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SÜDSEE · Groteske · Von Niels Höpfner










Niels Höpfner

 

SÜDSEE

Groteske







 

PERSONEN:

FRIEDRICH BOMM, Großindustrieller

ARTUR, sein Sohn

SENTA, seine Tochter

GERDA, seine Frau

MAMA, seine Mutter

HAMLET, sein Schauspieler

 











Der Salon eines Hauses, das in kolonialistischem Stil gebaut ist. Beim Mobiliar sollte es sich es sich um eine Mischung aus europäischen Stilmöbeln des 19. Jahrhunderts und exotischen Korbmöbeln handeln, die alle, obwohl sie nicht billig waren, schon etwas schäbig aussehen- wie nach der 50. Aufführung in einem Theater.

An den Seitenwänden hängen sich zwei Spielautomaten gegenüber, auch ein Flipperapparat und eine Musikbox müssen vorhanden sein. Auf einer Staffelei trocknet ein im Stil des Malers Paul Matthias Padua gefertigtes Ölbild von Friedrich Bomm. Wichtig ist noch zu wissen, daß feudale Häuser in südlichen Breitengraden fast ausschließlich Steinfußböden haben. Die Halle ist nach hinten offen, ihre Decke wird durch zwei oder drei Säulen gestützt, also keine Glaswand wie in englischen, skandinavischen oder russischen (Theater-)Landhäusern. An die Halle schließt sich eine überdachte Terrasse an, die bespielbar sein muß, also nicht in zu großem Rampenabstand liegen darf.

Die Terrasse ist umgeben von einem Garten mit tropischer Fauna und Flora. Dieses Ambiente muß sehr sorgfältig und liebevoll gestaltet werden, da es äußerst realistisch wirken soll und nicht wie ein Bild von Henri Rousseau. Notwendig sind lebende Tiere (Papageien, Kolibris, Affen, Schlangen, auch ein Pfau und eine Riesenschildkröte sollten nicht fehlen), Ziersträucher und Palmen, die nicht aussehen wie in einem Schaufenster von Woolworth.

Der Garten läßt Durchblick aufs Meer. Der Himmel sollte nicht statisch blau sein; wenn möglich, ziehen Wolken vorbei. Das tropische Environment muß beschneit werden können. Von größter Wichtigkeit sind auch die Geräusche: Die Südsee hat einen ganz spezifischen Sound.- Die gesamte Landschaft muß in Sekundenschnelle abgeräumt werden können.

Übrigens: Das Stück spielt  n i c h t  in der Südsee.









 

 

ERSTER AKT

Am Morgen.

 

SENTA die einen Ozelot streichelt: Schlingpflanzen. Nichts als Schlingpflanzen. Ein Dschungel von Schlingpflanzen in meinem Kopf. Es ist gräßlich. Wenn einem so die Gedanken geknebelt sind.

ARTUR:  Gedanken? Ach ja, Gedanken.

SENTA:  Hast du wieder deinen garstigen Tag? Du hast wieder deinen garstigen Tag. Spürst du denn nicht, wie ich 
l e i d e? Artur!

ARTUR:  Nimm eine Tablette.

SENTA:  Als ob man mit einer Tablette das Leiden auslöschen könnte. Man kann es betäuben, ja, aber nicht auslöschen.

ARTUR:  Nimm 20. Oder 50. Damit kannst du's auslöschen. Damit kannst du einen Weg in den Dschungel hauen. Für Sekunden die Klarheit der Gedanken. Sternenklar. Mondklar. Sonnenklar. Und nicht mehr zurück, nie mehr zurück, weil hinter dir der Dschungel zugewachsen ist.

SENTA:  Ich habe das Gefühl, mein Kopf zerspringt im nächsten Augenblick. Diese Wärme ist ekelhaft.

ARTUR: Eine neue Bosheit von Bomm, daß er sich weigert, die Klima-Anlage reparieren zu lassen.

SENTA:  Diese Klebrigkeit am ganzen Körper. Eine zweite widerliche Haut.

ARTUR:  Erhöhter Blutdruck. Angst!

SENTA:  Letzte Nacht, unterm Moskitonetz: allein. Und an den Wänden fressen kleine Tierchen noch kleinere...

ARTUR:  Das Gesetz des Urwalds...

SENTA:  ...was, dachte ich, wenn sie jetzt über dich herfallen? Durch ein zufälliges Loch. Und keine Kraft mehr, um nach Hilfe zu schreien. Und wer hätte mich auch hören sollen? Erhöhte Schweißabsonderung. Dann die Erlösung durch Schlaf. Für Minuten. Erlösung? Wir in den Bergen, du und ich. Jungfräulicher Schnee. Da, plötzlich, gibt der Boden unter mir nach, und ich falle und falle, aber lande ganz sanft. Schmerzlos. Und über mir, weit oben, Himmel, hell und freundlich. Und da dein Gesicht. Stecknadelkopfgroßer Kummer. Und du gibst mir deine Hand, dein Arm wird lang, unendlich lang, und hat Kraft und reißt mich heraus aus dem sonst ewigen Gefängnis. Ich werde wach und denke, mit Schrecken, daran, faß ich jetzt die Vorhänge öffnen muß und daß mich eine gelbgrüne Sonne tyrannisieren wird...

ARTUR:  ...eine Eiterbeule...

SENTA:  ...in die man hineinstechen muß, damit die Pest herausfließt...

ARTUR:  ...Ja, Senta, damit die Pest herausfließen kann...

SENTA:  Leg deine Hände an meine Schläfen. Ja, deine Hände bringen Kühlung. Deine kühlen Hände. Nordpolhände.

Gerda tritt auf. Sie trägt einen lachsfarbenen, mit schwarzer Spitze besetzten Unterrock. 

GERDA:  Was für ein schöner Tag. Lauter. Was für ein schöner Tag! Seid ihr taub? Ich sagte: Was für ein schöner Tag! – Wenn ihr schon kein  G u t e n M o r g e n herauskriegt kriegt, könnt ihr dann nicht irgend etwas grunzen, das wenigstens so ähnlich klingt? Nein? Wieder einmal bockig und störrisch? W o m i t  h a b e  i c h   s o l c h e 
K i n d e r  v e r d i e n t. Ihr könnt euch euer G u t e n  M o r g e n  an den Hut stecken. Schließlich bettle ich nicht darum. Ich bin doch keine Bettlerin. Mein Gott, womit habe ich solche Kinder verdient! – Trotzdem, ich bleibe dabei: Was für ein schöner Tag! Und jeder Tag ist schön. Hier. Einer wie der andere. Völlig überflüssig, jemandem einen  G u t e n M o r g e n  zu wünschen. Der Morgen wird gut, so oder so. Und der ganze Tag. – Auch kein Küßchen auf die Wange? Herzloses Pack. Und so etwas habe ich in die Welt gesetzt. War strahlend vor... vor  M u t t e r g l ü c k. Ich werde euren Vater bitten, daß wir beide... das nächste Mal... allein reisen. Jawohl, allein. Ohne euch.

SENTA:  Das werdet ihr nicht tun.

GERDA:  So. Wir werden das nicht tun?

SENTA: Nein. Weil wir siamesische Vierlinge sind. Fünflinge. Sechslinge.

GERDA: Und dein Bruder, was meint der dazu?

SENTA:  Stör ihn nicht. Artur denkt nach.

ARTUR:  Birkenkäfer... Borkenkäfer... sagt man B i rkenkäfer oder B o rkenkäfer?

GERDA:  Birkenkäfer... Borkenkäfer... ich glaube, eines Tages werde ich noch wahnsinnig.

SENTA:  Mach uns diese Freude, Mutter.

ARTUR:  Ich ertrage keine Frauen, die, am späten Morgen, wie Küchenschlampen herumlaufen... und überhaupt...

GERDA sehr pathetisch: Als ich heute aufwachte... mein erster Gedanke...  i h r … ich konnte es nicht erwarten... euch zu sehen... Sie bricht in Tränen aus, beruhigt sich wieder und geht zur Musikbox. 

ARTUR:  Bitte, verschon uns mit deinem Dienstmädchengeschmack. Marika Rökk singt "Eine Insel, aus Träumen geboren". Artur und Senta leiden still. 

GERDA:  Was für ein schöner Tag!

Von der Terrasse her tritt Friedrich Bomm auf. Er ist mit Hawaii-Hemd und heller Hose gekleidet. In einer Hand trägt er einen sehr großen, lebenden Hummer.

BOMM:  Seht euch das an! Wohl ein Prachtexemplar, nicht wahr? Hat einer von euch jemals ein solches Prachtexemplar gesehen? Kaum, nehme ich an. Bin mit Hamlet zum Korallenriff geschippert. Wir tauchten. Das Biest hockte da, in kaum fünf Meter Tiefe. Kühner Zugriff, schon saß das Vieh im Kescher. Hamlet tritt auf, in Badehose, mit einem Außenbordmotor auf der Schulter. Für Friedrich Bomm sind nur die größten Fische gut genug, und was da sonst so kreucht und fleucht. Petri Heil... Petri Dank.

HAMLET:  Ich hab das Ding abmontiert. Die Nigger klauen, was nicht niet- und nagelfest ist.

BOMM:  Hamlet, dein Verhältnis zu Eigentum ist sehr gesund. Auch wenn's dir nicht selbst gehört. So sollten alle denken. – Nimm das Vieh mit in die Küche. Da kann es schmoren, bis es im Kochtopf hingerichtet wird.

HAMLET:  Gern, Herr Bomm. Hamlet ab.

BOMM:  Um sechs schon war ich auf den Beinen. Und bin sicher, ihr strapaziertet die Matratzen noch. Kleiner Strandlauf, fünf Kilometer. Erschwerte Bedingungen, wenn man mit den Füßen einsackt in den Sand. Dann Gymnastik, 25 Liegestütze und ein Dutzend Kniebeugen, das gibt Kraft in Arm und Bein, und am Bauch setzt man kein Fett an. Zum Schluß, als lockernde Erfrischung, 3000 Meter schwimmen, nicht aufs offene Meer hinaus, immer hübsch parallel zur Küste, wegen eventueller Wadenkrämpfe und der Haie wegen. Wimmeln soll's von Haien hier, und der Hai will nicht vom Hai gefressen werden. Das Ganze: Übungen zur Unsterblichkeit. Fit bleiben ist alles. Nur nicht morsch werden. Das Schlimmste wäre, morsch zu werden. Hilflos. Unbrauchbar. Morsch zu werden... wie ihr.

Ich habe gute Laune. Die Grundstimmung an der Aktienbörse war freundlich auch am Freitag. Standardwerte schlossen gut behauptet. Chemieaktien konnten sich verbessern. Stahlaktien blieben im Vergleich zum Vortag ziemlich unverändert. Elektrowerte heraufgesetzt. Die Tendenz ist steigend, insgesamt. – Artur, deine Apathie wird furchtbarer von Tag zu Tag. Der Grad deiner Verrottung ist unermeßlich. Nicht einmal Autos fährst du mehr kaputt. Der letzte Bentley wurde vor einem halben Jahr verschrottet, und an die blauen Lamborghinis kann ich mich schon gar nicht mehr erinnern. Bist du krank, Artur?

