Niels
Höpfner
SÜDSEE
Groteske
PERSONEN:
FRIEDRICH BOMM,
Großindustrieller ARTUR,
sein Sohn SENTA,
seine Tochter GERDA,
seine Frau MAMA,
seine Mutter HAMLET, sein Schauspieler
An
den Seitenwänden hängen sich zwei Spielautomaten gegenüber, auch ein
Flipperapparat und eine Musikbox müssen vorhanden sein. Auf einer Staffelei
trocknet ein im Stil des Malers Paul Matthias Padua gefertigtes Ölbild von
Friedrich Bomm. Wichtig ist noch zu wissen, daß feudale Häuser in südlichen
Breitengraden fast ausschließlich Steinfußböden haben. Die Halle ist nach
hinten offen, ihre Decke wird durch zwei oder drei Säulen gestützt, also keine
Glaswand wie in englischen, skandinavischen oder russischen (Theater-)Landhäusern.
An die Halle schließt sich eine überdachte Terrasse an, die bespielbar sein muß,
also nicht in zu großem Rampenabstand liegen darf. Die
Terrasse ist umgeben von einem Garten mit tropischer Fauna und Flora. Dieses
Ambiente muß sehr sorgfältig und liebevoll gestaltet werden, da es äußerst
realistisch wirken soll und nicht wie ein Bild von Henri Rousseau. Notwendig
sind lebende Tiere (Papageien, Kolibris, Affen, Schlangen, auch ein Pfau und
eine Riesenschildkröte sollten nicht fehlen), Ziersträucher und Palmen, die
nicht aussehen wie in einem Schaufenster von Woolworth. Der
Garten läßt Durchblick aufs Meer. Der Himmel sollte nicht statisch blau sein;
wenn möglich, ziehen Wolken vorbei. Das tropische Environment muß beschneit
werden können. Von größter Wichtigkeit sind auch die Geräusche: Die Südsee
hat einen ganz spezifischen Sound.- Die gesamte Landschaft muß in
Sekundenschnelle abgeräumt werden können. Übrigens:
Das Stück spielt n i c h t
in der Südsee. ERSTER
AKT Am
Morgen. SENTA
die einen Ozelot streichelt: Schlingpflanzen. Nichts als Schlingpflanzen.
Ein Dschungel von Schlingpflanzen in meinem Kopf. Es ist gräßlich. Wenn einem
so die Gedanken geknebelt sind. ARTUR:
Gedanken? Ach ja, Gedanken. SENTA:
Hast du wieder deinen garstigen Tag? Du hast wieder deinen garstigen Tag.
Spürst du denn nicht, wie ich ARTUR:
Nimm eine Tablette. SENTA:
Als ob man mit einer Tablette das Leiden auslöschen könnte. Man kann es
betäuben, ja, aber nicht auslöschen. ARTUR:
Nimm 20. Oder 50. Damit kannst du's auslöschen. Damit kannst du einen
Weg in den Dschungel hauen. Für Sekunden die Klarheit der Gedanken.
Sternenklar. Mondklar. Sonnenklar. Und nicht mehr zurück, nie mehr zurück,
weil hinter dir der Dschungel zugewachsen ist. SENTA:
Ich habe das Gefühl, mein Kopf zerspringt im nächsten Augenblick. Diese
Wärme ist ekelhaft. ARTUR:
Eine neue Bosheit von Bomm, daß er sich weigert, die Klima-Anlage reparieren zu
lassen. SENTA:
Diese Klebrigkeit am ganzen Körper. Eine zweite widerliche Haut. ARTUR:
Erhöhter Blutdruck. Angst! SENTA:
Letzte Nacht, unterm Moskitonetz: allein. Und an den Wänden fressen
kleine Tierchen noch kleinere... ARTUR:
Das Gesetz des Urwalds... SENTA:
...was, dachte ich, wenn sie jetzt über dich herfallen? Durch ein zufälliges
Loch. Und keine Kraft mehr, um nach Hilfe zu schreien. Und wer hätte mich auch
hören sollen? Erhöhte Schweißabsonderung. Dann die Erlösung durch Schlaf. Für
Minuten. Erlösung? Wir in den Bergen, du und ich. Jungfräulicher Schnee. Da,
plötzlich, gibt der Boden unter mir nach, und ich falle und falle, aber lande
ganz sanft. Schmerzlos. Und über mir, weit oben, Himmel, hell und freundlich.
Und da dein Gesicht. Stecknadelkopfgroßer Kummer. Und du gibst mir deine Hand,
dein Arm wird lang, unendlich lang, und hat Kraft und reißt mich heraus aus dem
sonst ewigen Gefängnis. Ich werde wach und denke, mit Schrecken, daran, faß
ich jetzt die Vorhänge öffnen muß und daß mich eine gelbgrüne Sonne
tyrannisieren wird... ARTUR:
...eine Eiterbeule... SENTA:
...in die man hineinstechen muß, damit die Pest herausfließt... ARTUR:
...Ja, Senta, damit die Pest herausfließen kann... SENTA:
Leg deine Hände an meine Schläfen. Ja, deine Hände bringen Kühlung.
