura abgelöst. Nun konnte Astrid in die Stadt einkaufen gehen. Im Vergleich zu der Arbeit sonst war das die reinste Erholung für sie. Nachher würde es noch einmal anstrengend werden. Sie ging durch die Straßen von São Paulo und bekam bei der strahlenden Sonne allmählich wieder bessere Laune.

Ein Touristenpäärchen kam auf sie zu. "Entschuldigung, können Sie uns sagen, wie wir zur Kirche Santa Maria de Solidão kommen?"
"Da gehen Sie um die Ecke, dann zwei Straßen weiter, und dann sind Sie schon da", erklärte Astrid.
"Vielen Dank. Wir kennen uns nicht so gut in der Stadt hier aus. Sind Sie schon länger hier, dass Sie so gut Bescheid wissen?"
"Nein, ich arbeite hier in São Paulo, ich bin Ärztin. Ich komme von der Hilfsorganisation ‘Soli3’ aus Schweden", verriet Astrid.
Das war eine erfreuliche Überraschung für die beiden. "Wirklich? Das ist ja ein Zufall, wir kommen auch aus Schweden!" Sie schüttelten Astrid die Hand. "Wir sind Sven und Annika. Willst du mit kommen, dich kurz mit uns in ein Café setzen? Wir laden dich ein, dann können wir zusammen ein bisschen reden."

Astrid überlegte. Einerseits war sie schon beschäftigt genug und hatte von daher nicht viel Zeit übrig, aber andererseits kam sie so vielleicht an ein paar Spenden für das Hospital, und die konnte sie gut gebrauchen. "Einverstanden."

Sie setzten sich in das nächste Straßencafé. Astrid bestellte sich einen Capuccino, die zwei wählten eine Flasche Batida de Coco.
"Ich habe leider nicht viel Zeit" entschuldigte sich Astrid. "Ich muss noch den ganzen Einkauf für das Krankenhaus machen und dafür sorgen, dass das Abendessen für die Kranken fertig wird und nachher noch Bettwäsche waschen. Die ganze Arbeit eben, die so anfällt."
"Dann hast du ja noch einiges vor dir", staunte Annika. "Wie schaffst du das alles?"
"Ja, manchmal frage ich mich allerdings auch, wie ich das durchstehe", meinte Astrid.
Die zwei waren doch beeindruckt.
"Bist du schon lange hier?"
"Seit zehn Jahren schon. Ich bin schon ein paar Jahre nach meinem Studium hierher gekommen."
"Und wie bist du auf die Idee gekommen, nach Brasilien zu gehen?" wollte Sven wissen.
"Ich wollte schon als Kind immer anderen Leuten helfen, als Schwester vielleicht oder eben als Ärztin. Ich habe damals schon ein bisschen Erste Hilfe gelernt und dann während der Schulzeit ein paar Kurse gemacht."
"Und warum wolltest du Ärztin werden?" fragte er. "War dein Vater auch Arzt?"
"Nein, ich bin damals lange krank gewesen, kurz nach dem Krieg, ich hatte Kinderlähmung. Es war grauenhaft. Ich war wochenlang im Krankenhaus, und damals war die Medizin ja noch nicht so weit entwickelt wie heute. Meine Eltern wussten nicht, ob ich durchkommen würde, das muss man sich heute mal vorstellen. Danach wollte ich auch Ärztin werden und den Kranken helfen."
"Naja, wir wollten hier nur ganz normal Urlaub machen", wechselte Annika zu einem ganz anderen Thema über. "Das neue Jahrtausend haben wir in Rio de Janeiro gefeiert, und jetzt wollten wir noch etwas durchs Land fahren."
"Ihr könnt zufrieden sein", meinte Astrid. Ein bisschen beneidete sie die zwei schon.
"Wir wollen heute Abend ein paar Nachtclubs in der Stadt besuchen", verriet Sven und trank einen Schluck. "Möchtest du vielleicht dabei mitkommen?"
"Bitte erspar mir sowas!" protestierte Astrid. "Das ist nichts für mich. Diese ganze Atmosphäre da drinnen... In den Nachtclubs passieren die übelsten Dinge. Da werden Mädchen hin verschleppt, und müssen dann ihr Leben lang dort arbeiten. Ein Skandal, dass sowas vorkommt."
Sie wurde richtig böse, als sie davon erzählte.
Sven hatte sich gar nichts dabei gedacht, als er den Vorschlag gemacht hatte, und war etwas überrascht, dass Astrid deswegen so aufgebracht wurde. "Was ist denn?" fragte er. "Natürlich ist das schlimm, aber deswegen brauchst du dich doch nicht gleich so aufzuregen. Wir wussten ja nicht, dass sowas hier passiert."
"Ach, sag doch sowas nicht!" schimpfte Astrid. "Seht ihr denn nie Nachrichten? Das geschieht täglich, vor euren Augen! Und ihr unterstützt diese Clubs auch noch!"
Die beiden starrten sie nur noch groß an. Astrid hatte die Chance vertan. Sie nahm ihre Einkäufe und ging wieder.

