1. "Nadeshda!" Iwan breitete die Arme aus und lief seiner Frau entgegen.
"Papa!" Jana, seine kleine Tochter, ließ die Hand von ihrer Mutter los, rannte vor,
ließ sich von ihm auffangen und auf den Arm nehmen.
"Iwan!" Und auch Nadeshda fiel ihrem Mann in die Arme, den sie seit Monaten nicht
mehr gesehen hatte. Die drei küssten sich und lachten und weinten gleichzeitig.
"Nadeshda, meine Liebe, ich habe dich so vermisst, da unten in Afghanistan!" freute
sich Iwan. "Wie geht es euch?"
"Wir haben jeden Tag an dich gedacht!" versicherte Nadeshda glücklich und
umarmte ihn nochmal, so fest sie konnte.
"Ich freue mich so, euch wiederzusehen!" Iwan gab den beiden noch ein paar
Küsse. "Fahren wir schnell! Ich will jetzt endlich wieder zu Hause sein, und ich habe
einen Bärenhunger!"
"Ich habe schon Abendessen für dich vorbereitet!" versprach Nadeshda. "Schön,
dass du wieder da bist!"
Sie gingen schnell zum Parkplatz, stiegen in ihren neuen Moskwitsch und machten
sich auf den Weg vom Krasnojarsker Bahnhof nach Hause. Das war 1984, an einem
schönen sibirischen Sommertag.
3. Am Wochenende kamen ein paar Kameraden von Iwan, nämlich Juri, Sergej,
Alexej und Aitschan aus Kasachstan, zu Besuch. Erst feierten sie bei ein paar
Flaschen Wodka den Heimaturlaub, dann beschlossen sie, zusammen auf einen
Ausflug zu gehen, und Nadeshda schloss sich ihnen an. Jana ließ sie bei Sergejs
Frau, bis sie zurück kamen.
Dann fuhren sie mit dem Auto ein paar Stunden Richtung Norden, an dem
mächtigen Strom Jenissei vorbei, bis sie an ihrem kleinen Jagdhaus ankamen.
5. Nadeshda stieg langsam, aber sicher neben Iwan über die steilen Wege hier oben. Ein bisschen war sie wie eine Bärin: Etwas dick und behäbig, aber dafür stark und vor allem ausdauernd. Nach einer Stunde begann der Wald.
10. Iwan blieb nur wenige Wochen bei seiner Familie, dann musste er wieder nach Afghanistan. Es wurde zu einem schmerzlichen Abschied auf dem Bahnhof, aber trotzdem hatte Nadeshda damals noch ein gutes Gefühl.
45. Der Zug fuhr los und ratterte durch die verschneite Landschaft. Auf beiden Seiten zogen endlose Nadelwälder vorbei, und das half, Nadeshda zu beruhigen. Langsam entspannte sie sich wieder. Sie wusste, dass sie auf dem richtigen Weg war.
33. Dann holte sie alle ihre Röcke und Kleider aus dem Kleiderschrank. Sie stieg sogar auf den Dachboden und kramte die ältesten Stücke hervor, die sie seit Jahren nicht mehr angezogen hatte, und auch ein paar Sachen, die Jana als Kind getragen hatte.
38. Nun fehlte nicht mehr viel. Sie packte ein paar Lebensmittel ein, Waschzeug und ein paar Sachen zum Wechseln, nahm auch noch ihre alten Deutsch-Schulbücher, ein Lenin-Bild, und packte noch zwei gerahmte Fotos ein, eins von Iwan, eins von Jana. Die Fotos, auf denen sie drauf war, ließ sie da. Auch den Brief vom Konsulat steckte sie ein.
39. Jetzt brauchte sie noch Kleidung für die Reise. Ihre alten Sachen waren ihr jetzt
viel zu groß und zu weit, das hatte sie schon gemerkt. Also nahm sie Iwans alten
Offiziersmantel. Er war ihr etwas zu lang, aber er behinderte sie nicht zu sehr. Dann
legte sie sich noch ein Schultertuch um, das auch die Abzeichen auf den Schultern
verdeckte.
Dann schloss sie das Haus ab und ging in die Stadt.
46. Eine Woche, nachdem sie losgefahren war, erreichte der Zug Moskau. Hier endete die Transsib. Um nach Deutschland weiter zu fahren, musste sie zum weißrussischen Bahnhof, der am anderen Ende der Stadt lag. Bis der Zug fuhr, hatte sie noch einige Stunden Zeit. Sie beschloss, sich die Stadt anzuschauen. Nadeshda fuhr die Rolltreppen zur Metro hinunter. Die alte Moskauer U-Bahn war noch genauso beeindruckend wie immer.
48. Am Roten Platz stieg sie aus. Das letzte Mal war sie vor fünfzehn Jahren da gewesen, als Iwan bei der Parade vom 1. Mai mitmarschiert war. Sie blieb eine Minute lang stehen und dachte an ihn.
54. Sie kaufte sich eine Fahrkarte bis Berlin, fand das richtige Gleis und stieg in den Zug Richtung Deutschland ein.
11. In der Waffenfabrik "Sieg des Proletariats" begann die Arbeit, so wie jeden Morgen um Acht. Die Maschinen und Fließbänder wurden angestellt, die Arbeiter - viele waren Arbeiterinnen - kamen und gingen an ihren Arbeitsplatz, und die Produktion konnte beginnen. Nadeshda traf sich mit den anderen Partei- und Gewerkschaftsmitgliedern im Versammlungsraum. Heute war wieder ein Redner von der Partei da und sprach über den Fünfjahresplan. Er schimpfte über die Zuspätkommer, über Leute, die nicht genug arbeiteten und so den Plan sabotierten, und über alle, die sonst irgendwie Ärger machten. Die meisten Leute im Raum achteten nicht groß auf die Rede und ruhten sich lieber etwas aus. Auch Nadeshda kümmerte sich nicht viel um das, was er ihnen erzählte. In ihrer Abteilung hatte sie alles unter Kontrolle, und es war nicht ihre Schuld, wenn andere ständig Schlampereien machten.