Deine kühlen Hände. Nordpolhände. Gerda
tritt auf. Sie trägt einen lachsfarbenen, mit schwarzer Spitze besetzten
Unterrock. GERDA:
Was für ein schöner Tag. Lauter. Was für ein schöner Tag! Seid
ihr taub? Ich sagte: Was für ein schöner Tag! – Wenn ihr schon kein
G u t e n M o r g e n herauskriegt
kriegt, könnt ihr dann nicht irgend etwas grunzen, das wenigstens so ähnlich
klingt? Nein? Wieder einmal bockig und störrisch?
W o m i t h a b e i c h s o
l c h e SENTA:
Das werdet ihr nicht tun. GERDA:
So. Wir werden das nicht tun? SENTA:
Nein. Weil wir siamesische Vierlinge sind. Fünflinge. Sechslinge. GERDA:
Und dein Bruder, was meint der dazu? SENTA:
Stör ihn nicht. Artur denkt nach. ARTUR:
Birkenkäfer... Borkenkäfer... sagt man B i rkenkäfer oder B o
rkenkäfer? GERDA:
Birkenkäfer... Borkenkäfer... ich glaube, eines Tages werde ich noch
wahnsinnig. SENTA:
Mach uns diese Freude, Mutter. ARTUR:
Ich ertrage keine Frauen, die, am späten Morgen, wie Küchenschlampen
herumlaufen... und überhaupt... GERDA
sehr pathetisch: Als ich heute aufwachte... mein erster Gedanke...
i h r … ich konnte es nicht erwarten... euch zu sehen... Sie bricht
in Tränen aus, beruhigt sich wieder und geht zur Musikbox.
ARTUR:
Bitte, verschon uns mit deinem Dienstmädchengeschmack. Marika Rökk
singt "Eine Insel, aus Träumen geboren". Artur und Senta leiden
still. GERDA:
Was für ein schöner Tag! Von
der Terrasse her tritt Friedrich Bomm auf. Er ist mit Hawaii-Hemd und heller
Hose gekleidet. In einer Hand trägt er einen sehr großen, lebenden Hummer. BOMM:
Seht euch das an! Wohl ein Prachtexemplar, nicht wahr? Hat einer von euch
jemals ein solches Prachtexemplar gesehen? Kaum, nehme ich an. Bin mit Hamlet
zum Korallenriff geschippert. Wir tauchten. Das Biest hockte da, in kaum fünf
Meter Tiefe. Kühner Zugriff, schon saß das Vieh im Kescher. Hamlet tritt
auf, in Badehose, mit einem Außenbordmotor auf der Schulter. Für Friedrich
Bomm sind nur die größten Fische gut genug, und was da sonst so kreucht und
fleucht. Petri Heil... Petri Dank. HAMLET:
Ich hab das Ding abmontiert. Die Nigger klauen, was nicht niet- und
nagelfest ist. BOMM:
Hamlet, dein Verhältnis zu Eigentum ist sehr gesund. Auch wenn's dir
nicht selbst gehört. So sollten alle denken. – Nimm das Vieh mit in die Küche.
Da kann es schmoren, bis es im Kochtopf hingerichtet wird. HAMLET:
Gern, Herr Bomm. Hamlet ab. BOMM:
Um sechs schon war ich auf den Beinen. Und bin sicher, ihr strapaziertet
die Matratzen noch. Kleiner Strandlauf, fünf Kilometer. Erschwerte Bedingungen,
wenn man mit den Füßen einsackt in den Sand. Dann Gymnastik, 25 Liegestütze
und ein Dutzend Kniebeugen, das gibt Kraft in Arm und Bein, und am Bauch setzt
man kein Fett an. Zum Schluß, als lockernde Erfrischung, 3000 Meter schwimmen,
nicht aufs offene Meer hinaus, immer hübsch parallel zur Küste, wegen
eventueller Wadenkrämpfe und der Haie wegen. Wimmeln soll's von Haien hier, und
der Hai will nicht vom Hai gefressen werden. Das Ganze: Übungen zur
Unsterblichkeit. Fit bleiben ist alles. Nur nicht morsch werden. Das Schlimmste
wäre, morsch zu werden. Hilflos. Unbrauchbar. Morsch zu werden... wie ihr. Ich
habe gute Laune. Die Grundstimmung an der Aktienbörse war freundlich auch am
Freitag. Standardwerte schlossen gut behauptet. Chemieaktien konnten sich
verbessern. Stahlaktien blieben im Vergleich zum Vortag ziemlich unverändert.
Elektrowerte heraufgesetzt. Die Tendenz ist steigend, insgesamt. – Artur,
deine Apathie wird furchtbarer von Tag zu Tag. Der Grad deiner Verrottung ist
unermeßlich. Nicht einmal Autos fährst du mehr kaputt. Der letzte Bentley
wurde vor einem halben Jahr verschrottet, und an die blauen Lamborghinis kann
ich mich schon gar nicht mehr erinnern. Bist du krank, Artur? ARTUR:
Ich fühle mich wohl, daß ich aus meiner Haut platzen könnte. BOMM:
Hast du deine Lektion gelernt, Artur? Definiere:
K o n z e r n. Du kannst es nicht, weil du völlig unfähig bist. Ich
wiederhole das Wort: u n f ä h i g. "K o n z e r n: Vereinigung mehrerer rechtlich selbständiger
Unternehmen unter einheitlicher Leitung zu wirtschaftlichen Zwecken in
gegenseitigem Beherrschungs- und Abhängigkeitsverhältnis. Horizontale Konzerne
bestehen aus Unternehmen des gleichen Wirtschaftszweiges, vertikale Konzerne aus
Unternehmen verschiedener Produktionsstufen, z.B. Bergwerke, Eisenhütten,
Maschinenbau." Oft steht an der Spitze des Konzerns eine
D a c h g e s e l l s c h a f t. Was
ist eine
D a c h g e s e l l s c h a f t, Artur? ARTUR:
"Eine Dachgesellschaft ist ein Unternehmen (meistens eine AG oder
GmbH), das der Zusammenfassung der Kapitalinteressen an Erwerbsunternehmungen
mit dem Ziele dauernder Beherrschung und Kontrolle der Beteiligungen
dient." BOMM: Bravo,
Artur, bravo! Nun erläuter den Begriff
S c h a c h t e l p r i v i l e g! – Warum schweigst du?