Als Astrid zurückkam, wurde sie schon von Isaura empfangen.
"Gut, dass Sie kommen!" rief ihr Isaura entgegen. "Sie müssen helfen, wir haben einen Notfall!"
"Bitte, lass mir einen Moment Zeit", bat Astrid und stellte ihre Einkäufe ab. "Was ist passiert?"
"Er heißt Raymundo und kommt aus der Favela! Seine Eltern haben ihn grade gebracht! Ich glaube, er muss operiert werden!
"Okay, ich werde ihn mir gleich ansehen. Räum du solange die Sachen hier auf, und dann komm rüber und hilf mir."
Isaura merkte, dass Astrid nicht gerade sehr zufrieden aussah. "Ist irgendetwas passiert?"
Es brach aus Astrid heraus wie ein Vulkan. "Ach, ich hab es einfach satt, wie sich manche Leute aufführen! Es ist immer dasselbe Theater! Erst reden die Leute dauernd davon, wieviel doch für die Dritte Welt und die Kranken hier getan werden muss, und wie Leid ihnen alles tut, aber wenn’s mal drauf ankommt, wollen sie doch kein Geld hergeben! Es ist eine Schande!"
Isaura war regelrecht erschrocken. "Es tut mir leid, Astrid. Ich wusste nicht, dass..."
"Schon gut, du kannst nichts dafür! Jetzt sag du seinen Eltern Bescheid, dass sie ihn rein bringen können!"

Isaura tat es, aber sie war doch noch ein bisschen außer Fassung wegen Astrids Verhalten von eben. Sie kannte das schon von ihr, aber sie konnte sich nicht dran gewöhnen. Dabei war Astrid sonst in jeder Hinsicht ein wahres Vorbild, und die Leute in der Favela verehrten und bewunderten sie.

Als Isaura in das Untersuchungszelt kam, war Astrid schon bei der Untersuchung. Sie tastete Raymundos Bauch ab, der sich hart und verspannt anfühlte. Er stöhnte leise.
"Das ist eindeutig eine Blinddarmentzündung", stellte Astrid fest. "Wir müssen eine Operation vorbereiten".

Sie ging in den OP-Saal, das einzige richtige Haus auf dem Gelände vom Hospital, und legte die Instrumente für die Operation bereit. Dann kam Isaura und brachte Raymundo herein. Seine Eltern waren mitgekommen und wollten wissen, wie es aussah. Sie sahen sehr besorgt aus, was nur natürlich war.
Astrid wollte sie natürlich nicht enttäuschen, aber die Wahrheit konnte sie ihnen auch nicht verschweigen. "Ich bin mir nicht sicher", gab sie zu. "Ich werde mein Bestes tun, aber ich kann nichts garantieren."

Dann war es soweit. Sie setzten die Masken auf, zogen Handschuhe an, legten Raymundo auf den Operationstisch und bereiteten alles für die Narkose vor. Sie nahm eine Flasche mit Betäubungsmittel zur Hand, und ein paar Sekunden später schlief er tief und fest.
"Schwamm!" Astrid hatte weder einen so guten OP-Saal, wie es ihn in jedem kleinen Krankenhaus in Europa gab, noch die Ausrüstung, aber ihre Arbeit erledigte sie genauso entschlossen und genauso gut. Und Isaura half auch so gut, wie sie nur konnte.
"Skalpell!" Astrid hatte die Stelle desinfiziert und schnitt nun Raymundos Bauch auf. Eigentlich eine reine Routine-Operation, aber unter den Bedingungen hier wurde sie zu einem Spiel um Leben und Tod. Jetzt hatte sie den Blinddarm lokalisiert. Ein paar Schnitte mit dem Skalpell, und er war draußen. Das Wichtigste war damit geschafft. Astrid desinfizierte die Schnittstelle, nähte Raymundo mit ein paar Stichen zu und klebte ein großes Mullpflaster drauf. Es hatte geklappt. Jetzt konnten sie ihn schlafen lassen.