Um elf Uhr war dann soweit alles erledigt, und sie konnte sich um die restliche Arbeit kümmern.
Nadeshda ging in die nächste Halle. Sie merkte schon beim Reinkommen, dass hier
etwas nicht stimmte: Es war viel zu leise. Und sie sah auch, woran das lag: Das
Fließband stand still, und die Arbeiterinnen saßen daneben, schwatzten
miteinander, und ein paar tranken mitgebrachten Tee. Schnell ging sie zu ihnen hin.
"Was ist mit euch? Warum arbeitet ihr nicht?"
"Es geht nicht, Genossin Vengerova, eine Stange ist ins Fließband geraten! Wir
können sie nicht mehr herausziehen, sie sitzt fest!"
Nadeshda schaute hin und sah die Stange. Sie griff danach, und versuchte, sie zu
bewegen. Die Stange steckte ziemlich fest, aber Nadeshda war stark. Sie packte sie
noch etwas kräftiger an, und zog sie dann mit einem festen Ruck heraus. Dann
stellte sie das Fließband wieder an. "Jetzt könnt ihr weitermachen!"
31. Dann heulte die Sirene, die Arbeit war zu Ende, und alle verließen die Fabrik. So wie an jedem Abend kontrollierte sie noch einmal die Halle, ob alles in Ordnung war, ob die Arbeiter alles aufgeräumt hatten, und schloss die Halle ab.
35. Nadeshda saß die ganze Nacht an der Arbeit. Während alle anderen Leute tief und fest schliefen, ratterte ihre Maschine ohne Unterbrechung. Erst am Morgen hatte sie geschafft, was sie sich vorgenommen hatte.
27. Im Januar 2000, ein paar Monate vor den nächsten Präsidentschaftswahlen, bekamen die Arbeiter in vielen russischen Staatsbetrieben ihre Löhne ausbezahlt, auf die sie seit Monaten gewartet hatten. Auch die Arbeiter der Waffenfabrik "Sieg des Proletariats" waren darunter.
44. Nach einem langen Fußmarsch kam sie am Bahnhof an und kaufte sich eine Karte. Auf dem Bahnsteig war das übliche Durcheinander los, alle liefen hin und her und durcheinander, nur Nadeshda bahnte sich den Weg durch die Menge, ohne ihren Kurs zu verlieren. Sie hatte noch etwas Zeit und benutzte sie, um sich für die lange Fahrt etwas zu essen zu holen.
Dann war es soweit. Der Zug der Transsibirischen Eisenbahn fuhr ein und hielt quietschend. Die Türen öffneten sich, Leute strömten heraus, begrüßten ihre Freunde und Verwandten, die sie abholten, oder gingen direkt weiter zum Ausgang. Es war nicht genug Platz im Zug für alle neuen Reisenden, deshalb mussten Nadeshda und die anderen noch warten, bis die neuen Wagen angehängt waren.
Schließlich war es soweit, und sie konnten einsteigen. Nadeshda suchte sich einen Platz, nahm den Koffer auf den Schoß und blieb so sitzen. Die anderen Reisenden machten es sich auf ihren Plätzen richtig gemütlich, redeten, aßen, tranken, aber Nadeshda saß nur da, machte weiter nichts und redete auch mit niemandem.
2. "Wie ist es euch gegangen?" wollte Nadeshda wissen.
"Wir kommen gut voran", meinte Iwan. "Die Afghanen haben keine Chance gegen
uns. Sie haben keine Flugzeuge, und auch kaum Flugabwehr. Wir können ihre
Stellungen bombardieren, wie wir wollen. Es ist einfacher als eine Kaninchenjagd."
"Hattet ihr viele Verluste?" fragte Nadeshda.
"Nicht viele", antwortete Iwan. "In meiner Einheit waren es in den letzten Wochen
zwei Tote und ein paar Verletzte. Aber für jeden von unseren Soldaten, die sie
umbringen, töten wir mindestens zehn Partisanen!"
Nadeshda lächelte und war stolz auf ihren Mann. "Ich weiß, dass ihr es schaffen
werdet. Ich sage meinen Arbeiterinnen immer, sie sollen sich anstrengen und gute
Arbeit leisten, damit ihr bald wieder zurück kommen könnt."
"Wir stehen auch kurz vor dem Sieg", redete Iwan weiter. "Die Partisanen kämpfen
nur noch, weil sie von den Imperialisten Waffen und Geld geliefert bekommen. Aber
wir werden sie besiegen!"
Sie fuhren weiter und redeten, so ähnlich wie schon seit fünf Jahren, seit damals die
Sowjets in Afghanistan einmarschiert waren.
4. Dort stellten sie die Autos ab und packten ihre Gewehre aus: Es waren welche
von der Marke Dragunov SVD, mit Zielfernrohr, erstklassige Waffen für die Jagd.
Dann verteilten sie sich in Zweiergruppen, wobei Nadeshda und Iwan
zusammenblieben. Sie nahmen auch einen Schlitten mit, um die Beute nachher zu
transportieren.
6. Die zwei blieben stehen und luden ihre Dragunovs mit jeweils zehn Schuss.
"Viel Glück", wünschte Nadeshda ihrem Mann.
"Gute Jagd!" ermunterte er sie.
Den Schlitten ließen sie am Waldrand stehen, im Gebüsch versteckt. Dann trennten sie sich, denn sie konnten beide auf sich selbst aufpassen. Sie blieben gerade noch so nah beieinander, dass sie sich im Notfall noch etwas zurufen konnten.