ARTUR:  Ich fühle mich wohl, daß ich aus meiner Haut platzen könnte.

BOMM:  Hast du deine Lektion gelernt, Artur? Definiere:  K o n z e r n. Du kannst es nicht, weil du völlig unfähig bist. Ich wiederhole das Wort: u n f ä h i g. "K o n z e r n: Vereinigung mehrerer rechtlich selbständiger Unternehmen unter einheitlicher Leitung zu wirtschaftlichen Zwecken in gegenseitigem Beherrschungs- und Abhängigkeitsverhältnis. Horizontale Konzerne bestehen aus Unternehmen des gleichen Wirtschaftszweiges, vertikale Konzerne aus Unternehmen verschiedener Produktionsstufen, z.B. Bergwerke, Eisenhütten, Maschinenbau." Oft steht an der Spitze des Konzerns eine  D a c h g e s e l l s c h a f t.  Was ist eine D a c h g e s e l l s c h a f t, Artur?

ARTUR:  "Eine Dachgesellschaft ist ein Unternehmen (meistens eine AG oder GmbH), das der Zusammenfassung der Kapitalinteressen an Erwerbsunternehmungen mit dem Ziele dauernder Beherrschung und Kontrolle der Beteiligungen dient."

BOMM:  Bravo, Artur, bravo! Nun erläuter den Begriff  S c h a c h t e l p r i v i l e g! – Warum schweigst du? Kannst du's nicht? Ich wußte, du kannst es nicht. Schreib es dir hinter die Ohren, ein für alle Mal. Wie eine lächerliche Litanei: "Das S c h a c h t e l p r i v i l e g  ist eine Steuervergünstigung  für Schachtelgesellschaften, d.h. für Kapitalgesellschaften, deren Beteiligung an einer anderen Kapitalgesellschaft mindestens 25% beträgt. Gemäß § 9 Körperschaftsteuergesetz blieben bis zum 31.12.1954 die auf die Beteiligung entfallenden Gewinnanteile für die Berechnung der Körperschaftsteuer bei der Muttergesellschaft außer Ansatz und waren nicht der Steuer unterworfen, während die Tochtergesellschaft auf den an die Muttergesellschaft abzuführenden Gewinnanteil nicht den ermäßigten Körperschaftsteuersatz der Dividendenausschüttungen, sondern den vollen Körperschaftsteuersatz zu entrichten hatte. Durch Körperschaftsteuergesetz 1955 dahin geändert, daß die Tochtergesellschaft auch den der Muttergesellschaft zufließenden Gewinnanteil nur mehr zum ermäßigten Satz von 30% zu versteuern braucht. Dagegen hat die Muttergesellschaft auf die empfangene Dividende eine Nachsteuer von 15% zu entrichten (Körperschaftsteuergesetz 1955 §§ 9 und 19, Abs.4), falls nicht § 9, Abs.3, Satz 2 Körperschaftsteuergesetz Platz greift; durch Steuer-Änderungsgesetz vom 18.7.1958 ist die besondere Körperschaftsteuer auf 36% festgesetzt, für die im § 19, Abs. 2 bezeichneten Kapitalgesellschaften auf 12,5%..." Artur, du lernst deine Lektion nie. Wozu studierst du eigentlich? Wenn du studierst...

GERDA:   Enterb ihn nicht schon wieder, Friedrich.

BOMM:  Und du, Senta, was treibst du? Außer, deine Katze zu streicheln, übrigens: Katzen mag ich nicht, und deine Tränendrüsen zu trainieren...

SENTA:  Ich sitze am Klavier und übe.

BOMM:  Das versteh ich nicht. Klavierspielen, nichts ist leichter auf der Welt. Was hat man anderes zu zun, als im richtigen Augenblick die richtigen Tasten mit der richtigen Kraft anzuschlagen?

SENTA:  Das Mechanische ist nicht so wichtig. Du vergißt, Vater, den Dienst am Ideal. Ausbilden muß sich die schöpferische Seele zu Harmonie, Fülle, Vollendung: Welt der Ewigkeit.

BOMM:  Ewigkeit... du bist nicht ewig jung. Heirate, damit Geld zu Geld kommt. Den Konzertsaal unserer Stadt hab ich nur deinetwegen finanziert. Du sollst ihn eröffnen! Ich weiß zwar, daß die meisten Kritiker bestechlich sind, aber wie teuer wird es, wenn ich auch noch das ganze Publikum kaufen muß? Ach, ihr seid Faulpelze, völlig aus der Art geschlagen, Schmarotzer, Parasiten... Gesindel. Mein Fleisch und Blut. Welche Blamage. – Alles, was ihr habt, habt ihr von mir. Alles, was ihr seid, seid ihr durch mich.

SENTA: Verzeih, Vater.

ARTUR: Verzeih, Vater.

BOMM:  Ich verzeihe nicht. Ich bestrafe oder belohne.

ARTUR: Ich kann's nicht mehr ertragen. Laß uns gehen, Senta.

SENTA: Ja, laß uns gegen. Zu ihrem Ozelot. Komm, Jago. Artur, Senta und Jago ab.

BOMM:  D e i n e  Kinder, Gerda. Und ich muß sie erziehen. Du hockst da und rührst dich nicht.

GERDA:  Ich habe Postkarten zu schreiben an unsere Freunde in der Heimat, damit die Sehnsucht nach der Ferne auch sie ergreift.

BOMM:  Verdammte Südsee...

GERDA:  ...und doch immer wieder...

BOMM:  Ja. Immer wieder. Immer wieder.

GERDA:  Trotzdem, ich besteh darauf, es ist das Pa-ra-dies. Göttliche Insel. Ich glaube, eines Tages werde ich noch wahnsinnig.

Senta, angezogen als Krankenschwester ROSIE, kommt mit MAMA im Rollstuhl. Mama ist mindestens 100 Jahre alt. Sie ist anscheinend völlig gelähmt.

BOMM:  Mama! Zu Senta-Rosie  Wie geht es unserer Patientin?

SENTA:  Blutdruck und Puls wie immer. Kein Fieber. Eine ruhige Nacht. Heute morgen vier Stunden am Tropf, der künstlichen Ernährung wegen.

BOMM:  Sag mir, R o s i e, gibt es keine Infusionen mit Himbeereisgeschmack?

SENTA:  Nein, Herr Bomm.

BOMM: Mama hat nämlich immer Himbeereis so gern gegessen. Zu ihren Lebzeiten. Am liebsten  p f u n d w e i s e  Himbeereis. Mama, ich verspreche dir, eines Tages sollst du wieder Himbeereis essen können. Die Medizin macht große Fortschritte, von Tag zu Tag. Wir werden alle neuen Kapazitäten konsultieren. Und plötzlich wirst du wieder gesund sein. Wie früher. Irgendwo im Haus übt jemand, vermutlich Sentas Alter ego, auf dem Klavier Beethovens vergilbtes "Albumblatt für Elise". Wie früher! Erinnerst du dich, wie wir beide bei einem Ausflug ein Ruderboot geliehen hatten und mitten auf dem See umkippten, weil ich Unfug machte? Ich war damals so klein, daß ich noch nicht schwimmen konnte. Du packtest mich beim Schlawittchen und brachtest mich sicher an Land. Und dann die ersten langen Hosen. Ein Matrosenanzug, wie zum Hohn. Ich glaub, ich bin nicht einmal hundert Schritte gegangen, da fiel ich hin und riß in den Stoff einen Winkel, an beiden Knien. Der schöne neue Matrosenanzug! Zur Strafe wurden daraus dann kurze Hosen, und ich mußte sie tragen, bis ich sechzehn war. Senta betrachtet Bomms Porträt. Und als ich noch ganz klein war, hast du mir viele Bauklötze geschenkt, zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Bunte Bauklötze aus Holz. Es hat für mich nichts Schöneres gegeben als diese Bauklötze. Was konnte man aus ihnen alles zaubern: Eisenbahnen...Häuser...Autos...Schiffe...die ganze Welt... das Universum... Gefällt dir das Bild, Rosie?

SENTA: Es ist Ihnen sehr ähnlich, Herr Bomm.

BOMM:  Von einem anerkannten Künstler. Gemessen am Honorar, jedenfalls. Ich habe zehn Stunden Modell gesessen, einen ganzen, verlorenen Arbeitstag. Als ich das fertige Bild sah, war ich ziemlich enttäuscht, um nicht zu sagen, verärgert. Sieh dir nur meine Hände an! Ich sagte zum Maler: 'Die sehen ja aus wie Krallen.' Der gab das auch zu, ohne Verlegenheit, und machte eine sehr witzige Bemerkung: 'Wenn  S i e  etwas in die Hand nehmen, Herr Bomm, geben Sie das vielleicht wieder her?' Ist das nicht witzig? Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen: Früher, an der Börse, hatte ich nämlich einen Spitznamen, und an den erinnerte ich mich, in diesem Augenblick. An der Börse hieß ich immer nur:  D e r  G e i e r. Und nur aus Neid und Haß nannten die Gnomen mich so. Die Ungerechtigkeit der Welt ist unerträglich. Unerträglicher auf dieser Welt ist nur noch der widerliche Aasgestank. Man muß das Aas vertilgen, um sich die Pest vom Leib zu halten. Seuchenbekämpfung im Dienst der Volksgesundheit. – Rosie, fahr Mama nach draußen. Mama, genieße den herrlichen Anblick dieser Landschaft! Er dreht den Rollstuhl herum, so daß man Mama von hinten sieht. Ist sie nicht... kolossal? Ja, sie ist kolossal. Senta mit Mama ab.

GERDA:  Deine Mutter. Immer nur deine Mutter. Das grenzt an Fetischismus. Einen Krüppel ein halbes Leben so mit sich herumzuschleppen. Mama hier, Mama da. Vor dreißig Jahren lag sie im Bett starr, eines Morgens, niemand weiß, wie es geschah. Und du verweigerst ihr seit dreißig Jahren den Gnadentod. Hätschelst und päppelst sie, gibst Unsummen von Geld für Ärzte aus, und, mittlerweile, gehört sie zu unserem Gepäck.

BOMM:  Gerda, du bist grausam.  M e i n e  M u t t e r... und wer bist du?

GERDA:  Deine Frau!

BOMM:  So.  M e i n e  Frau, also. Er geht an den linken Groschenautomaten und spielt. – Und was geschah in Tanger?

GERDA:  Du meinst den Kellner mit dem roten Halstuch, ja?

BOMM:  Ja.

Gerda geht an den anderen Groschenautomaten und spielt.

GERDA: Ich knöpfte ihm die Hose auf. Im Fahrstuhl.

BOMM:  Im Personalaufzug!

GERDA:  Sein Samen verschmierte mir's Make-up, ehe wir im 12. Stockwerk waren. Jugend. Er wurde richtig rot. Konnte sich nicht vorstellen, daß eine feine Ziege wie ich auch Wünsche hat.