Gegen Abend kamen Raymundos Eltern zum Hospital, um ihn abzuholen. Seine Mutter bedankte sich unaufhörlich bei Astrid.
"Sie müssen in der nächsten Zeit gut auf ihn aufpassen!", ermahnte ihn Astrid. "Jetzt soll er erst einmal in Ruhe ausschlafen, und dann muss er sich ein paar Tage erholen. Wenn er wieder aufwacht, wird er Hunger haben, aber er darf noch nichts Schweres essen! Geben Sie ihm eine einfache Suppe oder so, nicht zu viel auf einmal, das ist jetzt am Besten für ihn."
"Ja, Doktor", versprach er. Die Eltern blieben stehen, als ob sie noch etwas sagen wollten. "Wir wollten Sie fragen: Möchten Sie heute bei uns zu Abend essen?"

Astrid war einverstanden, und dann gingen sie zusammen rüber die Hütte in der Favela, wo schon die anderen Kinder warteten. Der Vater legte Raymundo ins Bett, und Astrid schaute ihn noch einmal genauer an. Es schien ihm gut zu gehen.

Sein Vater ging rüber, und bot Astrid einen Stuhl an. Dann setzte er sich auch und schaltete den Fernseher an. Die Kinder versammelten sich auf dem Boden und sahen begeistert zu. Ihre Mutter schaute nebenbei auch hin, während sie das Essen kochte.
Dann kam die Musik, und auf dem Bildschirm erschien Carlos Silva, der Showmaster. Im Studio war wie immer alles perfekt vorbereitet, um den Leuten eine gute Show zu bieten, und sie so für ein paar Minuten abzulenken. Die Stimmung, das Studio, und Carlos selber, wie er so auftrat, alles war ein bisschen wie beim Karneval von Rio. Man merkte nichts davon, wie es in der Realität aussah, oder wie es den Leuten wirklich ging. Aber die Leute jubelten und applaudierten, im Fernsehen und in echt.

"Sowas begreife ich nicht!" schüttelte Astrid den Kopf, als sie zurückkam.
"Was ist denn?" wollte Isaura wissen.
"Ach, nichts, ich war nur kurz bei Raymundos Familie zu Hause. Wir haben uns im Fernsehen Carlo Silva, oder wie er auch immer heißt, angeschaut. Ich weiß nicht, ich mag solche Shows einfach nicht. Aber anscheinend muss das Fernsehen heute so sein", spottete sie. "Wenn das so weitergeht, werden sie demnächst wahrscheinlich noch Striptease live im Fernsehen zeigen, bei dem die Männer auch anfassen dürfen, damit sie ja ihren Spaß haben."

Dann wechselten Astrid und Isaura noch die Laken von den Schwerstkranken, brachten sie in die Waschküche und steckten sie in die Maschine. Jetzt war der Tag überstanden.

Dann kam Christina, und Astrid gab noch ihr die Anweisungen für heute Nacht, bevor sie Feierabend machen konnte.
"Schau noch einmal zu Suzana, und außerdem natürlich zu unseren neuen Patienten. Einmal alle zwei Stunden Fiebermessen. Weck mich, wenn es über 40 Grad steigen sollte. Und sonst schau selber, was noch zu erledigen ist. Wenn die Wäsche durchgelaufen ist, musst du sie aufhängen und bügeln."
"Okay, Doktor", nickte Christina.
"Gut, wir sehen uns dann morgen früh wieder. Ich muss jetzt ins Bett, ich bin todmüde. Wenn irgend etwas passieren sollte, weck mich."
"Okay. Gute Nacht!" wünschte Christina noch. Dann ging Astrid in ihr Zelt und legte sich ins Bett. Jetzt brauchte sie Ruhe, nach zwölf Stunden Arbeit. Völlig erschöpft, dauerte es nicht lange, bis sie einschlief.

