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7. "Teuflische Magie"

In der Küche herrschte mal wieder ziemliches Chaos. Pedro stand an der Maschine und war dabei, das dreckige Geschirr abzuwaschen, Nando gab den Kellnern die Teller mit dem Rindfleisch und brachte Pedro die leeren Teller zurück, und Roberto, der Koch, machte den beiden ordentlich Arbeit. Von draußen hörte man nur Wasser rauschen, Teller klappern und ein paar Wortfetzen, aber das war nix im Vergleich zu dem Chaos drinnen.

"Macht weiter, Leute, schlaft nicht! Die Leute da draußen wollen ihre Steaks, und sie warten nicht den ganzen Tag auf euch! Also beeilt euch!"
"Alles okay, Chef! Mach du deine Steaks, wir machen hier weiter!" Das war Nando.
"Pass auf!" warnte Roberto. "Ich bin hier der Chef, und ihr tut gefälligst, was ich euch sage!"
Er schaute noch einmal leicht böse zu Nando rüber und drehte seine Steaks weiter um.
Einer von den Kellnern kam und brachte die neuen Bestellungen. "Viermal Beefsteak medium, dreimal gut durch und sechsmal blutig!"
Nando nahm ihm die Teller ab und grinste wieder. "Wird heute wieder eine tolle Grillparty, oder?"
"Nando, das hier ist keine Grillparty! Mach endlich deine Arbeit und lass den Scheiß!"
Nando nahm die neue Ladung Teller und brachte sie zu Pedro. "Der Chef ist heute wieder etwas... du weißt schon." Er sagte es lieber nicht zu laut, jetzt, wo Roberto da war.
Das Restaurant war heute gut besucht, und ein paar Minuten später kam Oscar, der andere Kellner, mit noch mehr dreckigen Tellern und noch ein paar Bestellungen.
"Ist die eine Touristin wieder da?" fragte Nando.
"Welche Touristin meinst du?" fragte Oscar zurück.
"Die, die jeden Tag hierherkommt!" antwortete Nando. "Du weißt schon."
Er zeigte mit den Armen, wie fett die Frau war, von der er redete. Oscar verstand und grinste.
"Ja, sie ist wieder da. Warum?"
"Ich wollte nur fragen." Nando ging mit den Tellern zu Pedro, schaute aber noch zurück. "Weißt du, warum sie jeden Tag herkommt?"
"Wegen unseren Steaks?"
"Nein", sagte er dann. "Sie kommt her, weil - sie ist in Roberto verliebt."
Und Nando lachte lautlos. Ja, bei ihm hörte man wirklich nichts, wenn er lachte, obwohl er so aussah, als wie wenn er der glücklichste Mensch auf dieser ganzen gottverlassenen Welt wäre.
"Okay, das reicht!"

Roberto hatte mitgehört, und jetzt ging er auf ihn zu, hatte anscheinend vor, es auszutragen, und Nando stellte schnell die Teller ab, rannte vor Roberto davon, aber er machte es mehr wie so ein Spiel. Roberto kam ihm immer hinterher, durch die ganze Küche, bis Nando in der Ecke stand. Und Roberto stand ihm direkt gegenüber. Nando grinste immer noch, obwohl's jetzt wirklich langsam ernst wurde.

"Eh, pass auf, deine Steaks!"
Roberto drehte sich um und merkte, dass die Steaks kurz vorm Anbrennen waren. Er rannte zurück zum Grill und fluchte. Nando und Pedro lachten sich fast einen ab.
Roberto tat die Steaks, die er noch 'gerettet' hatte, auf eine Platte und gab sie Nando. "Sag Oscar, er soll das den Leuten bringen, die Steaks gut durch bestellt haben."
Nando nahm die Platte und grinste Roberto an. "Das ist ein guter Trick, Roberto! Ich glaube, du wirst mit deinem Restaurant noch viel Geld machen!"
"Hör endlich auf, du kannst nachher Witze machen, wenn du frei hast!" schimpfte Roberto. "Und vergiss nicht: Morgen Abend ist noch eine Geburtstagsfeier. Du musst beim Aufräumen mithelfen. 23 Uhr geht's los!"
"Okay, alles unter Kontrolle", sagte Nando nur. Ausnahmsweise fiel ihm kein Spruch ein, also grinste er einfach so. Roberto reichte das schon.
"Irgendwann hast du nichts mehr zu lachen, das versprech ich dir!" schimpfte Roberto.

Um sechs Uhr hatten Nando und Pedro eine kurze Pause, und sie hockten sich erstmal zum Essen zusammen. Es gab Steaks, so wie meistens, aber Nando hatte soweit nichts dagegen. Das Essen war ganz okay, die Arbeit konnte er auch aushalten, und mehr wollte er gar nicht.

"Was machst du morgen?" fragte er Pedro.
"Ich werde lernen", sagte der. "In zwei Wochen habe ich eine Prüfung in Englisch. Kannst du mir dabei helfen?"
"Okay, kein Problem, können wir machen."

Nach dem Essen mussten sie noch bis acht Uhr abspülen und danach die Küche putzen, aber dann waren sie wirklich fertig für heute. Roberto hatte schon um sieben Schluss gemacht. Ohne ihn ging die Arbeit gleich viel besser voran.