BOMM:  Und in San Francisco?

GERDA:  Ach ja, die Parkbank. Ich hab gedacht, da gäb's nur Schwule. Bis dann der Neger kam. Du meinst den Neger, nicht? Er war so wunderbar. Wir trieben es, und Leute mit Kinderwagen spazierten herum und schauten diskret vorbei. Sein Stempel war schon phänomenal.

BOMM:  Und im Flugzeug, nach Djakarta?

GERDA:  Du meinst den Steward? Herrlich! Ich täuschte eine Unpäßlichkeit vor, mitten in der Nacht, und er hat mich wieder auf die Beine gebracht. Die anderen Passagiere schliefen.

BOMM:  Und die Geschichte mit... Siegfried?

GERDA:  Sprich nicht davon!  I c h  b e b e  h e u t e  n o c h.  Das weißt du. Schlappschwanz. Du bist ein Schlappschwanz. Verglichen mit Siegfried... und all den andern... Bomms Automat spuckt viele Groschen aus.

BOMM:  ...und gewinne, trotzdem, immer wieder, und du verlierst.

GERDA:  Ich glaube, eines Tages werde ich noch wahnsinnig. Gerda ab. Hamlet tritt auf, in Tenniskleidung.

BOMM:  Bist du verheiratet, Hamlet?

HAMLET:  Nein, Herr Bomm.

BOMM:  Heirate nie. Das Element des Manns ist der Kampf, den braucht er auch im Haus, doch Frauen sind Memmen. Entweder heulen sie oder legen sich auf den Rücken und strecken alle Viere von sich, in der Erwartung, daß der Mann sich auf sie wirft. Dann quietschen sie vor Glück wie... Meerschweinchen. Ich hab das nicht durchschaut bei meiner Heirat, aber sie wurde auch mehr aus praktischen Erwägungen vollzogen.

HAMLET:  Ich verstehe, Herr Bomm.

BOMM:  Gut, man braucht, was man braucht. Aber warum dieser Aufwand denn beim Balzen Lächerliche Verrenkungen, die einem die Gier befiehlt. Als ob's nur ein Objekt der Geilheit gäbe! Mehr als genug ist doch gesorgt für alle Schwänze dieser Welt. Aber nein, da wird gekrochen vor einem Menschen, den man für unersetzbar hält. Vielleicht verursacht Liebe solche Blindheit.  B e s t i m m t  verursacht Liebe sie. Und was ist das,  L i e b e ? Die klügste Definition, die ich jemals las, hieß: "Liebe ist zielgehemmte Sexualität." Also etwas für arme Leute. Die keine Kraft haben, sich durchzusetzen. Ich komme immer zum Ziel. Meine Natur ist stark...

HAMLET:  Ich hatte nie Zweifel, Herr Bomm.

BOMM:  ...unsterblich, quasi.- Komm, laß uns in den Garten gehen und reden über die Unsterblichkeit. Das heißt: 
I c h  will darüber reden und brauche einen, der mir zuhört.

Beide ab. Senta-Rosie kommt mit Mama zurück.

SENTA zu Mama: Sind Sie mit allem versorgt? Aber sicher sind Sie mit allem bestens versorgt. Herr Bomm wünscht, daß ich Sie etwas unterhalte. Ich werde Ihnen... etwas vorlesen. Als ob's ein Märchen wär: "Die platte Habgier war die treibende Seele der Zivilisation von ihrem ersten Tag bis heute, Reichtum und abermals Reichtum und zum drittenmal Reichtum, Reichtum nicht der Gesellschaft, sondern dieses einzelnen lumpigen Individuums, ihr einzig entscheidendes Ziel... Da die Grundlage der Zivilisation die Ausbeutung einer Klasse durch eine andere Klasse ist, so bewegt sich ihre ganze Entwicklung in einem fortdauernden Widerspruch. Jeder Fortschritt der Produktion ist gleichzeitig ein Rückschritt in der Lage der unterdrückten Klasse, d.h. der großen Mehrzahl. Jede Wohltat für die einen ist notwendig ein Übel für die andern, jede neue Befreiung der einen Klasse eine neue Unterdrückung für eine andre Klasse.

...Das soll aber nicht sein. Was für die herrschende Klasse gut ist, soll gut sein für die ganze Gesellschaft, mit der die herrschende Klasse sich identifiziert. Je weiter also die Zivilisation fortschreitet, je mehr ist sie genötigt, die von ihr mit Notwendigkeit geschaffenen Übelstände mit dem Mantel der Liebe zu bedecken, sie zu beschönigen oder wegzuleugnen, kurz eine konventionelle Heuchelei einzuführen, die weder früheren Gesellschaftsformen noch selbst den ersten Stufen der Zivilisation bekannt war und die zuletzt in der Behauptung gipfelt: Die Ausbeutung der unterdrückten Klasse werde betrieben von der ausbeutenden Klasse einzig und allein im Interesse der ausgebeuteten Klasse selbst; und wenn diese das nicht einsehe, sondern sogar rebellisch werde, so sei das der schnödeste Undank gegen die Wohltäter, die Ausbeuter." Verzeihung, aber ich sollte Sie etwas unterhalten. Und Herr Bomm wünscht, daß die Lektion gelernt wird. Auf jeden Fall. Für alle Fälle.

Senta fährt Mama nach rechts hinaus. Von draußen kommt Hamlet mit einem Tennisschläger in der Hand. Hamlet scheint jemanden zu suchen. Er öffnet die Tür links, dann rechts. Von links tritt Senta auf- als Senta.

HAMLET:  S i e  suche ich! Haben Sie Lust zu einem kleinen Match? Die Sonne steht noch nicht ganz hoch, die Hitze läßt sich noch ertragen.

SENTA:  Ich würd' es gerne tun, doch ich muß achtgeben auf mein Handgelenk. Aufschlag und Rückhand belasten zu sehr die Sehnen. Und wie Sie wissen, brauch ich die Hand noch. Oder können Sie sich eine einhändige Pianistin vorstellen? Ich muß ein Opfer bringen für die Kunst.

HAMLET:  Ich hörte Sie erst spielen und denke, Sie haben große Fortschritte gemacht. Auch wenn ich von Musik nicht viel verstehe...

SENTA:  Die physikalische Tatsache der klingenden Musik bedarf in hohem Maße der schöpferischen, seelischen Mitarbeit des Hörers.

HAMLET:  ...aber ich bewundre, Senta, wenn Sie am Flügel sitzen, die graziöse Arbeit ihrer Arme, ihrer Hände.

SENTA:  Ganz lose muß der Oberarm herabhängen vom Schultergelenk, und unbeteiligt, nur kaum merklich nach vorne geschoben, keinesfalls aber seitlich abgehoben. Immer fast waagerecht sollte der Unterarm liegen, weder nach unten noch nach oben darf das Handgelenk durchgedrückt werden, sondern muß die Linie vom Arm über den Handrücken nach dem Knöchel des dritten Fingers geradeaus weiterlaufen lassen. Ist das Handgelenk zu tief gestellt, so hängt sich die Hand an die spielenden Finger und belastet sie. Ist es nach oben durchgedrückt, so stemmt sich die ganze Hand auf die Finger: In beiden Fällen wird also die Geläufigkeit behindert. Das Handgelenk soll nicht gestrammt werden, denn die Steifung, die so entsteht, erstreckt sich auf die Muskulatur der Hand. Doch soll das Handgelenk schlaff auch nicht sein, weil sonst das Tragen der Hand den Fingern aufgebürdet wird. Also muß das Handgelenk ganz leicht elastisch, ja, elastisch, fest gestellt werden, um so die Hand zu tragen.

HAMLET:  Senta, ich liebe Sie.

SENTA:  Küssen Sie mir die Schuhe! Hamlet küßt ihr die Schuhe. Ausgezeichnet, Schauspieler. Draußen fallen drei, vier Schüsse. Was war das? Was hat das zu bedeuten? Warum ist es denn plötzlich so still?

Von draußen kommt Bomm mit einem Gewehr. Er zieht im Rollstuhl Mama hinter sich her.

BOMM:  So. Das Raubtier ist erledigt. Ich habe deine Katze, Senta, abgeknallt. Losgerissen von der Kette, lauerte das Biest mir heimlich auf. Hier, an der Hand, bin ich verletzt. Dann setzte deine Katze zum Sprung an, auf Mama. Da hab ich abgedrückt. Ein   M e n s c h e n l e b e n  galt es zu retten. 

SENTA:  Nur um mich zu quälen...

Sie geht  w i e  i n  T r a n c e  nach draußen.

BOMM:  Senta, bleib hier. Senta. Senta!

Gerda, inzwischen im Morgenmantel, tritt auf.

GERDA:  Ich habe alles beobachtet. Friedrich, du warst großartig! Wie du reagiert hast, blitzschnell! Gar nicht auszudenken, was passieren hätte können! Friedrich, du bist ein Held!

BOMM: Ein Mann beweist sich durch die Tat.- Mama! Gerda wendet sich demonstrativ Hamlet zu. Das müssen schreckliche Sekunden für dich gewesen sein, Mama. Du siehst auch sehr mitgenommen aus. Ich versteh das, aber jetzt ist die Gefahr glücklich überstanden. Freu dich mit uns, Mama. Freust du dich nicht? Aber sicher, du freust dich auch.

GERDA zu Hamlet: Ich glaube, eines Tages werde ich noch wahnsinnig... Sie plaudern wirklich charmant...

HAMLET:  ...und dann sagte er: "Menschen, denen das Merkwürdige merkwürdig erscheint, sind nicht merkwürdig. Nur Menschen, denen das Merkwürdige natürlich erscheint, sind merkwürdige Menschen."

GERDA:  Er muß sehr geistreich gewesen sein. Ich liebe geistreiche Männer.

HAMLET:  Aber sein Witz war manchmal geradezu  ä t z e n d. Wie Salzsäure.

GERDA:  Heutzutage gibt es kaum noch geistreiche Männer.

HAMLET:  Er ist Jude gewesen.

GERDA:   Wie geschmacklos von Ihnen, mich mit jüdischen Aphorismen zu belästigen.

HAMLET:  Entschuldigen Sie, bitte.

Über die Terrasse kommt Artur. Auf den Armen trägt er Senta, die anscheinend bewußtlos ist. Ihr Musselin-Kleid klebt völlig durchnäßt am Körper, ihre Haare sind seltsamerweise jedoch trocken. Artur genießt einen Augenblick die Stille, die sein Auftritt verursacht hat.

ARTUR:  Sie lebt.



 

 

ZWEITER AKT

Spätnachmittag.

Hamlet ist nackt; seine Kleidungsstücke liegen rings um ihn herum auf dem Boden; Bomm fotografiert Hamlet mit einer Polaroidkamera. Im Hintergrund ein zum Tee gedeckter Tisch.

BOMM: Du bist schön, Hamlet. Von oben bis unten. Alles an dir ist schön. Selbst dein Glied hat nicht die erwartete Häßlichkeit.