Es war nach Mitternacht, als sie geweckt wurde. Jemand hämmerte von draußen wie wahnsinnig gegen die Tür. Langsam erhob sie sich aus dem Bett, immer noch müde von den Anstrengungen des Tages, ging zur Tür und machte auf.
Christina stürzte herein, in panischer Angst, fast schon wahnsinnig.
"Doktor! Doktor!"
"Christina! Was ist?" Astrid schaute sie an. Christinas Augen waren weit aufgerissen, und sie hatte sich kaum noch unter Kontrolle. Astrid zog sich schnell ihren Chirurgenkittel an.
"Christina! Was ist passiert? Ist jemand gestorben?"
Aber Christina war noch zu sehr in Panik. "Doktor... draußen", stammelte sie.
Astrid öffnete die Tür und schaute vorsichtig hinaus.

Was sie sah, übertraf alles, womit sie irgendwie gerechnet hatte. Das Krankenhaus war ein einziger Hexenkessel. Schuld daran waren ein paar Wesen, zehn oder zwölf, die hin und her rannten und unverständliche Laute brüllten. Wenn Astrid von der Arbeit nicht so müde gewesen wäre, hätte sie der Krach eigentlich sofort aufgeweckt. Die Wesen sahen, jetzt in der Nacht, fast wie Menschen aus, aber es waren keine Menschen. Sie sahen so ähnlich aus, aber sie waren durch schwere Wunden entstellt, und manche hatten Krallen und Reißzähne. Einige trugen Prothesen, und so kamen sie Astrid vor wie eine Armee aus dem Labor von Frankenstein. Vor Schreck blieb sie neben Christina wie erstarrt stehen.

Ein Wesen, halb Mensch und halb Roboter, wohl der Anführer von den Monstern, hatte die zwei bemerkt, zeigte auf sie und brüllte einen Befehl. Drei oder vier einfache Monster trennten sich von der Gruppe und gingen auf Astrid und Christina los. Die zwei rannten sofort los, aber einer packte Christina und riss sie zu Boden. Dann ertönte ein Krachen, und Astrid war ganz auf sich allein gestellt.

Astrid war kurz stehen geblieben, und nun war das eine Monster direkt hinter ihr und griff nach ihrer Schulter. Diesmal konnte sie sich noch losreißen. Sie rannte weiter. Dort war der kleine OP-Saal, das einzige feste Gebäude. Sie schlüpfte hinein und veschloss die Tür hinter sich und hoffte, dass sie hier sicher war.

Sie war es, für fünf Sekunden. Dann zersplitterte das Fenster, und das Monster lag vor ihr auf dem Boden. Langsam richtete es sich wieder auf und ging auf sie los. Astrid wich zurück. Ein paar Schritte, und sie stieß mit dem Rücken an die Wand. Jetzt konnte sie ihm nicht mehr entkommen, und das Monster stand direkt vor ihr. Dann packte es ihren rechten Arm und versuchte, ihn ihr auf den Rücken zu drehen. Astrid versuchte verzweifelt, sich aus dem Griff zu befreien, aber das Monster war stärker als sie. In ihrer Not sah sie sich nach einer geeigneten Waffe um. Sie griff mit der freien linken Hand nach den Instrumenten und erwischte ein Skalpell.

Damit hatte sie den richtigen Griff getan. Das Skalpell war aus Stahl und schärfer und spitzer als die beste Rasierklinge. Sie nahm ihre Kraft zusammen und stieß es dem Angreifer tief in den Hals.

Sie hatte getroffen, aber aus der Wunde floß kein Blut. Immerhin hatte sie es aufgehalten. Es war ekelerregend genug, sowas nur anzuschauen, aber sie packte es mit der rechten Hand am Hals und schnitt ihm mit dem Skalpell die Kehle durch. Der Kopf des Monsters fiel nach hinten auf den Fußboden.

Astrid wollte schon aufatmen, als das kopflose Monster plötzlich mit seinen Händen ihren Hals packte. Astrid trat ihm in den Bauch und stieß es so von sich weg. Sie musste einen anderen Weg finden, es loszuwerden.

Auf dem Boden lag noch eine Gasflasche. Astrid hob sie auf, um sich damit wehren zu können. Das Monster stand schon wieder auf den Beinen. Astrid packte die Flasche mit beiden Händen und schlug auf den Körper ein, zweimal, dreimal. Aber so konnte sie das Monster immer nur kurz zurückstoßen, und nicht besiegen. Ihre Kraft war fast am Ende. Trotzdem schlug sie noch einmal zu. Dabei kam sie oder das Monster aus Versehen an den Ringverschluss, die Flasche ging auf, und das Gas strömte zischend heraus. Astrid konnte es schon in der Luft riechen.