Die zwei gingen auf ihre Zimmer, tranken noch einen Mate-Tee zusammen und aßen ein paar Kekse dazu. Dann legten sie sich hin. Wenigstens hatten sie morgen frei.

Nando schlief bis zehn Uhr. Nach einer Woche Arbeit musste das schon sein. Danach blieb er noch ein, zwei Stunden im Bett liegen, hörte Musik und las ein paar Zeitschriften. Dann stand er auf, ging in die Küche und wärmte ein paar Steaks von gestern für Pedro und sich auf.
Sie "frühstückten", und gingen dann auf Pedros Zimmer, um zusammen zu lernen. Alles war schon bereit.

Nando schaute auf die Blätter, die von irgendeinem Institut waren. "Machst du einen Kursus? Ja, das ist eine gute Idee."
"Ich will demnächst eine Prüfung machen. Wenn ich ein Zeugnis habe, kann ich auch woanders arbeiten."
"Nicht mehr hier bei Roberto, richtig?" Nando hatte schon kapiert.
Die zwei lachten sich einen ab. Dann beruhigten sie sich wieder, Nando nahm ein Übungsbuch und las den Text:
'The life in the city of L. A. - Das Leben in der Stadt Los Angeles..." Er las weiter und nickte. "Ja, das ist ein guter Text. So ist es wirklich in Los Angeles."
"Woher weißt du das so gut?" fragte Pedro.
"Ich bin ein paar Jahre in Amerika gewesen. Willst du mehr darüber hören?"
"Ja, erzähl."

"Es war vor ein paar Jahren, ich glaube, 1996. Damals bin ich nach Amerika gekommen. Zuerst war ich in Los Angeles, in Santa Monica. Ich habe viele nette Leute dort kennengelernt. Dann in San Francisco. Schöne Stadt, wirklich. Danach in Phoenix, in Arizona, aber nur ein paar Wochen. Die Stadt ist mitten in der Wüste, und es gibt nichts, was man dort machen kann, das ist nichts für mich. Dann bin ich weiter gefahren nach Houston, in Texas, aber dort hat es mir auch nicht so gut gefallen. Dann war ich in Miami, dort hat es mir sehr gut gefallen. Es ist fast ein bisschen so wie in Brasilien, gutes Wetter, viele Feste, viele nette Leute. Von dort bin ich weiter nach Washington D.C, und nach New York, da war ich bis letztes Jahr, und von dort bin ich mit dem Flugzeug nach Recife geflogen. Und seitdem bin ich hier in Brasilien."

"Oh!" Pedro war auch beeindruckt. "Und warum hast du so eine lange Reise gemacht? Warum bist du nicht irgendwo geblieben?"
"Ich will einfach frei sein", sagte Nando. "Ich möchte gern die ganze Welt sehen. Deshalb bin ich immer unterwegs." Mehr wollte er nicht sagen.
Dann nahmen sie die Englisch-Bücher, und Nando hörte Pedro ab.

Nach dem Lernen ging Nando raus in die Stadt. Es war Sonntagnachmittag, und jetzt wollte er ein bisschen auf andere Gedanken kommen. Irgendein Fest, wenn's ging, mit Samba und allem, immerhin war er in Rio. Erst kaufte er sich noch einen Papaya-Suco und was zu essen für den Weg. Dann ging er los, Richtung Vergnügen.

"Weißt du, ob heute irgendwo ein Fest ist?" fragte er einen Schwarzen.
"Ja, klar! Willst du auf ein Hip-Hop-Fest gehen?"
"Mmmmh... nein", entschied sich Nando. "Gibt es nicht irgendwas anderes, mit Samba, du verstehst?"
"Okay, dann schau mal zum Strand runter. Da ist immer was."
"Danke, tschau!"

Auf dem Weg traf er überall Leute, die auch gut drauf waren. Ja, die Stimmung in der Stadt war gut. Überall in der Stadt dachten alle immer noch an die Jahrtausendfeier. Nando fand auch, dass er sich für das neue Jahrtausend grad die richtige Stadt ausgesucht hatte. Gut, er hatte damals, Silvester 2000, in der Jahrtausendnacht um ein Uhr zurückkommen müssen, um die Teller in einer Sonderschicht zu waschen, aber wenigstens hatte er bis Mitternacht an der Copacabana feiern können. Das war auch etwas. Und heute Abend sollte es also wieder ein Strandfest mit Samba-Tanz und Live-Musik und allem geben. Da wollte Nando natürlich unbedingt dabei sein.

Zwanzig Minuten später war er da. Es war ungefähr sieben Uhr, also noch viel Zeit, bis die Sonne überhaupt unterging. Und noch mehr Zeit zum feiern.
Es waren ein paar hundert Leute gekommen, viele Arme aus den Favelas, aber auch Leute, denen es soweit besser ging, und natürlich die ganzen Touristen. Nando trank seinen Becher aus und mischte sich unter die Leute. Und dann ging endlich die Musik los.