HAMLET: Danke, Herr Bomm.

BOMM:  Es beunruhigt mich, daß ein Körper so makellos sein kann. Keine Falten. Und kein einziges Gramm Fett.

HAMLET:  Ich gebe mir Mühe...

BOMM:  Natur ist im Grunde niemals makellos. Bestimmt hast du auch einen Makel. Zeig deine Zähne, ich will dem Gaul ins Maul schauen. Hamlet zeigt seine Zähne. Prachtvolles Gebiß. Nicht eine einzige Lücke, keine Plomben. – Doch, doch, im Grunde ist Natur häßlich. Ausnahmen sind der Scherz, den sie sich leistet, um ihre allgemeine Häßlichkeit noch krasser ins Licht zu rücken. Aber du bist jung, das entschuldigt viel.

HAMLET:  Nicht ewig, Herr Bomm.

BOMM:  Aber die Erinnerung! Davon läßt sich zehren, die nächsten 50 Jahre.

HAMLET:  Wie Sie meinen, Herr Bomm.

BOMM:  Aber jedes Mal, wenn ich auf den Auslöser drücke, töte ich dich, oder zumindest ein Stück von dir, von deiner Schönheit. – Ich war niemals schön. Ich habe viel versäumt. Wenn man schön ist, schnipst man mit dem Finger und kriegt, was man will. Der Tauschwert der Schönheit hat astronomische Ausmaße. Ich habe immer in einer anderen Währung bezahlt. – Einmal wollte ich einem Schulkameraden die Hose herunterziehen, weil er sehr schön war, und Schönheit kann man vollkommen nur nackt konstatieren. Er hat sich gewehrt und geschrien wie am Spieß. Ich hab ihm Geld gegeben, damit er keinen Skandal machte. Von dem Geld hat er sich Rollschuhe gekauft, er wurde irgendwann Weltmeister im Rollschuhlaufen. – Später dann hab ich Gerda geheiratet, und wenn ich sie heute im Unterrock nur schon  s e h e, steckt mir der Ekel im Hals.

HAMLET:  Das Gedicht, Herr Bomm?

BOMM:  Ja, das Gedicht.

HAMLET:  "Auf den Knopf einer Hose" oder das andere?

BOMM:  Heute keine Pornographie, heute  K u n s t.

HAMLET: "Auf der Straße

Sein anmutiges Gesicht ein bißchen blaß,

Seine Kastanienaugen wie gemeißelt,

Fünfundzwanzig Jahr alt, doch eher aussehend wie zwanzig,

Mit etwas Künstlerischem in seiner Kleidung,

Irgendwie in Farbe der Krawatte, Form des Kragens,

Schlendert er ziellos mitten auf der Straße,

Noch wie in Bann geschlagen von der gesetzlosen Lust,

Der sehr gesetzlosen Lust, die er erlebt hat."

BOMM:  Ja, das ist es. Hopp! Hamlet zieht seine Socken an. Bomm fotografiert ihn. Nacktheit ist niemals lächerlich, aber so siehst du aus wie eine Witzfigur. Hopp! Hamlet zieht Hosen und Schuhe an. Bomm fotografiert ihn. Ja, besser. Den Pullover noch, damit man dein Herz nicht so laut schlagen hört. Hopp! Hamlet zieht den Sommerpullover an. Bomm fotografiert ihn. ...Hältst du mich jetzt für einen Lüstling, Hamlet?

HAMLET:  Nein, Herr Bomm. Sie sind ein Mensch aus Fleisch und Blut.

BOMM:  Aufgefallen bist du mir, zum ersten Mal, als ich die neuesten Umsatzzahlen sah von meinen Produkten, die du im Fernsehen den Leuten aufschwätzt. Waschpulver, Corn-flakes, Automobile, Zahnpasta, Plastikwäsche, und so weiter, und so weiter. Der Absatz steigt. Das muß an deiner Schönheit liegen. Mich freut, daß sie auf diese Weise nützlich wird. Eine Uhr schlägt zierlich fünfmal. Sonst wär sie sinnlos. Beeile dich, sie umzumünzen in Bargeld. Der Lauf der Welt ist unaufhaltsam. Gerda tritt auf. Sie trägt ein erstaunlich elegantes Kleid.

GERDA:  Friedrich, komm, der Tee wird kalt. Hamlet, es gibt Tee! Sie setzen sich an den Teetisch. Gerda gießt allen Tee ein. Mit geschlossenen Augen unterscheide ich indischen Tee von ceylonesischem. Russischen halte ich für minderwertig, und am liebsten ist mir chinesischer. Auf alles könnte ich verzichten, nur nicht nachmittags auf meine Tasse Tee. Pünktlich um fünf. Seitdem du das Fotografieren entdeckt hast, Friedrich, kommen wir nie mehr zu einem pünktlichen Tee. Aber ich sehe ja ein: Ein Mann braucht seine Hobbies... Probiert diese köstlichen Kokosmakronen. Ich habe sie selbst gebacken. Sind sie nicht köstlich? Das Wort allein zergeht einem ja schon auf der Zunge: Ko-kos-ma-kro-nen.

HAMLET:  Hervorragend.

GERDA:  Friedrich, warum sagst  d u  denn gar nichts?

BOMM:  Ich denke nach über die Nützlichkeit der Palme, und die ist schon erstaunlich: Die Milch der Nüsse läßt pur sich trinken oder destillieren zu Alkohol. Produktion von Fetten aus dem Fleisch.

GERDA:  Friedrich, vergiß nicht, Kokosmakronen auch.

BOMM:  Das Holz des Stammes ist auch verwertbar, und die Zweige benutzen die Einheimischen als Brennmaterial oder zum Dachdecken ihrer Hütten. Das nenn ich optimale Betriebswirtschaft. Als ob es die Natur abgeguckt hätte der Industrie.

GERDA:  Ich habe immer nur Angst, unter den Palmen spazierenzugehen. Wenn so eine Kokosnuß herunterfällt, kann sie einem glatt den Schädel zerschmettern. Was meinen Sie, Hamlet, wie viele Menschen in den Tropen getötet werden, pro Jahr, durch unvermutet herabfallende Kokosnüsse?

HAMLET:  Die Statistik ist mir unbekannt. Aber ich vermute, es werden mehr Menschen getötet, indem sie auf Palmen hinaufklettern und selbst herunterfallen.

GERDA:  Charmant. Trotzdem, Friedrich, besteh ich darauf, daß wir, zumindest auf unserem Grund und Boden, bald anfangen zu roden.

Artur und Senta treten auf, Hand in Hand.

ARTUR:  Wir haben uns verspätet. Entschuldigung. Aber Senta...

GERDA: Wie geht es dir, mein Schatz?

SENTA:  Gut. Es ist schon alles in Ordnung.

Sie setzen sich zu den anderen.

HAMLET:  Sie müssen uns berichten, wie das passieren konnte.

GERDA:  Nehmt erst Tee. Probiert die Kekse. Ich hab sie selbst gebacken.

SENTA:  Ein lächerlicher Unfall. Ich wollte mich etwas erfrischen. Die Füße kühlen. Und den schmerz, Jagos wegen. Und wagte mich zu weit hinaus. Die Brandung war sehr stark. Ein Strudel riß mich mit. Ich rief um Hilfe, und Artur war zur Stelle.

HAMLET:  Zum Glück.

SENTA:  Ich kämpfte selbst. Erfolglos.

BOMM:  Man darf im Kampf nie die Moral verlieren. – Wall Street, Schwarzer Donnerstag. Da begann es zu krachen im Gebälk des stolzen Gebäudes  W e l t w i r t s c h a f t. Kettenreaktion von Unternehmenszusammenbrüchen, internationale Geldmarktkatastrophe. Meine Bergwerks AG, Eckpfeiler des Konzerns, größter Aktivposten, im Sog der roten Zahlen, Umsatzrückgang, keine Dividende und die Kurse im Keller: 25% des Nennwerts. Machte bei 40% des Kapitals mit Nennwert 100 Millionen gerade lumpige 25. Und meine dringendsten Schulden betrugen 60. Millionen, versteht sich. Die Hausbanken längst in den Strudel gerissen, zahlungsunfähig, die Schalter geschlossen. Schulden haben mir nie eine Sekunde von meinem Schlaf geraubt, Schulden sind lebensnotwendig, Schulden sind Herz und Motor für die Dimensionen, in denen ich denke. Aber plötzlich sah ich den Abgrund vor mir, in den der ganze Konzern zu stürzen drohte. Da gab es nur eine Lösung: abstoßen, die Bergwerks AG, mit einem Gewinn, der alles sanieren würde, und dann: neue Eckpfeiler bauen. Das Kunststück meines Lebens gelang mit einem Trick: Verbreiten ließ ich das Gerücht, ausländische Erbfeinde seien zum Kauf entschlossen, Angebot 100 Millionen. Und prompt stand auf der Matte unsere Regierung, die mangels Masse Renten und Beamtenlöhne kürzen mußte, die 5 Millionen Arbeitslose am Hals hatte- und kaufte. Für 100 Millionen. Paketaufschlag, sozusagen 300%. Gerettet. Durch Narren. Durch Hampelmänner. Die Transaktion machte Skandal. Ich liebe Geräuschlosigkeit bei Geschäften und hasse den Skandal, doch manchmal ist er unumgänglich. Paketaufschlag 300%. Ist das nicht ein Geschäft?

GERDA:  Friedrich, du bist der Größte. – Hamlet, warum sind Sie so stumm? Sagen Sie doch was!

HAMLET:  Großartig, Herr Bomm.

BOMM:  Und meine Kinder schweigen! Warum kriegt ihr das Maul nicht auf?

ARTUR:  Die Spiele, diese alten Spiele...

SENTA:  ...mit den vielen Spinnweben, die stark wie Gitter sind...

ARTUR:  ...ermüden so sehr. Ich war... innerlich... eingeschlafen...

SENTA:  Wir haben die Kunst gelernt... heimlich... mit offenen Augen... schlafen zu können...

ARTUR:  ...zum Handwerk des Lebens gehört... mit offenen Augen... schlafen zu können...

GERDA:  Friedrich, ich glaube, unsere Kinder... hassen uns...

BOMM:  Gerda, Hamlet, ein Spaziergang kann nicht schaden.

GERDA:  Ich glaube, eines Tages werde ich noch wahnsinnig.

Alle drei ab.

ARTUR:  Senta, laß mich allein. Ich will einen Augenblick allein sein.

SENTA:  Ja, Lieber. Sie will ihn küssen.

ARTUR:  Nicht jetzt! Du sollst gehen! Senta ab. Artur zieht ein Buch aus der Tasche und liest: "Mein Leben gähnt mich an wie ein großer weißer Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben heraus. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke, die letzten Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit todmüden Augen einander an. Ich stülpe mich jeden Tag vierundzwanzigmal herum wie einen Handschuh. Oh, ich kenne mich, ich weiß, was ich in einer Viertelstunde, was ich in acht Tagen, was ich in einem Jahr denken und träumen werde. Gott, was habe ich denn verbrochen, daß du mich wie einen Schulbuben meine Lektion so oft hersagen läßt?" Artur geht zu einem Spiegel und betrachtet sich lange. Er zertrümmert mit dem Buch den Spiegel. Verdammte Literatur! Rotz von Hungerleidern! Artur rennt hinaus. Gerda tritt auf, nach einer Weile auch Rosie-Senta.