Und dann hatte sie die Idee. Es war riskant, aber sie musste es versuchen. Zu verlieren hatte sie nichts. Sie griff sich das Skalpell und schlug auf die Öffnung ein, aus der das Gas heraus zischte. Ein, zwei Funken sprühten. Das Monster ahnte wohl irgendwie, was ihm da drohte, und versuchte, Astrid mit einem Fußtritt aus dem Gleichgewicht zu bringen. Irgendwie konnte sie aber noch so ausweichen, dass sie der Tritt nur streifte. Dann schlug sie nochmal mit dem Skalpell auf die Öffnung. Diesmal entzündete sich das Gas, und wie bei einem Flammenwerfer brannte ein richtiger Feuersturm los und erfasste das Monster. In dem dunklen Raum war der Effekt doppelt so beeindruckend. Sein verfaultes Fleisch fing Feuer und stank bestialisch.

Die Hitze schlug auch Astrid ins Gesicht. Vorsichtshalber drehte sie das Gas ab, damit das Feuer nicht außer Kontrolle geriet. Das Monster rannte (im wahrsten Sinn des Wortes) kopflos durch den Raum und brannte lichterloh.

Astrid war klar, dass sie schnellstens aus dem OP-Saal rausmusste, wenn sie überleben wollte. Dabei musste sie aber auch darauf achten, dass das brennende Monster durch den Raum hin und her raste und dabei ohrenbetäubend brüllte, und sie durfte nicht riskieren, mit ihm zusammenzustoßen. Sie nahm schnell einen Verbandskasten und warf ihn dem Monster zwischen die Beine. Es stolperte und fiel auf den Boden. Jetzt hatte Astrid freie Bahn. Sie rannte zum Fenster rüber, kletterte schnell raus, rannte ein paar Meter weiter und brach zusammen.

Dann gab es eine Explosion. Die Flasche war ins Feuer geraten, das Gas entzündete sich, und der OP-Raum flog in die Luft. Astrid presste sich auf die Erde, um nicht von den brennenden Teilen, die durch die Luft flogen, getroffen zu werden. Nach ein paar Sekunden war es schon vorbei, aber Astrid kam es so vor, als ob diese Sekunden kein Ende nahmen. Sie hatte das Gefühl, dass ihr Leben jeden Moment zu Ende ging.

Dann war es überstanden. Sie stand wieder auf und wagte einen Blick auf den zerstörten Saal. Am Nachmittag hatte sie hier noch Raymundo operiert, und jetzt standen nicht mal mehr die Mauern da. Von dem Monster war praktisch nichts mehr übrig geblieben, und der Wind blies auch noch den letzten Staub auseinander.

Bis jetzt hatte Astrid gar nicht richtig mitbekommen, was im Krankenhaus sonst noch passiert war, während sie gegen das Monster gekämpft hatte. Jetzt sah sie es: Das große Notzelt, in dem die Patienten lagen, war zusammengebrochen und abgebrannt, und die Monster hatten alle die Kranken auf einem freien Platz zusammengetrieben. Sie hatten einen Kreis um sie gebildet, so dass keiner fliehen konnte. Sie schienen auf etwas zu warten. Astrid hatten sie nicht bemerkt. Sie wagte nicht, noch näher heran zu gehen. Sie blieb, wo sie war, und wartete unruhig darauf, was passieren würde.

Und dann sah Astrid erst, was hier wirklich geplant worden war. Zuerst hörte man nur ein dumpfes Grollen. Astrid wurde fast schlecht von diesem Ton, der ihren Körper vibrieren ließ. Dann begann der Boden zu wackeln, und langsam tat sich in der Mitte des Kreises ein Spalt auf. Es entstand ein richtiger Höhleneingang. Er war nicht sehr groß, nur ein paar Meter breit und so hoch, dass ein Mensch aufrecht rein gehen konnte. Aber er schien ewig tief nach unten zu führen. Astrid konnte nur den Anfang des Ganges erkennen, und noch dazu war es Nacht, aber trotzdem sah sie so etwas wie einen Raum mit Ziegelmauern, voll von seltsamen Geräten, von denen sie nicht wissen wollte, wofür sie erfunden waren. Die Monster trieben die Patienten wie eine Herde Schlachtvieh in die Höhle und gingen dann selber hinterher. Hinter ihnen schloss sich der Spalt wieder.