Die Leute fingen an zu tanzen, alle waren in Stimmung, und Nando am meisten. Er war vielleicht nicht so besonders schlank, aber er tanzte halt gern, und gar nicht mal so schlecht. Und dann fiel ihm die Mulatta auf. Nando sah sie nur und wollte sie haben. Sie passte einfach gut zu ihm, war ungefähr sein Alter, sein Charakter, sein Typ, sein Temperament. Und sie sah auch verdammt gut aus, mit ihrer Zöpfchenfrisur und ihrer schwarzen Haut, auf der das Mondlicht richtig glänzte. Und sie schien allein zu sein. Die Gelegenheit für ihn. Also tanzte er langsam durch die Menge auf sie zu, bis er ihr gegenüber stand. Der DJ legte grade neue Musik auf, einen heißen Samba, der die Leute mitriss. Nando lächelte sie an, und sie lächelte zurück. Er tanzte jetzt extra-gut, um sie zu beeindrucken, wiegte sich richtig im Rhythmus mit, gab einfach alles, was er drauf hatte. Und es klappte. Sie streckte ihre Hand aus, und sie tanzten zusammen weiter. Jetzt waren sie schon so gut wie zusammen.

"Wie heißt du?" fragte er, als das Lied zu Ende war und er kurz Zeit hatte.
"Jane."
"Ich bin Nando", sagte er und grinste freundlich.

Dann ging die Musik wieder los, und so hatten sie nicht viel Zeit zum Reden, aber das machte nichts. Sie tanzten einfach weiter und hatten Spaß daran.
Ein paar Stunden später gingen sie zum Rand vom Fest, wo es leiser war und wo sie keiner störte. "Du tanzt fantastisch. - Aber du bist nicht aus Rio, oder?" fragte sie.
"Okay, das stimmt. Ich bin erst ein paar Monate hier."
"Bist du aus dem Nordosten?"
"Nein. Ich war letztes Jahr in Recife, aber ich bin Kolumbianer."
"Dein Portugiesisch ist sehr gut. Wie lange bist du schon hier?" wollte sie wissen.
"Oh, ich bin im Juli letztes Jahr gekommen, dann bin ich jetzt seit... sechs Monaten..." Er hörte auf, zu reden und wurde mit einem Schlag ernst. "Oh verdammt!"
"Was ist?"

Nando blieb ruhig, jedenfalls sah's so aus, aber in echt war er jetzt sonstwie geschockt. Er hatte die ganzen letzten paar Monate nicht daran gedacht, einfach weil er sich nicht daran erinnern wollte. Eigentlich wäre er lieber sein ganzes Leben hier in Rio geblieben. Aber wenn er das gekonnt hätte, müsste er jetzt eigentlich gar nicht hier sein. Wie auch immer, er musste es ihr sagen. "Ich muss aus der Stadt weg", sagte er. "Heute noch."

"Heute? Aber warum? Nächsten Monat ist hier Karneval. Es wird fantastisch. Bleib doch hier!"
"Ich finde es auch schade, dass ich nicht bleiben kann. Aber ich kann es dir nicht sagen", erklärte Nando. Es tat ihm selber Leid, aber er musste es tun.
"Wann gehst du?" fragte sie.
Nando war sich nicht sicher, er hatte sich ja grade eben erst dran erinnert, dass er heute weg musste, also hatte er sich auch noch nicht überlegt, wie er das machen sollte.
"Weißt Du, wie ich am besten von hier nach São Paulo komme?" fragte er.
"Ja... geh zu der Straße nach São Paulo und mach Autostopp", schlug sie ihm vor.
"Okay, das geht, das könnte klappen", überlegte er.
"Können wir nicht noch ein paar Stunden zusammen bleiben?"
Nando war einverstanden. So hatte er doch noch eine Gelegenheit, sich auf 'ne nette Art von Rio zu verabschieden.
"Okay. Gehen wir zu mir?"
Jane war einverstanden. Sie gingen vom Strand zurück zum Steak-Restaurant. Nando hielt Jane dabei im Arm.

Ein paar Ecken später stand auf einmal ein Typ mit einem Messer vor ihnen. Sie hatten ihn gar nicht bemerkt, weil sie mit sich selber beschäftigt waren. Jetzt war es zu spät zum Wegrennen. Nando ließ Jane los und entschied sich, den Kampf auszutragen.

Der Typ hatte es auch gemerkt und wollte ihm das Messer an den Hals setzen, aber Nando konnte ausweichen, und das Messer erwischte ihn nur leicht an der Schulter. Dann gab er dem Typen einen festen Schlag in den Bauch, dass er zurücktaumelte.

Aber der Kampf hatte grade erst angefangen. Der Typ wollte nochmal zustechen, aber Nando erwischte seinen Arm, und sie fingen an zu ringen. Nando war stärker, aber der andere gab nicht so einfach auf.

Aber Jane war ja noch da. Sie war natürlich zuerst erschreckt gewesen, aber jetzt hatte sie sich wieder. Sie packte die Hand von dem Typ und versuchte, ihm das Messer abzunehmen.

Der Typ hielt das Messer fest, aber er konnte sich nicht gegen beide auf einmal wehren. Sein Widerstand ließ nach, Nando benutzte die Gelegenheit und stieß ihn gegen die Wand. Jetzt war er wehrlos. Dann gab ihm Nando noch einen Schlag aufs Kinn. Das reichte dem Typen, und er haute lieber ab. Sein Messer hatte er verloren. Nando hob es gar nicht erst auf, sondern schob es bloß mit dem Schuh weg. Dann umarmte ihn Jane, und sie küssten sich. Sie half ihm noch, die Wunde an der Schulter zu verbinden, dann gingen sie weiter zu Nandos Zimmer über dem Restaurant. Sie schlichen die Treppe rauf, damit keiner was hörte.