Kannst du's nicht? Ich wußte, du kannst es nicht. Schreib es dir hinter die
Ohren, ein für alle Mal. Wie eine lächerliche Litanei: "Das
S c h a c h t e l p r i v i l e g ist
eine Steuervergünstigung für
Schachtelgesellschaften, d.h. für Kapitalgesellschaften, deren Beteiligung an
einer anderen Kapitalgesellschaft mindestens 25% beträgt. Gemäß § 9 Körperschaftsteuergesetz
blieben bis zum 31.12.1954 die auf die Beteiligung entfallenden Gewinnanteile für
die Berechnung der Körperschaftsteuer bei der Muttergesellschaft außer Ansatz
und waren nicht der Steuer unterworfen, während die Tochtergesellschaft auf den
an die Muttergesellschaft abzuführenden Gewinnanteil nicht den ermäßigten Körperschaftsteuersatz
der Dividendenausschüttungen, sondern den vollen Körperschaftsteuersatz zu
entrichten hatte. Durch Körperschaftsteuergesetz 1955 dahin geändert, daß die
Tochtergesellschaft auch den der Muttergesellschaft zufließenden Gewinnanteil
nur mehr zum ermäßigten Satz von 30% zu versteuern braucht. Dagegen hat die
Muttergesellschaft auf die empfangene Dividende eine Nachsteuer von 15% zu
entrichten (Körperschaftsteuergesetz 1955 §§ 9 und 19, Abs.4), falls nicht §
9, Abs.3, Satz 2 Körperschaftsteuergesetz Platz greift; durch Steuer-Änderungsgesetz
vom 18.7.1958 ist die besondere Körperschaftsteuer auf 36% festgesetzt, für
die im § 19, Abs. 2 bezeichneten Kapitalgesellschaften auf 12,5%..."
Artur, du lernst deine Lektion nie. Wozu studierst du eigentlich? Wenn du
studierst... GERDA:
Enterb ihn nicht schon wieder, Friedrich. BOMM:
Und du, Senta, was treibst du? Außer, deine Katze zu streicheln, übrigens:
Katzen mag ich nicht, und deine Tränendrüsen zu trainieren... SENTA:
Ich sitze am Klavier und übe. BOMM:
Das versteh ich nicht. Klavierspielen, nichts ist leichter auf der Welt.
Was hat man anderes zu zun, als im richtigen Augenblick die richtigen Tasten mit
der richtigen Kraft anzuschlagen? SENTA:
Das Mechanische ist nicht so wichtig. Du vergißt, Vater, den Dienst am
Ideal. Ausbilden muß sich die schöpferische Seele zu Harmonie, Fülle,
Vollendung: Welt der Ewigkeit. BOMM:
Ewigkeit... du bist nicht ewig jung. Heirate, damit Geld zu Geld kommt.
Den Konzertsaal unserer Stadt hab ich nur deinetwegen finanziert. Du sollst ihn
eröffnen! Ich weiß zwar, daß die meisten Kritiker bestechlich sind, aber wie
teuer wird es, wenn ich auch noch das ganze Publikum kaufen muß? Ach, ihr seid
Faulpelze, völlig aus der Art geschlagen, Schmarotzer, Parasiten... Gesindel.
Mein Fleisch und Blut. Welche Blamage. – Alles, was ihr habt, habt ihr von
mir. Alles, was ihr seid, seid ihr durch mich. SENTA:
Verzeih, Vater. ARTUR:
Verzeih, Vater. BOMM:
Ich verzeihe nicht. Ich bestrafe oder belohne. ARTUR:
Ich kann's nicht mehr ertragen. Laß uns gehen, Senta. SENTA:
Ja, laß uns gegen. Zu ihrem Ozelot. Komm, Jago. Artur, Senta und Jago
ab. BOMM:
D e i n e Kinder, Gerda. Und
ich muß sie erziehen. Du hockst da und rührst dich nicht. GERDA:
Ich habe Postkarten zu schreiben an unsere Freunde in der Heimat, damit
die Sehnsucht nach der Ferne auch sie ergreift. BOMM:
Verdammte Südsee... GERDA:
...und doch immer wieder... BOMM:
Ja. Immer wieder. Immer wieder. GERDA:
Trotzdem, ich besteh darauf, es ist das Pa-ra-dies. Göttliche Insel. Ich
glaube, eines Tages werde ich noch wahnsinnig. Senta,
angezogen als Krankenschwester ROSIE, kommt mit MAMA im Rollstuhl. Mama ist
mindestens 100 Jahre alt. Sie ist anscheinend völlig gelähmt. BOMM:
Mama! Zu Senta-Rosie Wie
geht es unserer Patientin? SENTA:
Blutdruck und Puls wie immer. Kein Fieber. Eine ruhige Nacht. Heute
morgen vier Stunden am Tropf, der künstlichen Ernährung wegen. BOMM:
Sag mir, R o s i e, gibt es keine Infusionen mit Himbeereisgeschmack? SENTA:
Nein, Herr Bomm. BOMM:
Mama hat nämlich immer Himbeereis so gern gegessen. Zu ihren Lebzeiten. Am
liebsten p f u n d w e i s e
Himbeereis. Mama, ich verspreche dir, eines Tages sollst du wieder
Himbeereis essen können. Die Medizin macht große Fortschritte, von Tag zu Tag.