Dann war der Schrecken vorbei. Die Monster waren weg, Astrids Patienten waren mit ihnen verschwunden, und sie blieb allein auf einem verwüsteten Schutthaufen zurück. So saß Astrid in den Trümmern des ehemaligen Krankenhauses da, bis die Sonne aufging. Sie war in einer katatonischen Starre, wie unter schwerster Betäubung.

Um acht Uhr kam Rosimar angelaufen, die schon auf der Straße mitbekommen hatten, was sich die Leute aus der Favela erzählten. Sie versuchte, sich vorzustellen, was in der Nacht im Hospital passiert war, aber mit dem, was wirklich vorgegangen war, hatte das nichts zu tun.

Jetzt war sie da, und nun konnte sie es mit eigenen Augen sehen. Gestern Abend war sie noch hier gewesen, und heute erinnerte nichts mehr daran, dass hier ein provisorisches Krankenhaus gewesen war, in dem die Kranken aus dem Armenviertel Hilfe bekommen hatten. Alles, was noch übrig geblieben war, war ein großes Feld voller Asche. Rosi war wie vor den Kopf geschlagen. Sie hatte schon mit etwas Schlimmem gerechnet, aber darauf war sie nicht vorbereitet gewesen. Dann sah sie Astrid, die noch barfuß und mit Nachthemd unter dem Kittel da saß, und stürzte auf sie zu.

"Doktor! ... Doktor, ich habe schon davon gehört, was passiert ist! Was ist mit Ihnen?"
Astrid saß immer noch unbeweglich da. "Bitte, lass mich. Ich kann jetzt nicht reden." Ihre Stimme klang irgendwie mechanisch, so, als ob sie unter Schock stand. Rosimar war geschockt. So hatte sie Astrid noch nie erlebt.
"Fehlt Ihnen etwas? Sind Sie verletzt?"
"Nein, ich bin nicht verletzt!" gab Astrid so scharf zurück, dass Rosimar zurückschreckte.
Weil sie mit Astrid jetzt nicht reden konnte, versuchte sie, sich selber ein Bild zu machen. Sie ging auf dem Gelände herum, starrte auf die Überreste des Hospitals und konnte es nicht glauben. Von den Patienten war nichts mehr übrig geblieben, nicht einmal mehr die Skelette. Der Boden war von schwarzgrauer Asche bedeckt, und in der Sonne wurde er so heiß, dass Rosi ihn durch ihre Schuhsohlen durch spüren konnte. Es brannte wie Feuer.

Völlig sprachlos kam Rosi zurück. Und dann, wie sie Astrid so melancholisch dasitzen sah, hielt sie es nicht mehr aus. Sie fiel hin und brach in Tränen aus.

"Doktor... es... es tut mir Leid, ich habe das nicht gewusst...", stammelte sie zwischen Schluchzern hindurch. Es traf sie fast noch schlimmer als Astrid, und das lag vor allem daran, dass sie sich einfach nicht erklären konnte, was hier überhaupt passiert war. (Astrid wusste es ja immerhin.)

Damit riss sie Astrid aus ihrer Blockade heraus. "Rosi, ich mache dir doch keinen Vorwurf deswegen!" beruhigte sie Astrid. "Komm, setz dich erstmal."
Und Rosi setzte sich neben Astrid. Beide sagten nichts, aber jetzt konnte Rosimar irgendwie verstehen, wie sich Astrid fühlte.

Astrid dachte nach. Sie musste jetzt erst versuchen, den Schock zu verarbeiten, bevor sie irgend etwas tun konnte. Vor Jahren hatte sie ein bisschen Yoga und Meditation gelernt, das half ihr jetzt etwas.

Irgendwann stand Astrid dann auf. Sie musste sich irgendwie der Verantwortung stellen. Sie musste die Polizei und die anderen Behörden von São Paulo um Hilfe bitten, und sie musste auch Petersen in Schweden Bescheid sagen, was passiert war. Auch wenn sie nicht wusste, wie sie das tun sollte.

Zuerst ging sie zur nächsten Polizeiwache. Rosi begleitete sie.

"Wie ist sowas möglich?" fragte sich Astrid die ganze Zeit. Rosi wusste keine Antwort, und Astrid erwartete im Moment auch nicht, dass ihr irgend jemand darauf antworten könnte.