Nando klopfte kurz an Pedros Tür, dann machte er auf. Pedro war noch beim Lernen.
"Kann ich mir ein paar Kassetten von dir leihen?"
"Kein Problem. Nimm sie dir einfach!"
"Okay. Ich bin jetzt mit einer Mulatta auf meinem Zimmer!"
Er grinste Pedro an, und der grinste zurück. Dann nahm sich Nando schnell ein paar Kassetten. Es waren so Sechziger-/Siebziger-Jahre-Rock-und Popsongs. Dann ging er schnell zu Jane zurück.

Er nahm eine von Pedros Kassetten und legte sie in den Rekorder ein. "Freedom is just another word for nothing left to loose..." sang Janis Joplin. Die zwei stiegen ins Bett, zogen sich aus und "feierten" ihre letzte Stunde zusammen.

Es wurde eine Liebesnacht, wie sie zu Rio unbedingt dazu gehörte. Sie gaben sich heiße Küsse, umschlangen sich gegenseitig und vergaßen alles um sich herum. Am liebsten hätten sie gar nicht aufgehört.

Aber ein paar Minuten später war es leider schon wieder vorbei. Die zwei lagen in Nandos Bett, kuschelten noch etwas zusammen und bereiteten sich auf den Abschied vor.
"Willst du wirklich gehen?" fragte Jane nochmal.
"Eigentlich nicht, aber ich muss", antwortete Nando. Mehr verriet er ihr sogar jetzt nicht.

Dann ging die Tür auf, und Roberto stand im Zimmer. "Warum kommst du nicht zur Arbeit?" motzte er Nando an. "Ich hab dir gesagt, du sollst um 23 Uhr da sein!"
"Tut mir leid, Chef, aber ich werde heute nicht mehr arbeiten", sagte Nando nur.
Roberto stand ein paar Sekunden nur da und glotzte ihn an. Dann hatte er sich wieder. "Jetzt reicht es! Du bist gefeuert!"
"Okay, kein Problem, ich wollte heute sowieso kündigen", gab Nando zurück. Aber das hatte er nicht nur gesagt, um möglichst cool zu wirken, er meinte es schon ernst.

Er gab Jane einen Abschiedskuss, sagte noch Tschau zu Pedro, versprach ihm, zu schreiben, packte dann seine paar Sachen zusammen und ging zum Bahnhof. Dass er aus der Stadt rausmusste, tat ihm natürlich immer noch Leid, aber wenigstens war es ein schöner Abschiedsabend geworden.

Nando ging auf die Straße nach São Paulo raus, so wie Jane gesagt hatte, und hielt den Daumen in die Luft. Ein paar Minuten später hielt ein Lastwagen an.
"Wohin?"
"Nach São Paulo. Fahren Sie dorthin?" fragte Nando.
"Klar. Komm rein, hinten ist noch Platz! Wie heißt du?"
"Nando. Und Sie?"
"Fabiano", stellte der Fahrer sich kurz vor.

Nando stieg schnell ein und suchte sich einen Platz auf ein paar Kisten. Er legte sich hin und war kurz danach auch richtig eingeschlafen. Fabiano fuhr los. Und Nando verließ Rio de Janeiro, gerade noch rechtzeitig vor Mitternacht.

Nach ein paar Stunden auf der Hauptstraße bog Fabiano auf eine Nebenstraße ab, die durch den Urwald führte, und stoppte.
"Ich muss jetzt weiter zu meiner Plantage", erklärte er. "Willst du hier aussteigen, oder willst du doch lieber mitkommen?"
Nando überlegte. "Ich würde schon gerne mitkommen. Wieso? Kann ich denn von da nicht weiter nach São Paulo?"
"Hm - ja. Du musst nur warten, bis dich wieder jemand mitnehmen kann. Von meiner Plantage sind es zweitausend Kilometer bis São Paulo. Vielleicht geht es nächste Woche, vielleicht in zwei Wochen - du musst sehen."
"Zweitausend Kilometer? Es tut mir Leid, aber ich glaube, das ist doch zu weit."
"Nicht? Okay, kein Problem. Tschau, Nando."
"Tschau, Fabiano. Wie komme ich von hier nach São Paulo?" fragte Nando den Mann noch.
"Du gehst einfach die Straße da entlang", zeigte er Nando. "Es sind nur noch ein paar Kilometer. Zu Fuß geht es vielleicht."

Ein paar Kilometer. Das hörte sich soweit ganz gut an, und Nando hatte heut sonst noch nix zu tun gehabt, also konnte er’s eigentlich tun. Dann war er wenigstens noch bis zum Morgen in São Paulo.

Also ging er los. Ein paar Minuten später war er aus der Stadt draußen und auf der Straße durch den Regenwald. Links und rechts von ihm war nur die reine Wildnis. Am Tag war der Wald ja schön, aber jetzt in der Nacht war es hier unheimlich, dunkel, aber trotzdem schwül und feucht, und es roch leicht nach verfaulten Pflanzen und verwesenden Tierleichen, kurz gesagt, nach Tod. Die Stadt war Nando lieber.