Wir werden alle neuen Kapazitäten konsultieren. Und plötzlich wirst du wieder
gesund sein. Wie früher. Irgendwo im Haus übt jemand, vermutlich Sentas
Alter ego, auf dem Klavier Beethovens vergilbtes "Albumblatt für Elise".
Wie früher! Erinnerst du dich, wie wir beide bei einem Ausflug ein Ruderboot
geliehen hatten und mitten auf dem See umkippten, weil ich Unfug machte? Ich war
damals so klein, daß ich noch nicht schwimmen konnte. Du packtest mich beim
Schlawittchen und brachtest mich sicher an Land. Und dann die ersten langen
Hosen. Ein Matrosenanzug, wie zum Hohn. Ich glaub, ich bin nicht einmal hundert
Schritte gegangen, da fiel ich hin und riß in den Stoff einen Winkel, an beiden
Knien. Der schöne neue Matrosenanzug! Zur Strafe wurden daraus dann kurze
Hosen, und ich mußte sie tragen, bis ich sechzehn war. Senta betrachtet
Bomms Porträt. Und als ich noch ganz klein war, hast du mir viele Bauklötze
geschenkt, zum Geburtstag oder zu Weihnachten. Bunte Bauklötze aus Holz. Es hat
für mich nichts Schöneres gegeben als diese Bauklötze. Was konnte man aus
ihnen alles zaubern: Eisenbahnen...Häuser...Autos...Schiffe...die ganze Welt...
das Universum... Gefällt dir das Bild, Rosie? SENTA:
Es ist Ihnen sehr ähnlich, Herr Bomm. BOMM:
Von einem anerkannten Künstler. Gemessen am Honorar, jedenfalls. Ich
habe zehn Stunden Modell gesessen, einen ganzen, verlorenen Arbeitstag. Als ich
das fertige Bild sah, war ich ziemlich enttäuscht, um nicht zu sagen, verärgert.
Sieh dir nur meine Hände an! Ich sagte zum Maler: 'Die sehen ja aus wie
Krallen.' Der gab das auch zu, ohne Verlegenheit, und machte eine sehr witzige
Bemerkung: 'Wenn S i e
etwas in die Hand nehmen, Herr Bomm, geben Sie das vielleicht wieder
her?' Ist das nicht witzig? Ich konnte mir ein Schmunzeln nicht verkneifen: Früher,
an der Börse, hatte ich nämlich einen Spitznamen, und an den erinnerte ich
mich, in diesem Augenblick. An der Börse hieß ich immer nur:
D e r G e i e r. Und nur aus
Neid und Haß nannten die Gnomen mich so. Die Ungerechtigkeit der Welt ist
unerträglich. Unerträglicher auf dieser Welt ist nur noch der widerliche
Aasgestank. Man muß das Aas vertilgen, um sich die Pest vom Leib zu halten.
Seuchenbekämpfung im Dienst der Volksgesundheit. – Rosie, fahr Mama nach draußen.
Mama, genieße den herrlichen Anblick dieser Landschaft! Er dreht den
Rollstuhl herum, so daß man Mama von hinten sieht. Ist sie nicht...
kolossal? Ja, sie ist kolossal. Senta mit Mama ab. GERDA:
Deine Mutter. Immer nur deine Mutter. Das grenzt an Fetischismus. Einen
Krüppel ein halbes Leben so mit sich herumzuschleppen. Mama hier, Mama da. Vor
dreißig Jahren lag sie im Bett starr, eines Morgens, niemand weiß, wie es
geschah. Und du verweigerst ihr seit dreißig Jahren den Gnadentod. Hätschelst
und päppelst sie, gibst Unsummen von Geld für Ärzte aus, und, mittlerweile,
gehört sie zu unserem Gepäck. BOMM:
Gerda, du bist grausam. M e i n e
M u t t e r... und
wer bist du? GERDA:
Deine Frau! BOMM:
So. M e i n e
Frau, also. Er geht an den linken Groschenautomaten und spielt.
– Und was geschah in Tanger? GERDA:
Du meinst den Kellner mit dem roten Halstuch, ja? BOMM:
Ja. Gerda
geht an den anderen Groschenautomaten und spielt. GERDA:
Ich knöpfte ihm die Hose auf. Im Fahrstuhl. BOMM:
Im Personalaufzug! GERDA:
Sein Samen verschmierte mir's Make-up, ehe wir im 12. Stockwerk waren.
Jugend. Er wurde richtig rot. Konnte sich nicht vorstellen, daß eine feine
Ziege wie ich auch Wünsche hat. BOMM:
Und in San Francisco? GERDA:
Ach ja, die Parkbank. Ich hab gedacht, da gäb's nur Schwule. Bis dann
der Neger kam. Du meinst den Neger, nicht? Er war so wunderbar. Wir trieben es, und
Leute mit Kinderwagen spazierten herum und schauten diskret vorbei. Sein Stempel
war schon phänomenal. BOMM:
Und im Flugzeug, nach Djakarta? GERDA:
Du meinst den Steward? Herrlich!