Bei der Polizeiwache mussten die beiden warten, bevor ein Beamter Zeit für sie hatte. Dann wurden sie endlich vorgelassen.

"Worum geht es, Senhora?"
"Mein Name ist Dr. Astrid Jonsson, ich bin die Leiterin des Nothospitals von Santa Constância", begann Astrid. "Ich wollte... (was heißt Anzeige?) Ihnen sagen, dass das Hospital heute Nacht abgebrannt ist und alle Patienten verschwunden sind, weil..." Sie brach ab. "Nein, tut mir leid, ich kann so etwas nicht sagen."
"Ich verstehe Sie nicht, Senhora."
"Es war ein Alptraum, und es wäre mir lieber, wenn ich ihn nicht nochmal erzählen müsste", begann Astrid.
"Ich muss wissen, was passiert ist, Senhora, also reden Sie", forderte er sie auf.
Astrid zögerte noch etwas. "Sie müssen verstehen - es ist nicht leicht für mich, Ihnen das zu erzählen. Ich bin gestern um Mitternacht geweckt worden, und wie ich aufgestanden bin... ich habe gedacht, ich sehe nicht recht! Das ganze Krankenhaus war voll von... Bewaffneten, die die Kranken mitgenommen haben! Wir konnten nichts tun, wir waren ganz allein, Christina und ich."
"Und wer ist diese Christina?"
"Eine Krankenschwester. Sie ist tot", gab Astrid zu.
Der Polizist schaute sie etwas misstrauisch an. "Senhora, Sie müssen uns sagen, wer diese Leute waren und was Sie gesehen haben. Und wir brauchen noch einen Zeugen. Sonst können wir leider nichts für Sie tun."
Astrid starrte ihn an. "Begreifen Sie denn nicht? Hier ist ein entsetzliches Verbrechen passiert! Sie müssen doch etwas tun!! Wozu sind Sie denn eigentlich da?!"
Der Polizist stand auf und schlug mit der Hand auf den Tisch. Er war ärgerlich geworden. "Schluss jetzt! Wenn Sie nicht aufhören, dann werde ich Sie einsperren! Verschwinden Sie."
Es blieb ihnen nichts anderes übrig, sie mussten gehen.

"Wie können Menschen so etwas tun?" Astrid verstand die Welt nicht mehr. "Da passiert ein Massenmord in einer Millionenstadt, und die interessieren sich überhaupt nicht dafür! Es sind doch Menschen, um die es hier geht!" Sie war verzweifelt.
"Was wollen Sie jetzt machen?" fragte Rosimar nach einigen Sekunden Schweigen.
"Ich werd’s nochmal bei ‘Soli3' versuchen und mit unserem Chef reden, aber ob es was bringt, weiß ich nicht", sagte Astrid. "Dafür müsstest du mir etwas Geld leihen, ich habe nichts mehr, ich muss nachher noch zur Bank gehen."
Rosi gab Astrid ein paar Real in Münzen. Dann gingen sie weiter, zum nächsten Postamt, um zu telefonieren.

Einige Minuten später waren sie da. Astrid betrat das Postamt, wählte sich nach Schweden durch, und wartete nervös, bis die Verbindung hergestellt war.