Es war sehr spät geworden. Vielleicht hatte sich der Mann geirrt, oder er verstand was anderes unter "ein paar Kilometern". Von São Paulo war jedenfalls nichts zu sehen. Nando gab zu, vielleicht wär’s besser gewesen, die Nacht noch in Jacarei oder einer anderen Stadt auf dem Weg zu bleiben. Aber zum Zurückgehen war’s jetzt zu spät. Er hätte sich jetzt ganz gern irgendwo hingelegt, aber das war ihm dann doch zu unsicher. Also musste er weiter.

Er ging weiter, und auf einmal sah er Licht, noch ziemlich weit weg. Die Stadt war’s aber noch nicht; irgendwo dort hinten brannte ein Feuer. Es war aber auch kein Waldbrand, es musste ein Feuer sein, das Menschen gemacht hatten. Nando ging darauf zu.

Als er noch fünfhundert Meter weit entfernt war, konnte er Geräusche von Trommeln und Stimmen hören. Es passte eigentlich überhaupt nicht in diese gottverlassene Gegend, und es klang auch nicht grade sehr vertrauenserweckend. Trotzdem ging er näher hin, aber er nahm vorsichtshalber einen kleinen Umweg, um von den Bäumen verdeckt zu bleiben.

Nando fand einen guten Platz in einem Strauch, von wo er die Leute beobachten konnte, aber nicht von ihnen gesehen wurde. Es waren vielleicht zehn Männer, die da auf der Lichtung im Kreis herumstanden. Die meisten waren wohl Brasilianer, aber einer von ihnen sah eher europäisch aus. Zwischen ihnen, in der Mitte, lag ein Bündel, ungefähr so groß wie ein Mensch.

Jetzt waren sie gerade damit beschäftigt, sowas ähnliches wie ein Gebet aufzusagen. Sie redeten wahrscheinlich portugiesisch, aber Nando verstand die Worte irgendwie nicht. Er strengte sich an, aber er konnte nur ein paar Silben zwischendurch mitkriegen. Teilweise war es auch gar keine richtige Sprache, eher sowas wie ein dunpfes Heulen.

"Buthos... uuooo... komm zu uns... uuooo... Buthos... uuooo... erhöre uns..." Einer von ihnen hielt einen silbernen Stab in der Hand und schwenkte einen Kessel mit Weihrauch, der etwas nach Haschisch roch. Es war eindeutig ein Ritual, was sie da machten. Sie liefen jetzt im Kreis und riefen weiter ihr unverständliches Pseudo-Gebet, alles schien sich irgendwie zu verändern, als wie wenn es nicht mehr die richtige Welt wäre, sondern wie in einem Alptraum, und Nando schaute ihnen die ganze Zeit dabei zu. Ihm gefiel das alles überhaupt nicht, aber er konnte sich auch nicht losreißen davon. Jetzt standen sie still, die Erde fing an, rot zu glühen, und jetzt konnte Nando in dem roten Licht ein paar seltsame Zeichen auf dem Boden entdecken.

Und dann verschwand das Bündel in der Mitte, die Erde brach auf, genau in der Mitte von dem Kreis, es roch nach Autoabgasen, Pulverdampf und verbranntem Plastik. Es war ein Wunder, wie die Leute das aushalten konnten, obwohl sie direkt daneben rumstanden.

Nando bekam den Gestank in den Nase und bekam einen Hustenanfall, und er hustete wie sonstwas. Zum Glück hörten ihn die Leute nicht, weil das Rumpeln noch viel lauter war.

Dann verzog sich der Qualm wieder, die Erde beruhigte sich, der Lärm hörte auf, und Nando bekam sich auch wieder unter Kontrolle. Dann schaute er wieder auf den Kreis. Die Leute waren alle noch da. Aber außerdem war noch einer dazugekommen, ohne dass Nando was davon bemerkt hätte. War er am Ende aus dem Boden heraus gestiegen?

"Ihr habt mich gerufen, und hier bin ich", fing er an. Nando sah ihn und musste sich die Hand auf den Mund legen, um nicht vor Überraschung loszuschreien: Der Kerl war groß, zweieinhalb Meter mindestens, oder noch größer, und trug einen langen Mantel. Was war das? Ein normaler Mensch jedenfalls nicht.

"Was wollt ihr von mir?" fragte der Riese. Der Anführer trat zu ihm hin und fing an, mit ihm zu reden.

Sie redeten leise, aber Nando konnte ein paar Wörter verstehen. "Soldaten", "Verdammte", "heute Nacht" und "Kranke als Belohnung". Er konnte sich schon vorstellen, was die vorhatten, und das war so ein Schock für ihn, dass er dabei ganz vergass, dass er auch auf sich selber aufpassen musste.

"Nein!" schrie er. Es tat ihm sofort leid, dass er das getan hatte, aber konnte jetzt nicht einfach ruhig bleiben.

Die Männer drehten sich zu ihm hin, konnten ihn aber nicht sehen. Dann ging der Riese ein paar Schritte vor, warf seinen Mantel ab - und verwandelte sich in ein Monster. "Der Riese" war ganz sicher kein Mensch. "Er" war mindestens drei Meter groß und sah aus, als wie wenn man ein paar Metallteile in ihn eingebaut hätte.

"AAAaaahhhh!!" brüllte Nando. Dann drehte er sich um und rannte, so schnell wie er nur konnte, ohne zurückzuschauen.

"Rennt ihm nach!" befahl das Monster. Es riss ein paar Äste zur Seite und brach zwischen den Bäumen durch. Die anderen folgten ihm.