Ich täuschte eine Unpäßlichkeit vor, mitten in der Nacht, und er hat mich
wieder auf die Beine gebracht. Die anderen Passagiere schliefen. BOMM:
Und die Geschichte mit... Siegfried? GERDA:
Sprich nicht davon! I c h b e b e h e u t
e n o c h.
Das weißt
du. Schlappschwanz. Du bist ein Schlappschwanz. Verglichen mit Siegfried... und
all den andern... Bomms Automat spuckt viele Groschen aus. BOMM:
...und gewinne, trotzdem, immer wieder, und du verlierst. GERDA:
Ich glaube, eines Tages werde ich noch wahnsinnig. Gerda ab. Hamlet
tritt auf, in Tenniskleidung. BOMM:
Bist du verheiratet, Hamlet? HAMLET:
Nein, Herr Bomm. BOMM:
Heirate nie. Das Element des Manns ist der Kampf, den braucht er auch im
Haus, doch Frauen sind Memmen. Entweder heulen sie oder legen sich auf den Rücken
und strecken alle Viere von sich, in der Erwartung, daß der Mann sich auf sie
wirft. Dann quietschen sie vor Glück wie... Meerschweinchen. Ich hab das nicht
durchschaut bei meiner Heirat, aber sie wurde auch mehr aus praktischen Erwägungen
vollzogen. HAMLET:
Ich verstehe, Herr Bomm. BOMM:
Gut, man braucht, was man braucht. Aber warum dieser Aufwand denn beim
Balzen Lächerliche Verrenkungen, die einem die Gier befiehlt. Als ob's nur ein
Objekt der Geilheit gäbe! Mehr als genug ist doch gesorgt für alle Schwänze
dieser Welt. Aber nein, da wird gekrochen vor einem Menschen, den man für
unersetzbar hält. Vielleicht verursacht Liebe solche Blindheit.
B e s t i m m t verursacht
Liebe sie. Und was ist das, L i e b
e ? Die klügste Definition, die ich jemals las, hieß: "Liebe ist
zielgehemmte Sexualität." Also etwas für arme Leute. Die keine Kraft
haben, sich durchzusetzen. Ich komme immer zum Ziel. Meine Natur ist stark... HAMLET:
Ich hatte nie Zweifel, Herr Bomm. BOMM:
...unsterblich, quasi.- Komm, laß uns in den Garten gehen und reden über
die Unsterblichkeit. Das heißt: Beide
ab. Senta-Rosie kommt mit Mama zurück. SENTA
zu Mama: Sind Sie mit allem versorgt? Aber sicher sind Sie mit allem bestens
versorgt. Herr Bomm wünscht, daß ich Sie etwas unterhalte. Ich werde Ihnen...
etwas vorlesen. Als ob's ein Märchen wär: "Die platte Habgier war
die treibende Seele der Zivilisation von ihrem ersten Tag bis heute, Reichtum
und abermals Reichtum und zum drittenmal Reichtum, Reichtum nicht der
Gesellschaft, sondern dieses einzelnen lumpigen Individuums, ihr einzig
entscheidendes Ziel... Da die Grundlage der Zivilisation die Ausbeutung einer
Klasse durch eine andere Klasse ist, so bewegt sich ihre ganze Entwicklung in
einem fortdauernden Widerspruch. Jeder Fortschritt der Produktion ist
gleichzeitig ein Rückschritt in der Lage der unterdrückten Klasse, d.h. der
großen Mehrzahl. Jede Wohltat für die einen ist notwendig ein Übel für die
andern, jede neue Befreiung der einen Klasse eine neue Unterdrückung für eine
andre Klasse. ...Das
soll aber nicht sein. Was für die herrschende Klasse gut ist, soll gut sein für
die ganze Gesellschaft, mit der die herrschende Klasse sich identifiziert. Je
weiter also die Zivilisation fortschreitet, je mehr ist sie genötigt, die von
ihr mit Notwendigkeit geschaffenen Übelstände mit dem Mantel der Liebe zu
bedecken, sie zu beschönigen oder wegzuleugnen, kurz eine konventionelle
Heuchelei einzuführen, die weder früheren Gesellschaftsformen noch selbst den
ersten Stufen der Zivilisation bekannt war und die zuletzt in der Behauptung
gipfelt: Die Ausbeutung der unterdrückten Klasse werde betrieben von der
ausbeutenden Klasse einzig und allein im Interesse der ausgebeuteten Klasse
selbst; und wenn diese das nicht einsehe, sondern sogar rebellisch werde, so sei
das der schnödeste Undank gegen die Wohltäter, die Ausbeuter."
Verzeihung, aber ich sollte Sie etwas unterhalten. Und Herr Bomm wünscht, daß
die Lektion gelernt wird. Auf jeden Fall. Für alle Fälle. Senta
fährt Mama nach rechts hinaus. Von draußen kommt Hamlet mit einem Tennisschläger
in der Hand. Hamlet scheint jemanden zu suchen. Er öffnet die Tür links, dann
rechts. Von links tritt Senta auf- als Senta. HAMLET:
S i e suche ich! Haben Sie
Lust zu einem kleinen Match? Die Sonne steht noch nicht ganz hoch, die Hitze läßt
sich noch ertragen. SENTA:
Ich würd' es gerne tun, doch ich muß achtgeben auf mein Handgelenk.