Dann betrat sie den Wald. Vorsichtig schlich sie durch das Unterholz. Ab und zu blieb sie stehen und hielt sorgfältig Ausschau. Mit dem Gewehr konnte man noch auf 100 Meter genau treffen. Langsam ging Nadeshda weiter. Und plötzlich sah sie den Wolf, ein schönes, starkes Exemplar mit grauem Pelz. Für einen Mantel aus diesem Fell zahlten die Leute über tausend Rubel. Schnell legte sie ihre Dragunov an und zielte auf den Wolf. Er war noch etwas außerhalb ihrer Reichweite, aber vielleicht erwischte sie ihn trotzdem. Sie drückte ab - und verfehlte ihn. Im letzten Augenblick war er davon gesprungen. Aber Nadeshda gab die Jagd deshalb nicht gleich auf. Sie machte sich wieder langsam auf den Weg, genauso wie vorhin. Jetzt beobachtete sie die Gegend noch vorsichtiger, immerhin konnten auch noch die anderen Wölfe aus dem Rudel unterwegs sein. Eine halbe Stunde lang strich sie durch den Wald.
Und dann sah sie ihn. Sie legte an und schoss.
8. Dann zog sie den Wolf bis an den Waldrand und wartete auf die anderen. Iwan kam als erster angelaufen und sah den erlegten Wolf. Er war genauso stolz wie seine Frau.
"Wir geben ihn Aitschan mit, er soll ihn weiter verkaufen", meinte Iwan und befühlte das Fell. "Das ist ein guter Pelz - er wird sich freuen, dass er so ein gutes Geschäft machen kann."
Sie luden den toten Wolf auf den Schlitten und zogen ihn so bis zur Straße. Dann versteckten sie ihn im Schuppen hinter dem Jagdhaus und warteten, bis die anderen zurückkamen.
9. Ein paar Stunden später saßen sie dann zusammen beim Wodka. Auch die
Anderen waren erfolgreich gewesen, aber als sie zusammen die erlegten Wölfe
begutachteten, mussten alle zugeben, dass ihr Wolf der ansehnlichste war.
"Hast du ihn geschossen?" fragte Juri.
"Nein", antwortete Iwan. "Es war Nadeshda." Die anderen zeigten Respekt.
Aitschan schaute sich den Pelz von allen Seiten an. "Wieviel wollt ihr dafür?"
"Fünfhundert Rubel", sagte Nadeshda. "Das ist er schon wert, es ist ein sehr guter
Pelz."
"Ja, es ist ein guter Pelz", stimmte Aitschan zu. "Aber soviel kann ich euch nicht
dafür bezahlen."
"Warum nicht?" fragte Nadeshda.
"Ich muss ihn doch weiter verkaufen", sagte Aitschan. "Zweihundert Rubel, aber
mehr kann ich euch nicht bieten."
"Dreihundert?" bot Iwan an.
"Zweihundertfünfzig. Das ist mein letztes Angebot."
Zweihundertfünfzig Rubel waren immerhin ein Monatsgehalt eines guten Arbeiters,
also waren Iwan und Nadeshda eigentlich einverstanden, und dann besiegelten sie
das Geschäft mit einem Handschlag. Aitschan gab ihnen das Geld, lud die Wölfe in
seinen Wagen, und sie fuhren zurück.
52. "Sorry, how much is that?"
"Was?"
Der Tourist suchte in seinem Wörterbuch. "Wieviel kostet das?" fragte er nochmal,
diesmal auf russisch, und zeigte auf ihren Mantel. Jetzt verstand Nadeshda.
"Hundert Rubels?" bot er an.
Er hatte sie wohl für eine von den Leuten gehalten, die an die Touristen Uniformen
und Orden verkauften. Das war jetzt von der Roten Armee übrig geblieben.
"Nein!"
13. Im März 1985 sah Nadeshda im Fernsehen einen Bericht. Der sowjetische Staats- und Parteichef Tschernenko war gestorben. Er war gerade erst seit einem Jahr im Amt gewesen, und das machte Nadeshda doch etwas unruhig. Sein Nachfolger als Generalsekretär der Kommunisten wurde Michail Gorbatschow.
15. Aber dann veränderte sich alles so schnell, dass Nadeshda nicht mehr mitkam. Unter den Kommunisten war das Leben nicht einfach gewesen, aber sie hatte sich doch an die alte Sowjetunion gewöhnt und manchmal sogar halbwegs gut gelebt. Damit war jetzt Schluss.
Gorbatschow verkündete den Menschen seine Reformen, die am Ende die Welt verändern sollten: Glasnost - Offenheit - und Perestrojka, Umbau. Dazu gehörte auch, dass zum ersten Mal von einer allgemeinen Krise geredet wurde (und geredet werden durfte). Aber keiner ahnte, wie schlimm die Krise wirklich war.
Drei Jahre nach Iwans Tod, im Mai 1988, befahl Gorbatschow den Rückzug aus
Afghanistan. Ein Jahrzehnt Krieg war umsonst gewesen. Das war noch nicht das
Ende: Zum ersten Mal seit dem Zweiten Weltkrieg wurde in der Sowjetunion
abgerüstet. In vielen Waffenfabriken wurde die Produktion auf andere Gegenstände
umgestellt, und auch in Nadeshdas Fabrik wurden jetzt auch Kochtöpfe produziert.
Aber das reichte noch nicht. Früher waren viel zu viele Waffen in der Sowjetunion
gebaut worden, und jetzt war die Planwirtschaft nicht auf die Umstellung vorbereitet.
1989 begann damit, dass überall in Osteuropa der Widerstand aufflammte. Im Juni errang die antikommunistische Bewegung "Solidarnosc" in Polen bei den ersten freien Wahlen einen gewaltigen Sieg. Auch in der DDR, Ungarn, Bulgarien und der Tschechoslowakei brach der Kommunismus zusammen. Ende des Jahres wurde dann auch der rumänische Diktator Ceaucescu gestürzt und bald darauf hingerichtet.
1990 erklärten sich die baltischen Sowjetrepubliken für selbstständig, und damit war das Ende der Sowjetunion schon abzusehen, obwohl Gorbatschow noch versuchte, den Verfall aufzuhalten. Im gleichen Jahr erhielt er den Friedensnobelpreis, aber im eigenen Land brachen immer mehr Probleme über ihn und die Menschen herein.