GERDA:  Liebes Kind, kommen Sie näher. Wollen Sie sich nicht setzen? Setzen Sie sich doch. – Sie machen Ihre Sache gut. Sogar sehr gut, wie mir scheint. Für so eine Arbeit wird man wohl geboren, oder nicht?

SENTA:  Ich hatte eine gute Ausbildung.

GERDA:  Alles nur Ausbildung? Und kein Mitleid? Ich kann es nicht glauben. Kunstgriffe, sicherlich, kann man lernen, aber nicht Mitleid. Und Sie  h a b e n  Mitleid! Hatten Sie eine schwere Jugend? Nehmen Sie eine Praline. Ich bitte Sie herzlich: Greifen Sie zu!

SENTA:  Ich mag nicht, danke.

GERDA:  Sie mögen keine Pralinen? Und ich habe gedacht, Sie hätten eine schwere Jugend hinter sich. Sind Sie nicht in einer Wohnküche aufgewachsen, wie man sie heute manchmal noch im Theater sieht, wo den Leuten im Parkett dann immer das Wasser in den Augen steht?

SENTA:  Nein.

GERDA:  Hatten Sie wenigstens sieben Geschwister und nur zwei Betten zum Schlafen?

SENTA:  Nein.

GERDA:  Sie enttäuschen mich. Aber ich frage Sie, wie wird man ein hilfsbereiter Mensch, wenn man nicht in einer Wohnküche aufgewachsen ist und nicht sieben Geschwister und nur zwei Betten hatte? Verraten Sie mir das Geheimnis!

SENTA:  Vielleicht, um eine Schuld zu bezahlen.

GERDA:  Oh, ich möchte so hilfsbereit sein können wie Sie. – Und trotzdem diese Traurigkeit in Ihren Augen. Strahlen Sie doch, strahlen Sie! Aber wahrscheinlich gibt es auch in Ihrem Leben ein Defizit... ein Defizit an... na, sagen wir... Liebe. Wahrscheinlich kriegen Sie zu wenig Liebe mit und zerreißen sich darum selbst vor Liebe. Barmherzigkeit ist nichts anderes als Egoismus. Ersatzbefriedigung. Schwindel. Warum verteidigen Sie sich denn nicht? Verteidigen Sie sich doch!

SENTA:  Sie machen mich völlig hilflos.

GERDA:  Im Grunde ähneln wir uns beide sehr: Ich bin genauso hilflos wie Sie. Nur mit dem Unterschied, daß  i c h  meine Hilflosigkeit schon sehr lange kenne. Um genauer zu sein: seit meiner Hochzeit, seit 40 Jahren. Ich glaube, eines Tages werde ich noch wahnsinnig. Stellen Sie sich vor, Bomm hat mir überhaupt keinen Heiratsantrag gemacht, er hat mir einfach einen Ring an den Finger gesteckt. Bomm hat mich einfach genommen, und ich hab's mir gefallen lassen und hab mich nicht gewehrt. Aus Hilflosigkeit. Oder in der Hoffnung, daß dieses schreckliche  D e f i z i t  ausgeglichen würde. Aber Bomm war ein Versager. Eine Riesenpleite wurde das. Flüsternd Lassen Sie mich eine Intimität ausplaudern: In 40 Jahren haben wir nur zweimal zusammen geschlafen, Bomm und ich.

SENTA:  'Bilanzen waren für Bomm immer wichtiger...'

GERDA:  Bilanzen waren für Bomm immer wichtiger als ich. – Nun, er ist auch keineswegs sensationell im Bett. Eher schon eine Katastrophe. Wenn ich einen Mann brauchte, habe ich ihn mir gekauft. Auch eine Geste der Hilflosigkeit, der Verzweiflung. Gerda ist ins Stocken geraten.

SENTA:  'Kennen Sie die Männer auf Capri?'

GERDA:  Kennen Sie die Männer auf Capri? Nein, natürlich nicht, woher sollten Sie...

SENTA:  'Heute bin ich eine alte Frau.'

GERDA:  Heute bin ich eine alte Frau. Die Falten im Gesicht lassen sich ja noch retouchieren. Aber sehen Sie sich nur meinen Hals an und meine Hände. Ekelhaft, nicht? Damit muß ich leben. Etwas dick bin ich in letzter Zeit auch geworden. Das kommt davon, wenn man sich gehen läßt.

SENTA:  'Aber ich habe mächtige Verbündete...'

GERDA:  Aber ich habe mächtige Verbündete, die meine Jugend verteidigen: 123 Perücken... 947 Kleider... 83 Pelze... 1100 Paar Schuhe... und 160 Karat, insgesamt. Sagen Sie mir, Rosie, daß ich noch jung bin! Warum schweigen Sie? Ich hasse Sie, Rosie. Nein, ich liebe dich, Rosie. Gib mir von deiner Jugend ab, du bist doch gewohnt zu teilen. Laß mich dich umarmen, die Berührung mit dir hat Zauberkraft. Schönes Fleisch. Samthaut. Kirschenmund. Und keine Kuhfladenbrüste. Komm in der Nacht! Männer sind Dreck. Warum läufst du denn weg, Rosie? Lauf doch nicht weg!

Senta ab. Gerda wählt in der Musikbox "Wo meine Sonne scheint" von Caterina Valente. Nachdem die Hälfte des Schlagers gespielt ist, geht Gerda abrupt fort. Die Bühne bleibt eine lange Minute leer, für Caterina Valente. Dann treten Hamlet und die andere Senta auf. Hamlet ist gekleidet wie Artur und spielt dessen Attitüden.

SENTA:  Du warst so böse. Beim letzten Abschied. Ich hatte vor, in den nächsten vierundzwanzig Stun... zwölf Stunden kein Wort mit dir zu reden, Artur. Aber jetzt bin ich doch gekommen...

HAMLET:  Ich habe es erwartet.

SENTA:  Schimpf nicht wieder mit mir. Hörst du, du sollst nie wieder mit mir schimpfen. Hamlet küßt sie.

HAMLET:  Der Wunsch zu quälen, verzeih.

SENTA:  Die Welt quält uns genug...

HAMLET:  Und Bomm...

SENTA:  Die Geschichte, Artur, deine Geschichte...

HAMLET:  Die Geschichte meiner ersten Liebe. Punkt. So eine erste Liebe hat ja jeder. Daran kommt wohl keiner vorbei. Ich war sechs und gerade in die Schule gekommen. Auf dem Schulweg mußte ich jedesmal an einem Haus vorbei, wo am Fenster im ersten Stock immer ein Mädchen saß. Das Mädchen war blond, die Haare gingen bis auf die Schulter,  w u n d e r s c h ö n  nennt man das wohl, und das Mädchen saß jeden Tag da. Jeden Tag. Zuerst bin ich verschüchtert, nein,  g e b l e n d e t, vorbeigelaufen. Vielleicht hab ich mich manchmal umgedreht, aber sonst hatte ich keinen Kontakt. Eines Tages sagte das Mädchen, als ich vorbeiging: ja. Und ich sagte auch. Ja. Das ist wohl die komischste Art, wie man sich kennenlernen kann und, wie mir heute scheint, die schönste. Von nun an kam ich immer zu spät in die Schule, weil ich so lange auf der Straße stand und mit dem Mädchen im ersten Stock herumalberte... Bis eines Tages die Mutter mich zu einem Kakao ins Haus einlud. Und da sah ich plötzlich,  w a r u m  das Mädchen am Fenster saß. Die Beine waren verkrüppelt. Da ist der Knirps schreiend aus dem Haus gelaufen und hat von nun an immer einen Umweg gemacht, wenn er zur Schule ging. Ich schäme mich. Ich bin so schlecht!

SENTA:  Nein, du bist gut. Ich würde dich nicht lieben sonst.

HAMLET:  Aber Bomm, was hat er aus mir gemacht. Und aus dir.

SENTA:  Sprich seinen Namen nicht aus.

HAMLET: Ein Feiertag, wenn er verreckt.

SENTA:  Keine Mauern mehr und nicht mehr Angst. Und frei der Weg.

HAMLET:  Der Weg  i s t  f r e i. Hab keine Angst. Ich küsse dich... ich streichle dich... nur wir...

SENTA:  Du bist ganz wie ich... alles ist wie mit mir... du... ich... wir... Senta gibt Hamlet, der sehr leidenschaftlich geworden war, eine Ohrfeige. Fassen Sie mich nicht an! Ich habe Ihnen nicht die Erlaubnis gegeben, mich anzufassen. Das ist gegen die Abmachung. Sie Sittenstrolch. Sittlichkeitsverbrecher! Ich werde Sie hinauswerfen lassen. Ich werde alles meinem Vater erzählen. Sie läuft hinaus.

HAMLET:  Geldziege... Tittentante... Kuhtrampel... Rammelhexe... Luxusfotze... Pflaumendiva... Pißritze... Artur tritt auf.

ARTUR:  Studieren Sie eine neue Rolle?

HAMLET:  Nein, das Stück ist abgespielt.

ARTUR:  Gedächtnisübungen?

HAMLET:  Schon eher.

ARTUR: Flippern Sie mit?

HAMLET:  Ja, gern.

ARTUR:  Haben Sie ein Geldstück?

HAMLET:  Wozu?

ARTUR: Bomm verdient, wo er kann.

HAMLET:  Hier.

ARTUR:  Danke. Sie flippern. – Ich mag Sie nicht. 

HAMLET:  So.

ARTUR:  Wieso sagen Sie: so? Wieso nicht: warum?

HAMLET:  Ich kann's mir denken.

ARTUR:  So.

HAMLET:  Ja.

ARTUR:  Ich hasse das Theater. Nur Lügen und Betrug.

HAMLET:  Die Leute wollen nichts anderes.

ARTUR:  Weil sie krank sind.

HAMLET:  Die Leute bezahlen dafür.

ARTUR:  Weil sie dumm sind.

HAMLET:  Nicht dumm. Eher leichtgläubig.

ARTUR:  Dann eben leichtgläubig.

HAMLET:  Ja.

ARTUR:  Was ist der Unterschied?

HAMLET:  Fragen Sie mich nicht.

ARTUR:  Na also.

HAMLET:  Und trotzdem... bei Ihnen auch... im Hinterkopf... eine maßlose Liebe... zum Theater.

ARTUR:  Wo?

HAMLET:  Im  H i n t e r k o p f.

ARTUR:  Sie sind ein Arschloch. Bomm tritt auf.

BOMM:  Geh, Hamlet, laß mich allein mit Artur.

HAMLET:  Wie Sie wünschen, Herr Bomm.

ARTUR:  Hamlet, bleiben Sie.