Aufschlag und Rückhand belasten zu sehr die Sehnen. Und wie Sie wissen, brauch
ich die Hand noch. Oder können Sie sich eine einhändige Pianistin vorstellen?
Ich muß ein Opfer bringen für die Kunst. HAMLET:
Ich hörte Sie erst spielen und denke, Sie haben große Fortschritte
gemacht. Auch wenn ich von Musik nicht viel verstehe... SENTA:
Die physikalische Tatsache der klingenden Musik bedarf in hohem Maße der
schöpferischen, seelischen Mitarbeit des Hörers. HAMLET:
...aber ich bewundre, Senta, wenn Sie am Flügel sitzen, die graziöse
Arbeit ihrer Arme, ihrer Hände. SENTA:
Ganz lose muß der Oberarm herabhängen vom Schultergelenk, und
unbeteiligt, nur kaum merklich nach vorne geschoben, keinesfalls aber seitlich
abgehoben. Immer fast waagerecht sollte der Unterarm liegen, weder nach unten
noch nach oben darf das Handgelenk durchgedrückt werden, sondern muß die Linie
vom Arm über den Handrücken nach dem Knöchel des dritten Fingers geradeaus
weiterlaufen lassen. Ist das Handgelenk zu tief gestellt, so hängt sich die
Hand an die spielenden Finger und belastet sie. Ist es nach oben durchgedrückt,
so stemmt sich die ganze Hand auf die Finger: In beiden Fällen wird also die
Geläufigkeit behindert. Das Handgelenk soll nicht gestrammt werden, denn die
Steifung, die so entsteht, erstreckt sich auf die Muskulatur der Hand. Doch soll
das Handgelenk schlaff auch nicht sein, weil sonst das Tragen der Hand den
Fingern aufgebürdet wird. Also muß das Handgelenk ganz leicht elastisch, ja,
elastisch, fest gestellt werden, um so die Hand zu tragen. HAMLET:
Senta, ich liebe Sie. SENTA:
Küssen Sie mir die Schuhe! Hamlet küßt ihr die Schuhe.
Ausgezeichnet, Schauspieler. Draußen fallen drei, vier Schüsse. Was war
das? Was hat das zu bedeuten? Warum ist es denn plötzlich so still? Von
draußen kommt Bomm mit einem Gewehr. Er zieht im Rollstuhl Mama hinter sich
her. BOMM:
So. Das Raubtier ist erledigt. Ich habe deine Katze, Senta, abgeknallt.
Losgerissen von der Kette, lauerte das Biest mir heimlich auf. Hier, an der
Hand, bin ich verletzt. Dann setzte deine Katze zum Sprung an, auf Mama. Da hab
ich abgedrückt. Ein M e n s c h e n l e b e n
galt es zu retten. SENTA:
Nur um mich zu quälen... Sie
geht w i e i n T r a n c e
nach draußen. BOMM:
Senta, bleib hier. Senta. Senta! Gerda,
inzwischen im Morgenmantel, tritt auf. GERDA:
Ich habe alles beobachtet. Friedrich, du warst großartig! Wie du
reagiert hast, blitzschnell! Gar nicht auszudenken, was passieren hätte können!
Friedrich, du bist ein Held! BOMM:
Ein Mann beweist sich durch die Tat.- Mama! Gerda wendet sich demonstrativ
Hamlet zu. Das müssen schreckliche Sekunden für dich gewesen sein, Mama.
Du siehst auch sehr mitgenommen aus. Ich versteh das, aber jetzt ist die Gefahr
glücklich überstanden. Freu dich mit uns, Mama. Freust du dich nicht? Aber
sicher, du freust dich auch. GERDA
zu Hamlet: Ich glaube, eines Tages werde ich noch wahnsinnig... Sie
plaudern wirklich charmant... HAMLET:
...und dann sagte er: "Menschen, denen das Merkwürdige merkwürdig
erscheint, sind nicht merkwürdig. Nur Menschen, denen das Merkwürdige natürlich
erscheint, sind merkwürdige Menschen." GERDA:
Er muß sehr geistreich gewesen sein. Ich liebe geistreiche Männer. HAMLET:
Aber sein Witz war manchmal geradezu
ä t z e n d. Wie Salzsäure. GERDA:
Heutzutage gibt es kaum noch geistreiche Männer. HAMLET:
Er ist Jude gewesen. GERDA:
Wie geschmacklos von Ihnen, mich mit jüdischen Aphorismen zu belästigen. HAMLET:
Entschuldigen Sie, bitte. Über
die Terrasse kommt Artur. Auf den Armen trägt er Senta, die anscheinend bewußtlos
ist. Ihr Musselin-Kleid klebt völlig durchnäßt am Körper, ihre Haare sind
seltsamerweise jedoch trocken. Artur genießt einen Augenblick die Stille, die
sein Auftritt verursacht hat. ARTUR:
Sie lebt. ZWEITER
AKT Spätnachmittag. Hamlet
ist nackt; seine Kleidungsstücke liegen rings um ihn herum auf dem Boden; Bomm
fotografiert Hamlet mit einer Polaroidkamera. Im Hintergrund ein zum Tee
gedeckter Tisch. BOMM:
Du bist schön, Hamlet. Von oben bis unten. Alles an dir ist schön. Selbst dein
Glied hat nicht die erwartete Häßlichkeit. HAMLET:
Danke, Herr Bomm. BOMM:
Es beunruhigt mich, daß ein Körper so makellos sein kann. Keine Falten.