1991 begann damit, dass der Warschauer Pakt aufgelöst wurde. Im August nahmen die Kommunisten Gorbatschow in seiner Datscha gefangen und versuchten, in Moskau die Macht zurück zu bekommen, aber sie versagten dabei. Aber auch Gorbatschows Zeit war damit zu Ende: Jelzin, der russische Präsident, der dafür gesorgt hatte, dass die Kommunisten gescheitert waren, war nun der starke Mann im Staat. Jetzt dauerte es nicht mehr lange, und die Sowjetunion war endgültig in ihre Einzelteile zerfallen. Bald darauf bekam Nadeshda mit, dass Sergej deshalb Selbstmord begangen hatte. Jetzt wurde die Marktwirtschaft eingeführt, und damit ging die alte Zeit endgültig zu Ende.
17. Alles hatte sich in Russland verändert. Die Politiker von der neuen Regierung redeten von Freiheit und Demokratie, die alles verbessern sollten. Aber auch wenn es stimmte, Nadeshda bekam davon nichts mit. Es gab immer mehr Kriminalität, in allen Medien wurde von Drogen und Prostitution berichtet, dafür ging die Wirtschaft kaputt, und der Rubel wurde praktisch wertlos. Viele Fabriken schlossen, unzählige Leute wurden arbeitslos. Die Rentner und Kranken hungerten. Nur ein paar Kapitalisten machten gute Geschäfte mit überteuerten Waren aus dem Westen, mit denen sie den Leuten das Geld aus der Tasche zogen. Kein Stein blieb mehr auf dem anderen, und was jetzt aufgebaut wurde, war nicht für die kleinen Leute, sondern für eine kleine Gruppe Privilegierter, genauso wie früher in der Sowjetunion.
Im September 1993 versuchten die kommunistischen Abgeordneten aus der Duma noch einmal, Jelzin abzusetzen und so die Sowjetunion wieder zu errichten. Aber die Ministerien und die Armee blieben auf Jelzins Seite, und so war das Unternehmen aussichtslos. Am Ende versuchten die Kommunisten, mit Gewalt an die Macht zu kommen, aber nach einem schweren, blutigen Kampf im Parlamentsgebäude mussten sie aufgeben. Juri war dabei gewesen und wurde dafür ins Gefängnis gesperrt. Russlan Chasbulatow und Alexander Ruzkoj, die Anführer der Putschisten, wurden später freigelassen, aber von Juri hörte Nadeshda nichts mehr.
1995 gab es noch einmal einen Krieg. Jelzin schickte die Armee in den Kaukasus, nach Tschetschenien. Aber am Ende musste er seine Truppen doch zurückziehen. Es war ein Krieg genauso wie in Afghanistan, nur viel kleiner, dreckiger und mieser. Alexej zog auch in den Krieg, aber verschwand bei den Kämpfen um Grosny. Jetzt waren fast alle von Iwans alten Genossen nicht mehr da.
16. Zuerst hatte Nadeshda noch gedacht, dass sie selber wie bisher weiterleben können würde. Immerhin hatte sie ihre Arbeit behalten, wo Millionen andere Arbeiter schon auf der Straße saßen. Aber es half trotzdem wenig, weil das Geld nicht ausreichte, um die neuen Waren zu kaufen, und am Ende standen sie und Millionen anderer Russen mit offenem Maul vor den vollen Regalen, an die sie nicht heran kamen.
18. So sah die Welt jetzt für Nadeshda aus: Ihre alte Welt und ihr altes Leben waren
zusammengebrochen, und die neue Welt war schlimmer, als sie es sich vorher
irgendwie vorgestellt hatte. Sie war noch nicht bereit, ein neues Leben in dieser Welt
anzufangen. Oft dachte sie, dass die Kommunisten doch Recht gehabt hatten.
Und sie war sich auch sicher, wer an allem, was passiert war, die Schuld hatte.
"Jelzin ist ein versoffenes Schwein!" schimpfte Nadeshda bei jeder Gelegenheit.
Noch nie hatte sie einen Menschen so sehr gehasst.
19. Und es wurde immer noch schlimmer. Schon seit ein paar Jahren waren die Löhne nicht mehr pünktlich gezahlt worden, aber 1999 bekamen die Arbeiter vom "Sieg des Proletariats" gleich einige Monate lang keinen Lohn ausbezahlt. Ob die Bürokratie in Moskau alles verschlampt hatte oder irgend etwas anderes schuld war, wusste niemand genau. Und in vielen russischen Fabriken und anderen Staatsbetrieben sah es ähnlich aus. Die Arbeiter taten das einzige, was sie jetzt noch tun konnten.
Pünktlich um zwölf Uhr begann in Nadeshdas Fabrik der Streik. Die Maschinen wurden abgestellt, und alle verließen die Fabrik. Auch Nadeshda ging heim, aber sie hatte überhaupt kein gutes Gefühl. Wie es jetzt weitergehen sollte, wusste sie nicht.
Noch etwas später war ihr gespartes Geld verbraucht, und Nadeshda und Jana mussten alles verkaufen, was sie nicht zum Überleben brauchten. Viel Geld bekamen sie nicht, weil es den meisten anderen Leuten jetzt ähnlich ging. Das Gewehr behielt Nadeshda, so dass sie wenigstens jagen konnten und ab und zu Fleisch auf dem Tisch hatten.
22. Nadeshda und Jana saßen beim Abendessen. Keine von beiden sagte etwas, sie saßen nur da und aßen mit gesenkten Köpfen. Nach dem, was ihnen in den letzten Jahren passiert war, kam es den zwei so vor, als ob sie vom Leben ausgeschlossen wären und nichts mehr tun konnten. Wenigstens Nadeshda.
Jana hörte auf zu essen und legte ihre Gabel beiseite. "Mamuschka?"
Nadeshda schaute auf. "Was ist, mein Kind?"