HAMLET: Wie Sie wünschen, Artur.

BOMM zu Artur: Könntest du dich bequemen...

ARTUR der weiterflippert: Nein.

BOMM:  Also, gut. – Ich habe mit dir zu reden.

ARTUR:  Wenn es sein muß...

HAMLET marktschreierisch zum Publikum: Klassischer Vater-Sohn-Konflikt!

BOMM:  Das geht so nicht weiter. Ich duld das nicht. Komm zu dir! Große Aufgaben erwarten dich.

ARTUR:  Ich sah mal einen Film, wo einer morgens, als erstes nach dem Aufstehen, seine Schuhe putzte...

HAMLET:  'Um das Bruttosozialprodukt besser vermehren zu können...'

ARTUR:  Um das Bruttosozialprodukt besser vermehren zu können. Seitdem finde ich das nur noch lächerlich. Auch wenn ich meine Schuhe niemals selber putzen muß...

HAMLET:  'Du siehst vor dir einen Versager...'

ARTUR:  Du siehst vor dir einen Versager. Schau ihn dir genau an. Denk, du wärst im Zoo. Ganz seltenes Exemplar und ringsherum nur das Erfolgstier.

HAMLET:  'Fleißig...'

ARTUR:  Fleißig...

HAMLET:  '...ordentlich...'

ARTUR:  ...ordentlich...

HAMLET:  '...und arbeitsam.'

ARTUR:  ...und arbeitsam. Und sinnlos. Verschone mich mit Pflichten. Nein, keine Pflichten. Dein Beispiel reicht mir.

HAMLET:  'Enterbst du mich jetzt...?'

ARTUR:  Enterbst d u mich jetzt, Vater? Armut stelle ich mir sehr aufregend vor. Margarine auf dem Brot, nur ein Hemd und eine Hose, Löcher in den Schuhsohlen und eine Dachkammer, in die es regnet...

BOMM:  Du bist noch nicht erwachsen, Artur. Treib dich noch ein paar Jahre auf der Universität herum. Dann wirst du dein Examen machen.  D u  a u c h. Um dir die Krise zu erleichtern, verdopple ich dir deinen Scheck.

ARTUR:  Du hast nichts begriffen, Vater. Du hast überhaupt nichts begriffen.

Artur und Hamlet umärmelt ab. Senta-Rosie tritt auf mit Mama im Rollstuhl.

BOMM der auf den Flipper starrt: Das Ding kommt mir aus dem Haus. – Mama! Zu Senta Wie geht es unserer Patientin?

SENTA:  Blutdruck und Puls wie immer. Kein Fieber.

BOMM:  Gut, Rosie, gut. Senta setzt sich und beginnt, in einem Buch zu lesen. Mama, du wirst eines Tages wieder gesund sein. Die Medizin macht große Fortschritte, von Tag zu Tag. Wir werden alle neuen Kapazitäten konsultieren. Du sollst gesund werden. Dann kannst du wieder Bridge spielen und Himbeereis essen. Aber ein bißchen mußt du dich auch ums Haus kümmern. Ich will Gerda nicht mehr sehen. Fortschicken werd' ich sie. Die Kinder auch. – Du liest viel, Rosie. Ich sehe dich immerzu lesen.

SENTA:  Ich vernachlässige nicht meine Pflicht.

BOMM:  "Was liest du, Rosie? Gib mir das Buch. Sie gibt es ihm. – "Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, das andere Mal, weil unsere Herren keine Furcht hatten. Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am 
T a g  i h r e r  B e e r d i g u n g."  Frühe Gesamtausgabe, in Saffian gebunden, aus unserer Bibliothek. Man liest sie noch, die Herren Marx und Engels? Nun, für die Allgemeinbildung kann's nicht schaden. Es freut mich, Rosie, daß du etwas tust für deine Allgemeinbildung. Oder suchst du Trost, bei den Klassikern? Aber, sagte ich:  T r o s t? Das Gegenteil: unermeßliches Potential an Verzweiflung. Paß auf, Rosie, sonst infizierst du dich.

SENTA:  Ist sie groß, die Ansteckungsgefahr?

BOMM:  Ja, Rosie, riesengroß. Von fern: "Albumblatt für Elise". Aus der Welt ist die Verzweiflung nicht wegzudenken. Oft frag ich mich, bin ich auch infiziert von ihr? Ich glaube, ja. Ich geb das unumwunden zu. Manchmal hat man so einen Augenblick der Wahrheit. Auch ich, ich auch. Aber selbst der Klassenfeind verdient Mitleid. Er am meisten. Weil er zu einer aussterbenden Gattung gehört. Jahrhunderte vergebens gejagt, rottet er sich selbst jetzt aus. In unseren Breitengraden kaum noch lebensfähig, flüchtet er sich in südliche Exile, wo das Klima selbstmörderisch ist. Fortgeschrittenstes Stadium der Degeneration. Ja, ja, im Fieber der Verzweiflung flieht man. Zum Beispiel in die Südsee. Exklusiv ist die, und nur wenige können sie sich leisten. Der Rest flieht billiger. Weil Wirklichkeit nicht zu ertragen ist, selbst nicht für Elefanten.

SENTA:  Bei Fieber gibt's noch andere Mittel.

BOMM:  Du Krankenschwester! Freundliches Gesicht und ein warmer Händedruck.

SENTA:  So geht das Sterben leichter.

BOMM:  Ich lächle nicht dankbar zurück.  D e r  Trost ist mir zu billig. Ich bin immer noch unheilbar gesund. Verachtest du mich jetzt, weil du Friedrich den Großen eine Sekunde schwach gesehen hast? Das kommt nur selten vor.

SENTA:  Ich bin beruhigt, daß Sie nicht aus Stein sind.

BOMM:  Du bist zu zart für Revolutionen, Rosie. Stell dir das Blut vor in der Gosse, wie es versickert in den Gullies. Bestimmt würdest du ohnmächtig werden. Gib auf. Laß Rosie sterben. Hör mir zu: Rosie muß sterben!

SENTA:  Ja. – Rosie soll sterben.

 





DRITTER AKT

In der Nacht.

Für Hamlet einen Punktscheinwerfer. Die übrige Bühne ist dunkel und wird erst allmählich, ganz langsam, heller. Das tropische Ambiente –mit Sternenhimmel- ist unwirklich schön. Bomm und seine Familie, mit Ausnahme von Mama, haben gerade ihr Abendessen beendet.

HAMLET:  "Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage:

Ob's edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern

Des wütenden Geschicks erdulden, oder..."

Hamlet wird aus dem Dunkeln von Artur und Senta mit Tomaten, Eiern und anderen klebrigen Eßwaren beworfen.

ARTUR:  Provinztheater...Schmiere...

SENTA:  Bonn... Bielefeld... Name des Aufführungsortes...

HAMLET:  "Sich waffnend gegen eine See von Plagen,

Durch Widerstand sie enden. Sterben – schlafen –"...

ARTUR:  Sprücheklopfer...

SENTA:  Affenarsch...

HAMLET:  "Nichts weiter! – und zu wissen, daß ein Schlaf

Das Herzweh und die tausend Stöße endet,

Die unsers Fleisches Erbteil –"...

ARTUR:  Drecksau...

HAMLET:  " 's ist ein Ziel

Aufs innigste zu wünschen. Sterben – schlafen – "...

SENTA:  Bettnässer...

HAMLET:  "Schlafen! Vielleicht auch träumen! – Ja, da liegt's:

Was in dem Schlaf für Träume kommen mögen,

Wenn wir den Zwang des Ird'schen abgeschüttelt,

Das zwingt uns stillzusehn. Das ist die Rücksicht,

Die Elend läßt zu hohen Jahren kommen."...

ARTUR:  Anpasser...

SENTA:  Schleimer...

ARTUR:  Kriecher...

HAMLET:  "Denn er ertrüg' der Zeiten Spott und Geißel,

Des Mächt'gen Druck, des Stolzen Mißhandlungen,

Verschmähter Liebe Pein, des Rechtes Aufschub,

Den Übermut der Ämter und die Schmach,

Die Unwert schweigenden Verdienst erweist,

Wenn er sich selbst in Ruhstand setzen könnte

Mit einer Nadel bloß? Wer trüge Lasten

Und stöhnt' und schwitzte unter Lebensmüh'?"...

ARTUR:  Scheißkerl... Scheißkunst...

SENTA:  Todesstrafe...

HAMLET:  "Nur daß die Furcht vor etwas nach dem Tod -

Das unentdeckte Land, von des Bezirk

Kein Wandrer wiederkehrt – den Willen irrt,

Daß wir die Übel, die wir haben, lieber

Ertragen, als zu unbekannten fliehn."...

SENTA:  Lügensau...

ARTUR:  Alle Bücher verbrennen...

HAMLET:  "So macht Bewußtsein Feige aus uns allen;

Der angebornen Farbe der Entschließung

Wird des Bewußtseins Blässe angekränkelt.

Und Unternehmungen voll Mark und Nachdruck,

Durch diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt,

Verlieren so der Handlung Namen."...

Bomm und Gerda applaudieren. Artur und Senta sind etwas erschöpft.

BOMM:  Höchster poetischer Reiz für  m i c h: die Sprache der Wirtschaft.

GERDA:  Trotzdem, er ist schon seine Gage wert.

HAMLET:  Kann ich mich jetzt umziehen?

BOMM:  Ja, geh. Geh, geh. Hamlet ab.

ARTUR:  Er ist unbegabt. Schrecklich unbegabt.

SENTA:  Schmeiß ihn raus, Vater.

GERDA:  Ich möchte, daß er bleibt. Inzwischen hab ich mich gewöhnt an ihn. Und er ist brauchbarer als alle anderen, immerhin.

ARTUR:  Unser 46. Hamlet ist sehr gut gewesen. Er konnte seinen Monolog stehend auf den Händen.

GERDA:  Aber er lispelte und hatte Mundgeruch. Ich frage mich: Lispelte er, weil er Mundgeruch hatte, oder hatte er Mundgeruch, weil er lispelte?

ARTUR zu Bomm: Miete uns ein Ballett. Mit Streichorchester. Das ist bestimmt noch lustiger.

GERDA:  So viele fremde Menschen!

SENTA:  Er ist mir an die Wäsche gegangen, Vater.

BOMM:  Lüge, Senta, Lüge.

ARTUR:  Er ist wirklich unterdurchschnittlich begabt. Nicht einmal fürs Stadttheater reicht sein Talent.

BOMM:  Es gibt nichts Schlimmeres, als kein Genie zu sein. Das ist bekannt. Und ebendrum. Mein letztes Wort. Er bleibt. Und damit basta.-

GERDA:  Die arme Rosie! Hätte sie sich doch wenigstens erst   n a c h  dem Essen ungebracht. Der Hummer war so köstlich. Friedrich, ein schöner Fang.

SENTA:  Sich aufzuknöpfen in aller Öffentlichkeit. Nicht irgendwo, versteckt in einer Kammer. Wie schamlos.