Dann hob endlich jemand ab. "Sie sind verbunden mit der Hilfsorganisation Solidarität 3. Welt. Was können wir für sie tun?"
"Hier spricht Dr. Astrid Jonsson, aus São Paulo!" begann Astrid, vielleicht etwas zu schnell. "Ich muss unbedingt mit dem Chef sprechen! Das Krankenhaus ist zerstört worden!"
Astrid wurde verbunden, und kurz darauf meldete er sich. "Guten Tag, Doktor Jonsson! Kannst du vielleicht etwas lauter sprechen, die Verbindung ist katastrophal!"
"Verstehst du mich jetzt?!" rief Astrid in den Hörer.
"Es geht! Also: Ist irgend etwas Schlimmes passiert, dass du anrufst?" Da war die Frage, auf die Astrid keine gute Antwort wusste.
"Etwas Schlimmes?! Es ist etwas Entsetzliches geschehen", begann sie. "Heute Nacht sind wir überfallen worden!"
"Überfallen? Von wem?"
"Wenn ich das wüsste!" Sie lachte nervös. "Es war eine ganze Bande, ungefähr ein Dutzend Leute! Sie haben Christina umgebracht und wollten mich auch töten! Ich habe mit einem von ihnen gekämpft, aber allein konnte ich einfach nichts gegen sie unternehmen! Und jetzt... Meine Patienten sind... sie sind verschwunden, und das Krankenhaus ist vollständig niedergebrannt! Ich sitze hier auf einem Trümmerhaufen, und ich wäre euch wirklich dankbar, wenn ihr ausnahmsweise schnell mal etwas für mich tun würdet!!"
"Das Krankenhaus ist abgebrannt? Aber - wie konnte das passieren? Und woran lag es?"
"Frag mich bitte nicht!" schrie Astrid. "Es ist ihre Schuld, dass das passiert ist, und ich weiß nicht, warum sie das getan haben! Hast du jetzt verstanden?!"
"Astrid, ich will dir ja helfen, aber ich verstehe überhaupt nicht, wovon du da überhaupt redest", Johan blieb unbeeindruckt. Er schien nicht mitzukriegen, worum es hier ging.
"Ich habe doch schon versucht, es dir zu erklären! Warum muss ich denn alles zweimal sagen? Hier ist eine Katastrophe passiert! Da war eine bewaffnete Bande, die das Krankenhaus niedergebrannt hat, und ich bin als einzige dabei gewesen!"
"Bist du sicher, dass es keine Zeugen gibt?"
"Wie denn! Meine Patienten sind nicht mehr da, die Leute aus der Favela haben sich dabei intelligenterweise zurückgehalten, und außerdem war es mitten in der Nacht! Die einzige, die außer mir dabei war, ist Christina... und sie ist jetzt auch tot", meinte Astrid niedergeschlagen.
"Astrid! Wir wissen, dass du gute Arbeit machst, und wir haben auch nichts gegen dich, aber sei ehrlich, das ist doch unmöglich, was du da erzählst!" Dann redete er noch ein paar Worte mit Leuten im Hintergrund, die Astrid nicht verstehen konnte, und dann hörte sie nur noch ein Klicken in der Leitung. Er hatte aufgelegt.

"Was hat er gesagt?" fragte Rosimar.
"Er glaubt mir nicht", antwortete Astrid. "Er sagt, ich soll ihnen Beweise vorlegen! Aber hier gibt es keine Beweise!" Sie fasste sich an den Kopf. "Ich verstehe nicht, wieso er mich in so einer Situation einfach sitzen lässt, so als ob er mir nicht trauen könnte! Er kennt mich doch immerhin schon ein paar Jahre!"
"Und was wollen Sie jetzt machen?"
"Bitte, dräng mich jetzt nicht!" blockte Astrid ab. "Lass mich erstmal in Ruhe nachdenken!"
Rosi sagte nichts mehr, und Astrid versuchte, sich langsam wieder zu beruhigen. Die Nacht war schlimm gewesen, aber dass ihr jetzt keiner glaubte, hatte sie vielleicht noch mehr Nerven gekostet. Sie dachte lange nach. Dann, am Ende, schüttelte sie den Kopf.
"Nein. So hat das keinen Zweck. Egal, wie auch immer ich das anfange - ich brauche wirklich als allererstes einen Zeugen. Ich kann das so keinem erklären, die Leute halten mich doch sonst für verrückt! Ich muss eine Erklärung dafür anbieten, und zwar eine, die ich bezeugen kann. Ich würde sonst ja selber nicht daran glauben", fügte sie noch hinzu.
Sie stand auf, fasste sich an die Stirn und schüttelte den Kopf.
"Ich habe gestern Nacht hier im OP-Raum mit einem von ihnen gekämpft! Ich habe ihn mit meinen eigenen Händen getötet und dann noch verbrannt - aber das kann eigentlich nicht sein!" Sie rang die Hände. "So etwas gibt es doch gar nicht! Ich glaub, ich verlier noch den Verstand dabei!"
"Ich glaube Ihnen, Doktor", meinte Rosi noch. Es war ein nettgemeinter Versuch, Astrid aufzubauen.
Astrid schüttelte noch einmal den Kopf. "Wenn ich dafür keine Erklärung finde, dann werde ich verrückt, das weiß ich."

Fortsetzung folgt - demnächst in Story Nr. 12 - "Entwicklungshilfe"!
 

Weiter zur KULT-Geschichte Nr. 5: "Tatort Gerburg"

-> Homepage -> KULT-Geschichten