Jana schaute ihrer Mutter ins Gesicht. "Ich habe nachgedacht. Wir brauchen
unbedingt Geld, sonst verhungern wir. Ich will mir eine Arbeit suchen."
"Gut, versuch es, vielleicht hast du diesmal Glück", sagte Nadeshda, aber sie
glaubte gar nicht mehr daran, dass Jana wirklich Erfolg haben würde. "Wo willst du
Arbeit suchen?"
"Ich wollte mir keine Arbeit hier in Krasnojarsk suchen", antwortete Jana.
"Nicht? Wo dann?" fragte Nadeshda, schon leicht misstrauisch.
"Ich will in den Westen gehen", sagte Jana entschlossen. "Vielleicht nach Finnland,
nach Deutschland, oder nach Frankreich."
"In den Westen?" wiederholte Nadeshda. "Weißt du nicht, wovon du sprichst? Der
Westen hat uns nur Kriminalität und Drogen gebracht. Dort kann kein anständiger
Mensch leben. Warum zum Teufel willst du dorthin gehen?"
"Mamuschka, hier in Russland gibt es auch Kriminelle, und wir haben trotzdem
überlebt!" Jana ließ sich nicht einschüchtern. "Wenn ich nicht gehe, dann werden wir
hier verhungern. Im Westen gibt es Arbeit, und sie zahlen mit harter Währung!
Wenn ich nur ein paar Monate dort arbeite, können wir von dem Geld ein paar Jahre
leben!"
Nadeshda gefiel der Plan immer noch nicht, aber sie musste zugeben, sonst hatte
Jana recht.
23. Am nächsten Tag gingen sie dann zum Bahnhof und kauften für ihre letzten
paar Rubel eine Fahrkarte Richtung Westen. Dann gingen sie auf den Bahnsteig
und machten sich zum Abschied bereit. Jana umarmte Nadeshda.
"Lebwohl, bleib tapfer, Mamuschka, und bitte weine nicht, weil ich weggehe." Und
sie küsste ihre Mutter zum Abschied.
Nadeshda schaute ihre Tochter noch einmal an. Und dann fiel ihr ein, dass sie sich
damals auch hier auf dem Bahnsteig von Iwan verabschiedet hatte. Darauf brach sie
in Tränen aus.
"Mamuschka, du brauchst nicht zu weinen!" beruhigte sie Jana. "Wir werden uns
wiedersehen, ganz bestimmt!"
Nadeshda wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. "Es ist... ich habe an deinen
Vater gedacht. Vor vierzehn Jahren ist er hier mit dem Zug gefahren und nie mehr
zurückgekommen."
Jana wurde still, denn damit hatte ihre Mutter sie daran erinnert, dass sie sich auf
eine ungewisse Zukunft einließ. Aber sie dachte auch daran, dass hier in Russland
die Zukunft genauso ungewiss war, und so umarmte sie ihre Mutter noch einmal und
stieg fest entschlossen in die Transsib ein.
Dann fuhr der Zug ab, und Jana war weg. Nadeshda blieb noch lange stehen, auch
als die Eisenbahn schon längst außer Sichtweite war.
24. Nach Janas Abfahrt litt Nadeshda unter dem Alleinsein. Normalerweise hätte sie sich noch durch die Arbeit etwas ablenken können. Aber jetzt, wo sie zu ewigem Nichtstun verdammt war, traf sie die Einsamkeit doppelt so schwer.
28. Aber als die Arbeit am nächsten Montag wieder begann, fehlte Nadeshda. Die Arbeiterinnen wunderten sich, denn bisher war sie immer zur Arbeit gekommen. Aber dann dachten sie doch nicht weiter darüber nach und machten weiter wie üblich. Keine von ihnen glaubte ernsthaft, dass etwas mit Nadeshda passiert sein könnte, und so ließen sie sich Zeit bis zum Abend. Jelena, die in der Nähe wohnte, sollte bei Nadeshda vorbeizuschauen.
30. Mit dem Essen bekam Nadeshda langsam ihre Kraft zurück. Die erste Prüfung war überstanden. In der nächsten Woche war sie schon wieder stark genug, um Einkaufen zu gehen, und noch eine Woche später - es war an einem Freitag - ging es ihr so gut, dass sie wieder zur Arbeit gehen konnte. Aber das ging wirklich nur wegen ihrer unschlagbaren Konstitution. Von dem, was sie überhaupt in diese Lage gebracht hatte, hatte sie Jelena nichts erzählt, und sie erzählte es auch keinem anderen.
Also ging sie hin, schon weil sie jetzt nicht noch länger in ihrer Hütte bleiben wollte. Ihre Arbeiterinnen begrüßten sie, völlig überrascht und auch geschockt über ihren schlechten Zustand, fragten, wie es ihr ging, aber Nadeshda wollte jetzt nicht viel reden. Sie begann wieder mit der Arbeit und kontrollierte die Produktion, die jetzt wieder anlief. Aber trotzdem ging es nicht so wie früher. Sie hatte zwar den Hunger und die Grippe überstanden, aber jetzt kamen die Gedanken an Jana wieder zurück. Ihr wurde klar, dass sie nie wieder davon loskommen würde, und dass sie es auch nicht vergessen konnte. Den ganzen Tag lang dachte sie darüber nach. Und sie entschloss sich.
37. Danach legte sie sich hin und schlief bis zum Mittag. Dann stand sie auf, ging zur Fabrik und kündigte.
40. Nach einem langen Weg erreichte sie das Rossia-Hotel und ging zum
Restaurant. Ein Türsteher hielt sie auf. "He, was willst du hier, Weib?"
"Ich bin Nadeshda Vengerova, und ich will mit Aitschan sprechen!" entgegnete sie
und ließ sich nicht von ihm beeindrucken.
"Er hat gesagt, nur Geschäftsfreunde und Bekannte dürfen zu ihm!" meinte der Kerl.
"Ich kenne ihn!" Nadeshda blieb eiskalt. "Er war im gleichen Bataillon wie mein
Mann, Iwan Vengerov!"