Nando hatte zwei Möglichkeiten: Er konnte zurück zur Straße fliehen, oder er konnte noch tiefer in den Wald hineinlaufen. Er dachte gar nicht erst lang drüber nach, sondern entschied sich gleich für den Wald. Das Monster brüllte: "Bringt ihn um!", und alle zogen ihre Waffen und rannten los, ihm hinterher.

Nando hatte sich zum Glück richtig entschieden, wie er in den Wald gerannt war. Auf der Straße hätten sie ihn sofort niederschießen können, wenn er nicht überirdisch viel Glück hatte. Hier im Wald nützten ihnen ihre Pistolen fast nix, weil ihnen die Bäume im Weg standen, und es konnte gut sein, dass sie nicht mehr weiter konnten, weil ihnen irgendwas passierte. Hier im Urwald gab es genug Gefahren. Für ihn aber auch.

Die Leute versuchten, ihm nachzurennen und gleichzeitig auf ihn zu zielen. Aber aussichtsreich war das nicht grade: Es war mitten in der Nacht, und hier im Urwald schien kein Mond durch die Bäume durch. Trotzdem war die Sache für Nando verdammt gefährlich. Eine Kugel hätte schon gereicht, und sie waren zehn gegen einen.

Die ersten Kugeln flogen weit an ihm vorbei und blieben in irgendwelchen Bäumen stecken. Aber für Nando war’s so schon schlimm genug. Er rannte nach vorn übergebeugt, um ihnen kein gutes Ziel zu bieten, und musste nebenbei auch noch aufpassen, dass er nicht mit dem Kopf gegen einen Baum rannte. Von irgendwelchen Tieren ganz abgesehen. Luis, der Anführer von den Typen, war stehengeblieben und versuchte zu zielen. Aber bei dem Lärm, den die anderen machten, konnte er nicht feststellen, wo Nando jetzt war.

Dann schoss Luis, auch wenn er nix erkennen konnte. Zehnmal hintereinander, bis die Munition alle war. Die meisten Schüsse verfehlten in der Dunkelheit ihr Ziel, sinnloserweise. Aber eine Kugel traf Nando in den Arm. Er konnte den Schmerz nicht unterdrücken und schrie auf.

"Da ist er!" brüllte einer. Aber die Männer hatten schon fast alle ihre Munition verschossen und mussten jetzt erst wieder nachladen. In der Dunkelheit war das natürlich idiotisch, drei oder vier von ihnen fiel das neue Magazin aus der Hand, wie sie versuchten, es einzuschieben, und auf dem Boden fanden sie es so schnell nicht wieder.

Luis war inzwischen klar geworden, dass er es so nicht schaffen würde. Er ging zur Straße zurück, stieg ins Auto ein und fuhr los. Er hatte vor, Nando so den Weg irgendwie abzuschneiden.

Inzwischen hatte das Monster im Urwald die Verfolgungsjagd übernommen. Anscheinend hatte es keine Waffe dabei, aber das war ziemlich egal, es war sowieso eindeutig stärker als Nando. Und schneller auch. Und vor allem konnte es in der Dunkelheit perfekt sehen.

Nando stolperte durch den Urwald. Er musste ständig auf alles aufpassen, ob Baumstämme in der Gegend rumlagen oder ob irgendwelche Tiere auf der Jagd waren. Seine Sachen blieben ab und zu an irgendwelchen Büschen hängen und zerrissen, wie er weiter rannte. Nando lief, so schnell es ging, aber jetzt war das Monster direkt hinter ihm her, und seine Beine waren schon ziemlich kaputt. Dann kam er an eine Stelle, wo weniger Gebüsch war, und sah, dass vor ihm ein Fluss lag. Er überlegte nicht lange und sprang rein. Das Monster gleich hinterher.

Aber damit war Nando für den Anfang gerettet. Das Wasser trug ihn, was die Sache gleich leichter machte, und bei der Gelegenheit konnte er seine Beine etwas entspannen, wenn er nur die Arme zum Schwimmen hernahm. Das Monster hatte Probleme: Anscheinend war’s zu schwer und konnte so nicht richtig schwimmen. Während Nando von der Strömung weggetragen wurde, musste es irgendwie durch den Fluss durch waten. Nach ein paar Minuten war Nando am anderen Ufer, als das Monster noch mitten im Fluss unterwegs war.

Jetzt, wo er von dem Monster nix mehr sah, dachte er, es wäre ertrunken oder sonstwie verschwunden, also Inzwischen hatte er sich am Strand hingeflackt, um wenigstens ein bisschen abzuspannen, wie er sah, wie das Monster aus dem Fluss rauskletterte. Wenigstens war es noch ein paar hundert Meter weiter flussaufwärts als Nando. Er stand wieder auf und lief in den Wald rein.

Inzwischen war Luis mit dem Auto die Straße abgefahren und hatte nirgendwo was von Nando gefunden. Jetzt stand er gerade an der Brücke rum, dachte, er hätte Nando verloren, und ärgerte sich etwas drüber. Aber dann sah er auf einmal, wie ein Mann nur ungefähr dreißig Meter vor ihm über die Straße rannte. Das musste Nando sein, und er war’s auch tatsächlich. Luis entsicherte seine Pistole und rannte Nando nach. Er war im Gegensatz zu Nando noch gut in Form, und war so bald in Schussreichweite. Er zielte dahin, wo er glaubte, dass Nando dort war, und feuerte.