ARTUR:  Der Plebs kennt keine Rücksicht.

SENTA:  Verdorben ist der ganze Abend.

GERDA:  Keiner will mehr dienen. Und die Arbeit mit Mama, die haben  w i r  jetzt. Ich glaube, eines Tages werde ich noch wahnsinnig.

SENTA:  Als sie da hing, mit herausgestreckter Zunge, der Schrei blieb mir im Halse stecken.

GERDA:  Ich wäre auf der Stelle ohnmächtig geworden.

SENTA:  Geschmackloser Domestikentod.

ARTUR:  Zum Glück hat Hamlet sie ja abgeschnitten. Ich hätt' es nicht gekonnt.

BOMM:  Es ist ein Übel, wenn man immer nur erlösen will, und gleich die ganze Menschheit. Rosie war von dieser Sorte eine. Jetzt ist sie selbst erlöst. Ist sie erlöst? Erlösung schafft nur Kampf, tagtäglich. Und dazu muß man höchst lebendig sein. – Überschrift:  D i e  S c h l a c h t  u m  d e n  A u t o k o n z e r n... Schon lange lag in meinem Blickwinkel die Fahrzeugbranche. Ich witterte außergewöhnliche Erträge, langfristig gesichertes Wachstum- die Vollmotorisierung: unaufhaltsam. Als das geeignete Objekt gefunden war, kaufte ich in aller Stille, über Strohmänner, um die Kurse nicht zu erschüttern, gute 25% des Kapitals auf, der Sprung über die Sperrminorität, der war geschafft. Schließlich, durch umsichtiges Taktieren, 40% vom Kapital in meiner Hand, endlich also Generalversammlungsmehrheit. Eingestiegen bin ich bei Kursen zu 100-200%, heute liegen sie weit über 1000. Ich konnte so billig kaufen, weil das Grundkapital lächerliche 70 Millionen nur betrug, 10 Millionen weniger als der Reingewinn pro Jahr, nach Abzug aller Steuern, bei einem Umsatz, der sich der 2 Milliarden-Grenze näherte. Der längst fälligen Kapitalerhöhung stimmte ich nach schwerem Ringen zu, denn nichts lag mir ferner, als dividendensüchtige Kleinaktionäre zu bereichern, was sich umgehen läßt mit Investieren und Abschreiben. Eine Hälfte der Kapitalerhöhung wurde finanziert aus den Reserven der Gesellschaft, die andere verkauft zum Nennwert. Es fängt an zu schneien. Meinem Kapitalanteil entsprechend, kassierte ich für 60 Millionen neue Aktien, zum halben Preis, versteht sich. Der Tageswert von dem Paket betrug, gemessen an dem Börsenkurs zu jener Zeit, 750 Millionen. Der Arbeiterpöbel schrie nach Beteiligung, nach Gratisaktien. Demonstrationen und Streik. Aber dann kuschte der Mob, weil seine Gewerkschaft sich wohl übernommen hatte. – 750 Millionen! Ist das nicht ein Geschäft? Ich trinke auf die freie Marktwirtschaft. 

SENTA:  Schnee.

ARTUR:  Der ganze Dreck wird zugedeckt.

BOMM:  Sonst fällt euch nichts ein? Sonst nichts?

GERDA:  Du bist großartig, Friedrich. Artur und Senta gehen auf die Terrasse.

BOMM:  Ich sehe nach Mama.

GERDA:  Ach ja, Mama.

BOMM:  Wird Hamlet sich um dich kümmern?

GERDA:  Wir sind verabredet für später.

BOMM:  Gut. Sehr gut.

Bomm ab. Gerda wählt in der Musikbox "Roter Mohn" von Rosita Serrano und hört sehr aufmerksam zu. Dann verläßt auch Gerda den Raum.

SENTA:  Du bist so traurig heute abend. Warum bist du so traurig?

ARTUR:  Ich denke nach.

SENTA:  Komm, laß uns einen Schneemann bauen!

ARTUR:  Man sollte sich umbringen.

SENTA:  Sprich es nicht aus.

ARTUR: Durchs Denken kommt alles Unglück in die Welt.

SENTA:  Unser letzter Abend.

ARTUR:  Ja, morgen müssen wir wieder abreisen.

SENTA:  In aller Herrgottsfrühe. Ich werde unausgeschlafen sein.

ARTUR:  Woanders ist das Leben nicht zu ertragen. Nur hier.

SENTA:  Und diese endlose Warterei im Flughafen... weil Bomm zu geizig ist für ein Privatflugzeug... zwischen den stinkenden, schlimmen Touristen...

ARTUR:  Das Leben lebt nur hier...

SENTA:  ...winzige Artgenossen...

ARTUR:  ...woanders ist es sinnlos.

SENTA:  ...ohne Träume von der Gegenwelt.

ARTUR:  Machst du Musik?

SENTA:  Ja, Artur. Sie wählt an der Musikbox das Todesduett aus Wagners "Tristan und Isolde".

ARTUR: Ja, man sollte sich umbringen.

SENTA:  Tabletten?

ARTUR:  Wenn nicht diese unerträglichen Magenkrämpfe wären...

SENTA:  Im Bad der Fön...

ARTUR:  Das Risiko einer Lähmung des halben Körpers...

SENTA:  Sich ertränken im Ozean...

ARTUR:  Nicht aufgedunsen-grün ins Grab...

SENTA:  Sich aufhängen!

ARTUR:  Domestikentod...

SENTA die sich an Rosie erinnert: Verzeih!

ARTUR:  Nein, es muß eleganter sein...

SENTA:  Wie, wie, wie?

ARTUR:  Den Kopf auf die Eisenbahnschiene legen und auf den Intercity warten...

SENTA:  Aber wenn's nur ein Güterzug ist...

ARTUR:  In gewittriger Mainacht vom Blitz getroffen werden...

SENTA:  Nein, in Schönheit sterben...

ARTUR:  Oder aus einem Wolkenkratzer springen, aus dem 43. Stock, in New York...

SENTA:  Man wird die Fenster nicht öffnen können…

ARTUR:  Oder sich erschießen im Petersdom, während der Papst die Messe liest...

SENTA:  Ich höre Engelchöre jauchzen...

ARTUR:  Oder nach einem einfachen Leben ein einfacher Tod, ganz einfach, sich die Pulsadern aufschneiden. Nicht quer, wie es alle diese Dummköpfe machen. Der Länge nach muß man sie aufschneiden. So... und so... Artur bearbeitet mit einem Messer seine Pulsadern. Viel Blut.

SENTA:  Du bist stark, Artur. Hilf mir. Ich habe keine Kraft. Artur ersticht Senta ausführlich. Ihr Chiffon-Kleid färbt sich melancholisch rot. Beide sinken sehr elegant zu Boden. Nach einer Weile treten Gerda und Hamlet auf.

GERDA in Kostüm und Maske der dreißiger Jahre:  Ich habe extra auf die Karten drucken lassen: Smoking  o d e r  Uniform. Und ich hatte erwartet und bin überaus glücklich, daß...

HAMLET in Offiziersuniform: Im Krieg zieht ein Soldat die Uniform nie aus, gnädige Frau.

GERDA:  Ach ja, es ist ja Krieg. Was macht euer Krieg?

HAMLET:  Vormarsch planmäßig. Bald stehen wir vor Moskau.

GERDA:  Kein nennenswerter Widerstand?

HAMLET:  Nein, und kaum Verluste. Der Untermensch ist feige. Kampfbereitschaft quasi null. Ungeziefer, das man mit dem Stiefelabsatz zermalmt.

GERDA:  Geben Sie Bericht von der Front!

HAMLET:  Die Vorsehung ist auf unserer Seite.

GERDA:  Das größte Fest, das je im Reiche stattfand, werde ich in unserem Hause geben nach dem Endsieg...

HAMLET:  Gnädige Frau, wir kennen unsere Pflicht.

GERDA:  ...ein Fest für hunderttausend Helden.

HAMLET:  Sie die Siegesgöttin!

GERDA:  Küssen Sie mich.

HAMLET:  Aber...

GERDA:  Wir sind allein... Hamlet küßt sie.

HAMLET:  Ein anderes Feld der Ehre.

GERDA:  Ich beobachte dich schon lange. Du wirst oft eingeladen, nicht wahr? Die Uniform macht dich so stattlich. Ich liebe Uniformen und was daruntersteckt.

HAMLET:  Haut wie Leder?

GERDA:  Ja.

HAMLET:  Muskeln wie Stahl?

GERDA:  Ja, ja.

HAMLET:  Die Kraft der ganzen Rasse?

GERDA:  Ja! Ich möchte deine Kriegsbraut sein, denn Bomm ist eine Niete.

HAMLET:  Geheime Kommandosache: Europa und der Stier.

GERDA: Wir werden Wege finden. Und für jedes absolute Glück ein Orden. Deine Brust ist viel zu kahl.

HAMLET:  Etwas Lametta wär nicht schlecht.

GERDA:  Das läßt sich machen. Heute abend ist  e r  Gast bei uns.

HAMLET:  E r  selbst?

GERDA:  Er selbst. Ein alter Freund von Bomm, Freund der Familie sozusagen. Ein schlichter, liebenswürdiger Mensch, für den vegetarisch gekocht werden muß, weil er ein Magenleiden hat. Aber ein glänzender Unterhalter! Wir sehn ihn gern in unserem Haus, und was immer auch geschieht, nie wird das sich ändern. Er mißgönnt uns nicht das Fleisch auf unsern Tellern und liebt die Kinder, als ob es seine eignen wären. Ein kultivierter Mann, voll Herzensgüte.

HAMLET:  Großer Tag! Nie stand ich  i h m  Auge in Auge gegenüber.

GERDA:  Wenn ich  i h n  darum bitte, befördert   e r  dich auf der Stelle. Deine Zukunft ist gesichert, General.

HAMLET:  Ich küsse dir die Hände.

GERDA:  Laß uns tanzen! Ich möchte so gern mit dir tanzen. Sie wählt an der Musikbox "Davon geht die Welt nicht unter" von Zarah Leander. Gerda und Hamlet tanzen.

HAMLET:  Du tanzt wie eine...

GERDA:  Feder?

HAMLET:  Ja. Wie eine Feder.

GERDA:  Starke Arme. Geborgenheit. Sicherheit. Ewigkeit. Näher... näher... ich will deinen Körper spüren... ja, ja... du tanzt wie ein Gott... tanz schneller... schneller... schneller... dieses Karussell im Kopf... hoppe, hoppe, Reiter... Sie bricht zusammen.

HAMLET:   Was ist denn, Gerda? Fühlst du dich nicht wohl? Er bringt sie zu einem Sofa.

GERDA:  ...und wenn du wieder an die Front gehst, Siegfried, in die Kälte, Siegfried, werde ich dir Socken stricken und Pulswärmer. Und deine Kriegsbraut wird dein Foto küssen und an dich denken Tag und Nacht. Sieg Heil!

Hamlet zieht seine Jacke aus und legt sie über Gerdas Kopf. – Bomm fährt Mama im Rollstuhl herein.