Der Türsteher nahm sein Handy und wählte eine Nummer.
"Hallo? ... Ich bin es. Hier ist eine Frau, die Sie sprechen will. ... Ihr Name ist
Nadeshda Vengerova. ... Ja? Gut." Er nickte und wendete sich wieder an Nadeshda.
"Er ist einverstanden."
Nadeshda betrat das Restaurant. Überall saßen die Leute, aßen die feinsten Sachen und tranken erstklassigen Wein dazu. Für ein Menü hätte Nadeshdas ganzer Monatslohn nicht gereicht. Ein paar Leute sahen sie schief an, aber Nadeshda schaute so scharf zurück, dass sie es lieber sein ließen.
Aitschan saß im Hinterzimmer, zusammen mit ein paar Männern in dunklen Anzügen und zwei Mädchen. Zuerst erkannte Nadeshda ihn fast nicht mehr, und ihm ging es ähnlich. Wo Nadeshda vierzig Pfund verloren hatte, war Aitschan ungefähr genausoviel schwerer geworden. Sein Gesicht war widerlich fett.
"Hallo Nadeshda!" begrüßte er sie. "Was machst du hier? Brauchst du etwas?"
Nadeshda kam sofort zur Sache. "Ich brauche ein Visum für Deutschland und etwas
Geld, damit ich ein paar Monate dort bleiben kann", erklärte sie Aitschan.
"Ein Visum und Geld für Deutschland?" wiederholte er. "Das ist nicht billig. Kannst
du dir das leisten?"
"Du kannst mein Haus und alles, was darin ist, haben", gab Nadeshda zurück. "Ich
brauche ein Visum für Deutschland und fünftausend Deutschmark."
Aitschan fragte sich, warum sie so etwas tun wollte, aber das gute Geschäft war ihm
wichtiger. "Einverstanden", sagte er. "Wir treffen uns heute Abend bei dir. Ich
besorge inzwischen das Geld und dein Visum." Zu dem einen Typen sagte er: "Gib
ihr echtes Geld, sie ist eine Bekannte von mir."
21. Eines Tages trafen sich Nadeshda und Aitschan zufällig in der Stadt. Ihm schien
es ganz gut zu gehen, und das machte sie etwas misstrauisch.
"Ah, Nadeshda! Wie geht es dir?" begrüßte er sie.
"Ich habe dich lange nicht mehr gesehen" antwortete Nadeshda. "Was machst du
hier in Krasnojarsk?"
"Ich habe jetzt viel zu tun", erzählte er. "Alle möglichen Geschäfte. Ich habe es in
den letzten Jahren zu etwas gebracht. Ich bin jetzt ein reicher Mann. Das hätte es in
der alten Zeit nicht gegeben!"
"Uns geht es nicht gut", entgegnete Nadeshda, die sich denken konnte, was für
"Geschäfte" das waren. "Ich habe seit Monaten keinen Lohn mehr bekommen. Wir
streiken jetzt. Und meine Tochter findet keine Arbeit."
"Ach ja, deine alte Fabrik", erinnerte er sich. "Aber was deine Tochter angeht: Ich
könnte ihr sicher weiterhelfen! Ich habe einen Geschäftspartner, ihm gehört eine Bar
mit Nachtclub, bei ihm könnte sie arbeiten! Sie wird gut verdienen! Viele Mädchen
tun das!"
Nadeshda dachte sich, dass sie ihn am liebsten erschießen würde, wenn er Jana
wirklich zu so einer "Arbeit" zwingen würde. "Lebwohl!" sagte sie nur, drehte sich um
und ging.
"Wenn du etwas von mir brauchst, frag im Hotel Rossia nach! Dort kennt man mich",
rief ihr Aitschan nach.
Sie ging nach Hause, wütend und verbittert.
47. Aber die wimmelnden Menschenmassen und die vielen (wenn auch nicht alle) Gesichter, die voll von Unglück, Hoffnungslosigkeit und Verzweiflung waren, erinnerten Nadeshda daran, wie miserabel auch ihre Lage jetzt war.
Dann kam sie unten an und stieg in die vollbesetzte Metro ein.
51. Nadeshda ging weiter. Überall, wo sie hinkam, hatte sich Moskau verändert. An allen Straßen saßen Bettler und alte Frauen, die versuchten, Essen an die Passanten zu verkaufen oder ihren letzten Besitz veräußern mussten. In der Metro waren die Gänge voll von Straßenmusikanten, die aber, so wie es aussah, genauso arm waren wie die meisten Russen. Die einzigen Leute, denen es gut ging, waren Touristen aus dem Westen, neue Geschäftsleute und Verbrecher. Hier in Moskau waren nicht so viele Häuser heruntergekommen und verfallen wie in der Provinz, wo die Leute kein Geld für eine Renovierung hatten, aber die Stadt hatte sich durch die renovierten Häuser sehr verändert. Es war nicht mehr das alte Moskau. Mit dem Gedanken stieg sie wieder in die Metro hinunter.
53. Dann fuhr Nadeshda weiter zum weißrussischen Bahnhof. Sie hatte genug von Moskau gesehen.
26. Stundenlang lag Nadeshda auf dem Fußboden. Irgendwann hielt sie es so nicht mehr aus und kroch ins Bett. Sie wollte jetzt nur noch schlafen, schlafen und vergessen. Irgendwann schlief sie dann auch ein, aber sie fand trotzdem keine Ruhe. Ständig schreckte sie auf, weil sie von Jana geträumt hatte, und ihr wieder alles einfiel.
Am nächsten Morgen stand Nadeshda nicht auf, und auch die nächsten Tage nicht, außer ein paar Minuten zwischendurch, wenn sie es vor Hunger nicht mehr aushielt. Aber das Essen schmeckte ihr nicht, und so aß sie nicht viel. Natürlich wurde sie dadurch geschwächt, aber darum kümmerte sie sich nicht. Sie dachte nur an Janas Tod.