Diesmal landete die Kugel in Nandos Bein. Er brüllte vor Schmerz, griff sich ans Bein, fiel fast hin, dann versteckte er sich schnell hinter einem Baum. Luis feuerte weiter auf ihn, traf aber nicht mehr. Eine von seinen Kugeln landete in dem Baum, hinter dem Nando stand, und das war nochmal ein ziemlicher Schreck für ihn. Dann hörte Luis auf zu schießen und versuchte, Nando zu finden. Vorsichtig schlich er durch den Urwald, lauschte auf Geräusche und versuchte, in der Dunkelheit überhaupt was zu erkennen.

Nando stand immer noch hinter seinem Baum. Er lauschte auch, aber bei ihm ging’s ums Überleben, und von daher passte er doch ein bisschen besser auf als Luis. Und vor allem bewegte er sich nicht. Jetzt waren die zwei nicht mal mehr zehn Meter voneinander entfernt, hatten aber beide noch nix bemerkt. Es gab einfach zu viele andere Geräusche hier im Urwald. Dann schlich Luis an Nando vorbei und bemerkte ihn nicht.

Das war Nandos Chance. Er sprang Luis von hinten an und umklammerte seine Arme. Luis versuchte, an seine Waffe zu kommen, schaffte es aber nicht. Nando riss ihn zu Boden, und dann rollten sie auf der Erde hin und her. Normal hätte Nando leicht gewonnen, aber jetzt war er angeschossen und außerdem schon total kaputt von der Verfolgung. Sie kämpften weiter. Luis wand sich in Nandos Griff hin und her, und irgendwie schaffte er es, sich so zu drehen, dass er Nando ins Gesicht sehen konnte. Aber er konnte trotzdem nicht mehr viel tun. Nando schlug mit den Fäusten auf seinen Kopf ein, bis er sich nicht mehr rührte. Dann ließ er ihn liegen, stand wieder auf, sammelte noch die Pistole auf, steckte sie ein und wollte weitergehen.

Und dann hörte er etwas brüllen, zum Glück noch weiter entfernt. Das Monster hatte ihn wieder gefunden. Aber jetzt wollte Nando einfach nicht mehr weiterrennen, und weil er sich retten musste, kletterte er statt dessen den nächsten Baum rauf. Er zog sich immer weiter nach oben, und erst wie er zehn Meter über dem Boden war, traute er sich wieder, nach unten zu schauen.

Aber der Horror fing jetzt erst richtig an. Das Monster hatte tatsächlich angefangen, den Baum raufzusteigen. Nando war klar, dass er weg von hier musste. Es gab nur eine Möglichkeit, er musste auf Tarzan machen. Also griff er sich schnell ‘ne Liane und schwang sich todesmutig durch die Dunkelheit. Er hatte Glück und erreichte den nächsten Baum ohne Probleme. Jetzt musste er eigentlich in Sicherheit sein. Dann schaute er zurück und sah - natürlich undeutlich, es war ja stockdunkel, aber doch eindeutig - das Monster, wie es durch die Luft flog, ihm hinterher. Nando hatte immer noch keine Zeit zum Ausruhen, er musste weiter. Er kletterte ein paar Meter zu den Lianen und schwang sich zum nächsten Baum. Das Monster folgte ihm immer weiter. Nando schwang sich von einem Baum zum nächsten und versuchte, möglichst immer weiter nach oben zu kommen, bis zu den Ästen, die zu dünn für das Monster waren. Aber jetzt war er schon mehr als zwanzig Meter über dem Boden, und es hatte nichts gebracht. Das Monster kam immer näher, und er wurde langsam müde. Jetzt schwang sich Nando wieder an einer Liane weiter, aber er hatte zuwenig Schwung erwischt und kam nicht mehr bis zum nächsten Baum. Er schwang in der Luft an der Liane herum - und sah, wie ihm das Monster an einer anderen Liane entgegen kam. Jetzt ließ es mit der rechten Hand los und versuchte, nach ihm zu greifen. Nando ließ die Hände von der Liane los und rutschte zwei Meter tiefer. Das Monster schlug mit seiner Klaue zu, aber Nando war schon weg. Zum Glück hatte es nicht die Liane erwischt. Er schwang sich weiter und kam zum nächsten Baum.

Wie er sich für ein zwei Sekunden ausruhte, bevor’s zum nächsten Baum weiterging, dachte Nando nach, ob er mit der Pistole etwas anfangen konnte. Aber dann dachte er sich, dass er es in der Dunkelheit besser sein ließ. Er wusste ja nicht mal, ob sie überhaupt noch geladen war. Dann griff er sich nochmal eine Liane und schwang zum nächsten Baum. Er griff mit der linken Hand nach ‘nem Ast und erwischte ihn irgendwie. Dann stellte er seine Füße ab, hielt sich auch mit der zweiten Hand fest, dabei rutschte ihm die Liane aus den Fingern - und wie er sich umsah, merkte er, dass er auf dem falschen Baum gelandet war. Lianen gab’s hier keine, nach unten gab es keine Äste, an denen er sich festhalten konnte, und über die Äste zum nächsten Baum konnte er auch nicht, weil sie zu dünn waren. Er wär todsicher dabei abgestürzt.