BOMM:  Hat dir die frische Luft gutgetan, Mama? Sicher hat sie dir gutgetan. Nach einem solchen Tag. Das Klima in den Tropen ist ziemlich mörderisch, ich weiß. Ich hätte es dir nicht zumuten sollen. Aber du allein zu Hause, übers Wochenende, von uns verlassen, das würd' ich niemals dulden. Und du solltest sehen, wie schön wir es hier haben. Es ist doch schön, oder nicht? Ist es nicht das reinste Paradies? Es ist das Paradies. Er hat den Rollstuhl weit nach vorne gefahren; man sieht Mama im Halbprofil. – Bomm bemerkt Hamlet. Du schläfst noch nicht, Hamlet?

HAMLET:  Nein, Herr Bomm.

BOMM:  Die anderen, glaube ich, die schlafen schon. Wartest du auf deinen Auftritt im letzten Akt, Hamlet?

HAMLET:  Ich gehe nach Hause, Herr Bomm. Ich lasse die Vorstellung platzen.

BOMM:  Kein Verantwortungsbewußtsein? Kein Mitleid mit den Kollegen? Kein Selbsterhaltungstrieb?

HAMLET:  Ich kündige. Fristlos.

BOMM:  Die Kündigung nehme ich nicht an. Vertrag ist Vertrag. Die Spielzeit hat gerade erst begonnen. Bühnenschiedsgericht. Konventionalstrafe.

HAMLET:  Sie können bei mir pfänden.

BOMM:  Womit bist du denn zu beeindrucken? Sag es mir im Vertrauen, Hamlet.

HAMLET:  Sie beeindrucken mich überhaupt nicht mehr, Herr Bomm.

BOMM:  So?

HAMLET:  Sie ekeln mich an, Herr Bomm.

BOMM:  Ich verdopple deine Gage, ja?

HAMLET:  Nein.

BOMM: Das Zehnfache.

HAMLET:  Nein.

BOMM:  Das Hundertfache.

HAMLET: Das Hundertfache?

BOMM:  Nur das Gedicht... dann kannst du gehen. Keine weiteren Verpflichtungen. Aber die hundertfache Gage. Rechne: die Gage jetzt... hundertmal... Hamlet beginnt mit Bomms Lieblingsgedicht. Bomm zieht aus der Jackentasche eine Pistole und erschießt Hamlet mit ausgestrecktem Arm. Die hundertfache Gage! Einfach zum Lachen. Unmoralischer Paketaufschlag. – Es gibt nur Sklaven auf der Welt. Ich ekle mich vor ihnen, aber ohne sie kommt man nicht aus. – Los, steh auf, Hamlet! Das Spiel ist aus. Lauter Das Spiel ist aus! Haltet euch an das Stichwort, verdammt nochmal. Schluß mit dem Theater. Schluß... Schluß... abräumen!

Hamlet rührt sich nicht. Das Südsee-Ambiente verschwindet, auf der Hinterbühne wird eine trostlose, graudreckige Industrielandschaft sichtbar. Bomm hat Hamlet vergessen.

Mein Lebenswerk, Mama, sieh, unvergänglich, ewig. Einzige schöne Welt, und sie gehört mir: 350 Unternehmen, Jahresumsatz 2o Milliarden, 300 Tausend Köpfe und 600 Tausend Hände, die für mich arbeiten. Mit den Familien zusammen macht das eine Million Leibeigene. Jeden Tag verdiene ich 1,5 Millionen. Das ist ein Stundenlohn, normaler Zehnstundentag vorausgesetzt, Sonn- und Feiertage mitgerechnet, von 150 Tausend. Im Jahr sind das 550 Millionen, rund, ich will nicht kleinlich sein. Dafür müssen von dem Pack 30 Tausend arbeiten ein ganzes Jahr lang, der Multiplikator meines Wertes ist 30 Tausend. Und 600 Tausend, wenn es um das gesamte Vermögen geht. Falls die Statistik stimmt, daß der Durchschnittsmensch Habseligkeiten besitzt für 10 Tausend, übrigens totes Kapital, das keine Zinsen trägt. Die Liste der reichsten Männer dieser Welt nennt mich erst an fünfter Stelle. Das ist beschämend. Ich werde mich anstrengen, Mama. Artur, Senta und Gerda beginnen, nacheinander und sehr langsam, wieder zum Leben zu erwachen. Die Säulen meines Reiches sind nicht auf Sand gebaut. Solide Fundamente: der Autokonzern, der Papierkonzern, der Kunststoff- und Sprengmittelkonzern, der Eisenverarbeitungskonzern, Stahlwerke natürlich auch, Kohle weniger, der lächerlichen Rendite wegen, und nur zum eigenen Bedarf. Luxus-Limousinen... Klobecken... Badewannen... Lokomotiven... Zement... Artillerieraketen... Panzer... alles Produkte von 
m i r.

Dabei hat alles ganz bescheiden angefangen. Nichts ist mir in die Wiege gelegt worden. Ich habe alles erreicht aus eigener Kraft, mit Fleiß und Wissen. Geboren wurde ich auf einem Bauernhof. Als Bürolehrling hab ich angefangen, ich habe alles von der Pike auf gelernt, Mama, du bist mein Zeuge. Mit dreißig hatte ich den ersten Dienstwagen samt Chauffeur. Gut, Papa hat mir etwas unter die Arme gegriffen, damit ich die Mehrheit bei der ersten Hütte erwerben konnte, und die Heirat mit Gerda verschaffte mir natürlich auch etwas Ellbogenfreiheit. Der Rest war fast nur noch ein Kinderspiel.

Von frühester Kindheit an war ich ein Bastler. Beim Basteln muß man erkennen, welche Teile zusammengehören. Ich habe mit großer Leidenschaft gebastelt. Gebastelt, immer nur gebastelt. Die Erkenntnis später war nicht schwer, daß zu Stahlhütten Grubenwerke gehören, für die Verarbeitung des Rohstoffs. Hat man hochwertiges Material erst einmal hergestellt, muß man sich weiter darum kümmern, was aus diesem Material dann wird. Also schafft man sich Betriebe an, die das Material verarbeiten. Kinderlogik, oder nicht? Man muß nur einen Blick dafür haben, was ein Werk wert ist und welche Ergänzung es für ein anderes bietet. Ich bilde mir ein, ich habe diesen Blick.

GERDA:  Großartig, Friedrich. Artur und Senta applaudieren.

BOMM:  Zu expandieren war ganz einfach, weil das Geld von Tag zu Tag weniger wert wurde: Inflation. Ich lieh mir von den Banken Geld und kaufte eine Firma, die mir noch fehlte. Dann brauchte ich nur zu warten, bis die Entwertung des Geldes den Punkt erreichte, wo ich mit einem Wochengewinn der gekauften Firma leicht den Kredit zurückbezahlen konnte. Gleichwohl gehörte Unternehmermut dazu. Meine Devise ist immer gewesen:  M i t  e i n e m  M i n i m u m  a n  K a p i t a l e i n s a t z  -    e i n   M a x i m u m   a n   M a c h t b e r e i c h.  Ja, das war für mich immer der entscheidende Beweggrund: Macht, Macht, Macht. Mehr als dreimal essen am Tage kann ich auch nicht.

Dann kam das neue Reich. Ich hatte die Entwicklung schon lange vorher eingeplant. Spenden an die Partei. Als die Entjudung angeordnet wurde, hab ich vielen Betrieben aus der Klemme geholfen, sie gehören heute mir. Ich war sehr gut befreundet mit den neuen Herren, auch wenn ich ihre Ideale nie bejahte. Nie! Der Krieg bescherte meinem Konzern einen außergewöhnlichen Boom. Der Unternehmer war Herr im eigenen Hause, weder Betriebsrat noch Gewerkschaft pöbelten, die Löhne wurden grundsätzlich stabil gehalten. Weitsichtig hatte ich schon früh mich umgestellt auf Rüstungsindustrie. Zu einem Zeitpunkt, als die im Wehrmachtsministerium davon noch träumten. Und die Gewinne überstiegen jede Erwartung.

GERDA:  Großartig, Friedrich. Artur und Senta applaudieren.

BOMM:  Aber das Ende war bitter. Der Feind siegte. Ich wurde verhaftet, als angeblicher Kriegsverbrecher, und mußte im Gefängnis den Schneider und den Schuster spielen. Meinen Konzern wollten die Sieger entflechten, wie das damals hieß. Noch im Gefängnis bin ich ihnen zuvorgekommen: Überschreibungen auf entfernte Verwandte, Gesellschaften mit neuen Namen, Verwirrungen. Als ich begnadigt wurde, hatte ich immer noch ein Vermögen von 300 Millionen. Und die Durchschnittsmasse hat bei der Reform der Währung ein Trinkgeld gekriegt, sie lernt es nie. Mir gelang der Wiederaufbau glänzend.

GERDA:  Großartig, Friedrich. Artur und Senta applaudieren.

BOMM: Dazu kann ich nur sagen: "Eiserner Fleiß, geschäftliche Begabung, wirtschaftlicher Instinkt für Kombinationen und die auf diesem Gebiete mir eigene Erfindergabe, gute Zusammenarbeit mit meinen Mitarbeitern und ähnliche Faktoren sind hinzugekommen. Zu diesen Voraussetzungen kam ein ausschlaggebender Punkt hinzu, nämlich die Tatsache, daß ich mein ganzes Leben in härtester Arbeit lediglich meinem Beruf gewidmet und mich von allen anderen Dingen... ferngehalten habe. Mein Leben war im allgemeinen meiner Berufsarbeit gewidmet." Eine Happy-end-Filmmusik.

Trotz meiner Erfolge bin ich bescheiden geblieben. Ich trage meine Anzüge mindestens zehn Jahre lang. In der Eisenbahn fahre ich 2. Klasse. Die Anschaffung von einem firmeneigenen Flugzeug würde ich für glatte Geldverschwendung halten. Ins Büro nehme ich einen Henkelmann mit, in dem Eintopf ist. Ganz köstlich! Einmal saß ich auf einer Parkbank und wickelte aus einem,  m e i n e m  Pergamentpapier ein Butterbrot aus, der Chauffeur wartete hundert Meter weiter. Da setzte sich ein Gärtnereiarbeiter zu mir, und jedes seiner Worte war Klassenkampf. Natürlich gab ich ihm recht, und trinken durfte ich aus seiner Bierflasche. Er wunderte sich sehr, als mein Chauffeur die Wagentür mir aufriß. Diese Szene hab ich sehr genossen. Übrigens: mein größtes Hobby ist Holzhacken. Ende der Filmmusik. – Bist du jetzt stolz auf deinen Sohn, Mama? Sei stolz. Du kannst stolz sein.

MAMA:  Du Vieh. Vieh.

Bomm beginnt zu lachen, auch Artur, Senta und Gerda fangen an zu lachen, vielleicht lacht sogar Mama.

 

Fußnote

 

© und Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag/ Frankfurt am Main

Germany



 

 

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