Und das wurde fast zu ihrem Verhängnis. Ein paar Tage, nachdem sie die Nachricht von Janas Tod bekommen hatte, brach der Winter in Krasnojarsk herein. Ein schwerer Sturm heulte, der Schnee überzog in der Nacht das Land mit einer eisigen Decke, und es wurde entsetzlich kalt. Nadeshda hatte in ihrem Schmerz nicht ans Heizen gedacht, und jetzt war es zu spät. Die Haustür war zugeschneit, und das Haus verwandelte sich in eine Eistruhe.
Als Nadeshda am Morgen aufwachte, bekam sie einen schweren Hustenanfall. Ihr war gleichzeitig heiß und kalt, und ihr Kopf schmerzte, als ob er zerspringen würde. Sie hatte sich eine schwere Grippe eingefangen, und jetzt stand ihr Leben auf der Kippe. Wenn sie jetzt nicht bald Hilfe bekam, brauchte sie sehr viel Glück und eine eiserne Gesundheit, um durchzukommen. Aber es kümmerte sich keiner um sie, und so war sie auf sich angewiesen. Tage und Wochen vergingen, während sie allein in ihrem Bett lag, vom Fieber und von Alpträumen gequält. Nur manchmal fand sie die Kraft, aufzustehen und ein bisschen zu essen und zu trinken. Sie hätte leicht dabei verhungern können; es war reines Glück, dass sie vorher so dick gewesen war.
29. Vor der Tür von Nadeshdas Haus lag meterhoch Schnee. Jetzt fing Jelena an, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Sie stapfte durch den Schnee bis zum Haus, nahm die Schneeschaufel, die noch neben der Tür stand, und schaufelte den Schnee zur Seite. Zu ihrer Überraschung war die Tür nicht verschlossen. Langsam machte sie auf.
Im Haus war die Luft unglaublich stickig. Jelena brauchte eine Minute, bis sie sich
daran gewöhnt hatte und weitergehen konnte.
"Nadeshda?" fragte sie vorsichtig. "Genossin Vengerova?" Aber sie bekam keine
Antwort.
Sie öffnete die Tür zum Schlafzimmer, etwas ängstlich, weil sie nicht wusste, was
sie am Ende erwartete. Aber dann ging sie doch hinein.
Und sie sah Nadeshda im Bett liegen, völlig bewegungslos. Ihre Augen waren
geschlossen, ihr Mund war offen, und ihr linker Arm hing wie tot zu Boden. Das
Zimmer stank nach schlechter Luft und Schweiß.
"Na... Nadeshda!" stammelte Jelena. "Nadeshda!!!"
Der Schrei riss Nadeshda aus ihrem Koma heraus. Sie öffnete die Augen, wollte
auch etwas sagen, aber konnte nicht sprechen. Jelena stürzte an ihr Bett, teilweise
überrascht, teilweise immer noch geschockt. Nadeshda hatte sich seit einem Monat
nicht mehr richtig waschen können, und dementsprechend sah sie jetzt auch aus.
Ihre Haare waren nur noch fettig und verfilzt. Ihre Kleider, die sie einen Monat lang
ununterbrochen getragen hatte, konnte man wegschmeißen. Überall auf der Haut
hatte sie Insektenbisse, die teilweise schon eiterten. Aber das alles war für Jelena
nicht so schlimm und schockierend wie Nadeshdas ausgehungerter Körper. Früher
war sie mehr als kräftig gebaut gewesen, wie eine echte russische Mamuschka.
Jetzt hatte sie fast vierzig Pfund verloren, ihr Gesicht war hart und eckig geworden,
und sie war so schwach, dass sie nicht allein aufstehen konnte.
Als sie sich beruhigt hatte, half Jelena ihr erst einmal, aus dem Bett zu kommen,
sich zu waschen und neue Kleidung anzuziehen. Dann lieh sich Jelena von den
Leuten aus dem nächsten Haus etwas Essen und kochte schnell eine Suppe für
Nadeshda.
12. Damals, als er mit dem Zug abgefahren war, hatte sie nicht gewusst, dass sie Iwan nie mehr lebend wiedersehen würde. Einige Monate nach der Jagd kam ein Telegramm, das ihr Iwans Tod meldete. Seine Einheit war in einen Hinterhalt der Mudjaheddin geraten und im Kampf vernichtet worden. Erst nach Tagen hatte man ihre Leichen gefunden. Iwan wurde bald darauf im Sarg nach Hause gebracht und beerdigt. Seine Kameraden waren nicht dabei, außer Aitschan, der sich irgendwie Urlaub beschafft hatte. Von jetzt an musste Nadeshda sich und Jana alleine durchbringen.
14. "Es ist uns egal, wer im Kreml regiert", meinten viele. "Wir wollen nur, dass endlich der Krieg dort unten in Afghanistan aufhört." Nadeshda war anderer Meinung. Sie wollte, dass der Krieg weiterging, nur damit Iwan gerächt wurde. Und sie war sich auch sicher, dass die neue Regierung genau das tun würde.
32. Aber diesmal nahm sie heimlich eine Kiste Gewehrmunition mit Stahlmantel mit.
Zu Hause nahm Nadeshda als erstes ihr Gewehr von der Wand. Sie hatte sich entschlossen, und jetzt konnte sie keiner mehr aufhalten.
34. Dann machte sie ihre Nähmaschine bereit und fing an, die Gewehrkugeln bei allen Kleidern unten in den Saum einzunähen. Wenn sie sie anzog, war nichts davon zu bemerken.
36. Etwas schwerer war das Problem, die Dragunov zu verstecken. Nadeshda zerlegte das Gewehr in seine Einzelteile, nahm ihren Koffer und nähte die Teile ins Futter ein. Das musste ausreichen.
42. Ein paar Stunden später klopften Aitschan und seine Männer an Nadeshdas
Haustür, und sie ließ sie herein.
"Früher haben wir noch Geschäfte mit Pelzen gemacht", erinnerte er sich. "Weißt du
noch?"