Jetzt konnte ihn höchstens noch die Pistole retten. Er hatte nicht nachgeschaut, wieviele Kugeln noch drin waren, aber viele waren’s ganz sicher nicht. Wenn er Pech hatte, war sie schon leer. Er entschied sich, es einfach auszuprobieren. Wenn es nicht klappte, wollte er sich selber runter stürzen. Das war immer noch besser, als von dem Monster zerfleischt zu werden.

Jetzt kam das Monster mit der Liane angerauscht. Es war schwerer als Nando, deswegen landete es ungefähr fünf Meter tiefer als da, wo er stand. Dann klammerte es sich am Stamm fest und fing an, zu ihm raufzuklettern.

Er hatte nur ein paar Sekunden, aber das reichte, um sich einen kleinen Trick auszudenken. Er suchte sich eine Stelle, wo er auf zwei Beinen stehen konnte, hielt die Pistole in der rechten Hand bereit, tat aber so, als wie wenn er sich damit festhalten würde.

Das Monster hatte die Baumkrone erreicht, steckte seinen Kopf zu ihm rauf und schaute ihn mit seinen gelb-roten Augen an. Es riss sein Maul auf, und Nando konnte sehen, dass es zwischen den Zähnen eine lange Zunge hatte, die mindestens einen Meter lang war. Die Angst, die jetzt in seinem Gesicht war, musste er nicht groß spielen. Dann packte das Monster einen Ast und zog sich zu ihm rauf.
"Oh Gott, lass noch eine Kugel drin sein..." betete Nando. Jetzt kam’s drauf an.

Es rollte seine Zunge aus und versuchte, Nando damit zu erwischen. Es ging so schnell, dass er nicht reagieren konnte, und er bekam einen Schlag wie ein Peitschenhieb ab, den er gerade noch aushalten konnte. Dann machte das Monster so einen Ruck, und sein Kopf war jetzt direkt vor ihm. Und dann hielt ihm Nando auf einmal die Pistole an die Stirn und drückte ab. Der Rückstoß von dem Schuss schleuderte ihn zurück, in die Zweige hinter ihm. Nando versuchte, sich festzuhalten, um jetzt nicht auch noch selber runter zu stürzen. Die Pistole hatte er schon fallen gelassen. Dann bekam er sich wieder unter Kontrolle und wartete auf den Aufschlag.

Das Monster fiel fast dreißig Meter tief. Nandos Schuss hatte es tatsächlich noch überlebt, aber der Sturz gab ihm endgültig den Rest. Sein Skelett zerbrach in alle Einzelteile, und nach ein paar Sekunden war es wirklich endgültig vorbei mit ihm. Nando blieb oben auf dem Baum, wollte sich eigentlich nur ein paar Minuten entspannen, schlief dann aber doch ein und wachte erst ein paar Stunden später auf. Dann fing Nando an, langsam wieder runter zu klettern, und schaffte es tatsächlich irgendwie, auf den dreißig Metern nicht loszulassen und runter zu fallen.

Nando starrte auf das Monster, das er getötet hatte. Jetzt, wo die Sonne wieder da war und man sogar hier mitten im Urwald wieder was erkennen konnte, sah er es zum ersten Mal richtig. Zum Glück sah er’s erst jetzt. Wenn er das Monster in der Nacht richtig gesehen hätte, wär er wahrscheinlich vor lauter Schreck schon tot umgefallen.

Nando hatte bis jetzt noch mit einer irgendwie normalen Leiche gerechnet, aber das hier war garantiert nicht mehr normal. Das Monster war noch größer, als er zuerst gedacht hatte, an die vier Meter. Seine Knochen waren aus Eisen, und statt einer Haut war es mit Glas überzogen, das jetzt zersplittert war. Darunter konnte man seine Muskeln sehen. Schwarzrotes Blut floss aus ihm raus und verteilte sich in der Gegend. Nando hielt es einfach nicht länger aus, was er da sah, besonders jetzt nicht, wo er so viel gerannt war, und musste kotzen. Er spuckte einen ganzen Haufen Schleim aus, bis er endlich das üble Gefühl im Bauch los war. Wie er dann damit fertig war, drehte er sich um, rannte los, schaute bloß nicht mehr zurück, und raste weiter wie verrückt, bis er endlich wieder auf der Straße war.

Nando blieb stehen. Seine Lungen waren so schwer, als wie wenn sie aus Blei wären. Er fühlte sich wie von einem Gorilla zusammengeschlagen, er hatte an allen möglichen Stellen Insektenstiche und Verletzungen, in seinem Arm und seinem Bein steckten immer noch die zwei Kugeln, und jetzt in der schwülen Luft würden sich die Stellen am Ende noch entzünden. Er brauchte jetzt unbedingt einen guten Arzt.

Wie er dann wieder auf der Straße nach São Paulo war, beruhigte er sich so langsam wieder. Die Übelkeit, der Schock und so weiter ließen langsam nach, und dann fühlte er sich sogar stolz auf das, was er geschafft hatte. Eigentlich war er jetzt sowas wie ein Held. Es war nur schade, dass er’s so schnell keinem erzählen konnte, dachte er sich noch. Dann ging er langsam weiter. Ja, er hatte es noch einmal geschafft, aber sein Abenteuer hatte damit grad erst angefangen.

Fortsetzung folgt - demnächst in Story Nr. 12 - "Entwicklungshilfe"!
 

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