Und kein einziges Gramm Fett. HAMLET:
Ich gebe mir Mühe... BOMM:
Natur ist im Grunde niemals makellos. Bestimmt hast du auch einen Makel.
Zeig deine Zähne, ich will dem Gaul ins Maul schauen. Hamlet zeigt seine Zähne.
Prachtvolles Gebiß. Nicht eine einzige Lücke, keine Plomben. – Doch, doch,
im Grunde ist Natur häßlich. Ausnahmen sind der Scherz, den sie sich leistet,
um ihre allgemeine Häßlichkeit noch krasser ins Licht zu rücken. Aber du bist
jung, das entschuldigt viel. HAMLET:
Nicht ewig, Herr Bomm. BOMM:
Aber die Erinnerung! Davon läßt sich zehren, die nächsten 50 Jahre. HAMLET:
Wie Sie meinen, Herr Bomm. BOMM:
Aber jedes Mal, wenn ich auf den Auslöser drücke, töte ich dich, oder
zumindest ein Stück von dir, von deiner Schönheit. – Ich war niemals schön.
Ich habe viel versäumt. Wenn man schön ist, schnipst man mit dem Finger und
kriegt, was man will. Der Tauschwert der Schönheit hat astronomische Ausmaße.
Ich habe immer in einer anderen Währung bezahlt. – Einmal wollte ich einem
Schulkameraden die Hose herunterziehen, weil er sehr schön war, und Schönheit
kann man vollkommen nur nackt konstatieren. Er hat sich gewehrt und geschrien
wie am Spieß. Ich hab ihm Geld gegeben, damit er keinen Skandal machte. Von dem
Geld hat er sich Rollschuhe gekauft, er wurde irgendwann Weltmeister im
Rollschuhlaufen. – Später dann hab ich Gerda geheiratet, und wenn ich sie
heute im Unterrock nur schon s e h
e, steckt mir der Ekel im Hals. HAMLET:
Das Gedicht, Herr Bomm? BOMM:
Ja, das Gedicht. HAMLET:
"Auf den Knopf einer Hose" oder das andere? BOMM:
Heute keine Pornographie, heute K
u n s t. HAMLET:
"Auf der Straße Sein
anmutiges Gesicht ein bißchen blaß, Seine
Kastanienaugen wie gemeißelt, Fünfundzwanzig
Jahr alt, doch eher aussehend wie zwanzig, Mit
etwas Künstlerischem in seiner Kleidung, Irgendwie
in Farbe der Krawatte, Form des Kragens, Schlendert
er ziellos mitten auf der Straße, Noch
wie in Bann geschlagen von der gesetzlosen Lust, Der
sehr gesetzlosen Lust, die er erlebt hat." BOMM:
Ja, das ist es. Hopp! Hamlet zieht seine Socken an. Bomm fotografiert
ihn. Nacktheit ist niemals lächerlich, aber so siehst du aus wie eine
Witzfigur. Hopp! Hamlet zieht Hosen und Schuhe an. Bomm fotografiert ihn. Ja,
besser. Den Pullover noch, damit man dein Herz nicht so laut schlagen hört.
Hopp! Hamlet zieht den Sommerpullover an. Bomm fotografiert ihn. ...Hältst
du mich jetzt für einen Lüstling, Hamlet? HAMLET:
Nein, Herr Bomm. Sie sind ein Mensch aus Fleisch und Blut. BOMM:
Aufgefallen bist du mir, zum ersten Mal, als ich die neuesten
Umsatzzahlen sah von meinen Produkten, die du im Fernsehen den Leuten aufschwätzt.
Waschpulver, Corn-flakes, Automobile, Zahnpasta, Plastikwäsche, und so weiter,
und so weiter. Der Absatz steigt. Das muß an deiner Schönheit liegen. Mich
freut, daß sie auf diese Weise nützlich wird. Eine Uhr schlägt zierlich fünfmal.
Sonst wär sie sinnlos. Beeile dich, sie umzumünzen in Bargeld. Der Lauf der
Welt ist unaufhaltsam. Gerda tritt auf. Sie trägt ein erstaunlich elegantes
Kleid. GERDA:
Friedrich, komm, der Tee wird kalt. Hamlet, es gibt Tee! Sie setzen
sich an den Teetisch. Gerda gießt allen Tee ein. Mit geschlossenen Augen
unterscheide ich indischen Tee von ceylonesischem. Russischen halte ich für
minderwertig, und am liebsten ist mir chinesischer. Auf alles könnte ich
verzichten, nur nicht nachmittags auf meine Tasse Tee. Pünktlich um fünf.
Seitdem du das Fotografieren entdeckt hast, Friedrich, kommen wir nie mehr zu
einem pünktlichen Tee. Aber ich sehe ja ein: Ein Mann braucht seine Hobbies...