Nadeshda sagte kein Wort dazu. Aitschan zuckte die Schultern. Dann sah er sich im
Zimmer um. Das Haus war seit zwei Monaten nicht mehr richtig saubergemacht
worden, und jetzt waren auch schon ein paar kleinere Reparaturen nötig.
"Wieviel Geld wolltest du haben, Nadeshda?"
"Fünftausend Mark. Wieso?" fragte sie zurück.
"Bitte, schau dich doch um, Nadeshda. Hier würde doch sowieso niemand mehr
leben wollen. Das Haus ist nichts wert. Dafür zahle ich dir - zweitausend Mark. Mehr
nicht."
Nadeshda schaute ihn wütend an. "Fünftausend!" Mehr sagte sie nicht.
Aitschan war lange genug Soldat gewesen, um zu wissen, wie ein Mensch aussah,
der bereit war, zu töten. Und Nadeshda sah jetzt genauso aus. "In Ordnung,
fünftausend."
Er legte das Visum auf den Tisch und zählte Nadeshda 5000 deutsche Mark in die
Hand. Sie gab ihm dafür den Hausschlüssel und das Grundbuch. Dann war der
Handel abgeschlossen, und sie gingen raus. Aitschan warf einem von seinen
Männern den Schlüssel zu und ließ ihn das Haus absperren. Dann stiegen er und
seine Leute in ihre Luxuslimousine und fuhren weg.
25. Eines Morgens, ein paar Wochen nach Janas Abfahrt, lag ein Brief aus Deutschland im Kasten. Nadeshda öffnete ihn. Der Brief war auf russisch geschrieben, aber er kam nicht von Jana. Es war eine Nachricht vom russischen Konsulat in Gerburg. Nadeshda war beunruhigt. Sie las den Brief schnell durch:
"Sehr geehrte Frau Vengerova!
Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihre Tochter Jana Vengerova am 16. Oktober in einer Bar in Gerburg ermordet aufgefunden worden ist. Die deutsche Polizei nimmt an, dass es sich dabei um ein Sittlichkeitsverbrechen handelt. Wenn Sie die Leiche ihrer Tochter nach Russland überführen wollen, wenden Sie sich an die zuständigen Stellen. Die Kosten dafür betragen..."
Aber Nadeshda hatte schon aufgehört zu lesen. Der Brief rutschte ihr aus den
Händen und flatterte auf den Boden, so sehr zitterten ihre Hände auf einmal.
"NEIN!!!" brüllte sie und hämmerte mit den Fäusten an die Wand. "NEEIIN!!!" Aber
niemand hörte sie, das nächste Haus war über 100 Meter weg.
Nadeshda brach zusammen und weinte nur noch. Es war einfach zuviel für sie.
43. Nadeshda schaute ihnen nach und spuckte aus. Dann nahm sie ihren Koffer und ging den weiten Weg zum Bahnhof. Auf dem Weg merkte sie, dass ihr die Krankheit und der Hunger doch nicht so sehr geschadet hatten: Vielleicht war sie ein bisschen schwächer geworden, aber dafür konnte sie sich mit 20 Kilo Fett weniger am Leib besser und schneller bewegen. Jetzt beim Gehen fühlte sie sich auf einmal leichter, und das half ihr dabei, wieder Mut zu fassen. Hier in Russland hielt sie nichts mehr, aber für ihre Tochter konnte sie trotzdem noch etwas tun. Sie wollte den Mörder suchen, sie wollte ihn finden, sie wollte ihn töten, und sie würde ihn auch töten, oder er musste sie als erster töten. Daran dachte sie, als sie den Weg ging, und sonst an nichts.
49. Aber dann wurde sie mit einem Schlag aus ihren Erinnerungen gerissen. Ein Mann war von hinten gekommen, hatte sich ihren Koffer geschnappt und wollte wegrennen.
Nadeshda war klar, ohne dass sie viel überlegen musste: Wenn er mit dem Koffer verschwand, hatte sie endgültig alles verloren. Sie rannte sofort los. 50. Mit dem schweren Koffer kam der Dieb nicht besonders schnell voran, und er warf ihn weg. Aber Nadeshda gab sich damit noch nicht zufrieden. Sie gab ihm einen kräftigen Tritt in den Hintern, so dass er stolperte, und schlug ihm dann mit der Faust ihn den Nacken. Er fiel sofort zu Boden. Nadeshda nahm schnell ihren Koffer, bevor ihn jemand anderes nehmen konnte, dann nahm sie sich wieder den Dieb vor, der gerade versuchte, sich aufzurappeln. Sie schlug ihm mit ihrem Koffer vor den Kopf, dass er wieder hinfiel, dann packte sie ihn, riss ihn hoch und prügelte weiter auf ihn ein. Erst als er aus mehreren Wunden am Kopf blutete, hörte sie auf. Sie warf ihn wieder auf den Boden und ließ ihn liegen.
7. Diesmal hatte sie ihn. Der Wolf brach zusammen und blieb tot liegen. Das Blut floß aus seiner Wunde und verteilte sich in dem staubigen Erdboden. Nadeshda ging zu ihm hin, prüfte erst, ob er auch wirklich tot war. Sie konnte zufrieden sein.
41. Auf dem Weg zurück fragte sie sich, was sie tun sollte, wenn Aitschan ihr nicht weiterhalf. Aber sie war sich eigentlich schon sicher, dass sie sich im Notfall mit Gewalt holen wollte, was sie brauchte, um nach Deutschland zu fahren. Sie stellte sich vor, wie sie Aitschan und seine Bande mit ein paar gezielten Schüssen aus ihrer Dragunov SVD niederstreckte.
20. Einige Umfragen in dieser Zeit unter jungen Russinnen ergaben, dass die meisten von einer Zukunft als Schauspielerin oder Topmodel träumten. An nächster Stelle folgte der Berufswunsch Prostituierte.
Fortsetzung folgt - demnächst in Story Nr. 11, "Spießer-Report"!
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