Probiert diese köstlichen Kokosmakronen. Ich habe sie selbst gebacken. Sind sie
nicht köstlich? Das Wort allein zergeht einem ja schon auf der Zunge:
Ko-kos-ma-kro-nen. HAMLET:
Hervorragend. GERDA:
Friedrich, warum sagst d u
denn gar nichts? BOMM:
Ich denke nach über die Nützlichkeit der Palme, und die ist schon
erstaunlich: Die Milch der Nüsse läßt pur sich trinken oder destillieren zu
Alkohol. Produktion von Fetten aus dem Fleisch. GERDA:
Friedrich, vergiß nicht, Kokosmakronen auch. BOMM:
Das Holz des Stammes ist auch verwertbar, und die Zweige benutzen die
Einheimischen als Brennmaterial oder zum Dachdecken ihrer Hütten. Das nenn ich
optimale Betriebswirtschaft. Als ob es die Natur abgeguckt hätte der Industrie. GERDA:
Ich habe immer nur Angst, unter den Palmen spazierenzugehen. Wenn so eine
Kokosnuß herunterfällt, kann sie einem glatt den Schädel zerschmettern. Was
meinen Sie, Hamlet, wie viele Menschen in den Tropen getötet werden, pro Jahr,
durch unvermutet herabfallende Kokosnüsse? HAMLET:
Die Statistik ist mir unbekannt. Aber ich vermute, es werden mehr
Menschen getötet, indem sie auf Palmen hinaufklettern und selbst
herunterfallen. GERDA:
Charmant. Trotzdem, Friedrich, besteh ich darauf, daß wir, zumindest auf
unserem Grund und Boden, bald anfangen zu roden. Artur
und Senta treten auf, Hand in Hand. ARTUR:
Wir haben uns verspätet. Entschuldigung. Aber Senta... GERDA:
Wie geht es dir, mein Schatz? SENTA:
Gut. Es ist schon alles in Ordnung. Sie
setzen sich zu den anderen. HAMLET:
Sie müssen uns berichten, wie das passieren konnte. GERDA:
Nehmt erst Tee. Probiert die Kekse. Ich hab sie selbst gebacken. SENTA:
Ein lächerlicher Unfall. Ich wollte mich etwas erfrischen. Die Füße kühlen.
Und den schmerz, Jagos wegen. Und wagte mich zu weit hinaus. Die Brandung war
sehr stark. Ein Strudel riß mich mit. Ich rief um Hilfe, und Artur war zur
Stelle. HAMLET:
Zum Glück. SENTA:
Ich kämpfte selbst. Erfolglos. BOMM:
Man darf im Kampf nie die Moral verlieren. – Wall Street, Schwarzer
Donnerstag. Da begann es zu krachen im Gebälk des stolzen Gebäudes
W e l t w i r t s c h a f t. Kettenreaktion von
Unternehmenszusammenbrüchen, internationale Geldmarktkatastrophe. Meine
Bergwerks AG, Eckpfeiler des Konzerns, größter Aktivposten, im Sog der roten
Zahlen, Umsatzrückgang, keine Dividende und die Kurse im Keller: 25% des
Nennwerts. Machte bei 40% des Kapitals mit Nennwert 100 Millionen gerade lumpige
25. Und meine dringendsten Schulden betrugen 60. Millionen, versteht sich. Die
Hausbanken längst in den Strudel gerissen, zahlungsunfähig, die Schalter
geschlossen. Schulden haben mir nie eine Sekunde von meinem Schlaf geraubt,
Schulden sind lebensnotwendig, Schulden sind Herz und Motor für die
Dimensionen, in denen ich denke. Aber plötzlich sah ich den Abgrund vor mir, in
den der ganze Konzern zu stürzen drohte. Da gab es nur eine Lösung: abstoßen,
die Bergwerks AG, mit einem Gewinn, der alles sanieren würde, und dann: neue
Eckpfeiler bauen. Das Kunststück meines Lebens gelang mit einem Trick:
Verbreiten ließ ich das Gerücht, ausländische Erbfeinde seien zum Kauf
entschlossen, Angebot 100 Millionen. Und prompt stand auf der Matte unsere
Regierung, die mangels Masse Renten und Beamtenlöhne kürzen mußte, die 5
Millionen Arbeitslose am Hals hatte- und kaufte. Für 100 Millionen.
Paketaufschlag, sozusagen 300%. Gerettet. Durch Narren. Durch Hampelmänner. Die
Transaktion machte Skandal. Ich liebe Geräuschlosigkeit bei Geschäften und
hasse den Skandal, doch manchmal ist er unumgänglich. Paketaufschlag 300%. Ist
das nicht ein Geschäft? GERDA:
Friedrich, du bist der Größte. – Hamlet, warum sind Sie so stumm?
Sagen Sie doch was! HAMLET:
Großartig, Herr Bomm. BOMM:
Und meine Kinder schweigen! Warum kriegt ihr das Maul nicht auf? ARTUR:
Die Spiele, diese alten Spiele... SENTA:
...mit den vielen Spinnweben, die stark wie Gitter sind... ARTUR:
...ermüden so sehr. Ich war... innerlich... eingeschlafen... SENTA:
Wir haben die Kunst gelernt... heimlich... mit offenen Augen... schlafen
zu können... ARTUR:
...zum Handwerk des Lebens gehört... mit offenen Augen... schlafen zu können... GERDA:
Friedrich, ich glaube, unsere Kinder... hassen uns... BOMM:
Gerda, Hamlet, ein Spaziergang kann nicht schaden. GERDA:
Ich glaube, eines Tages werde ich noch wahnsinnig. Alle
drei ab. ARTUR:
Senta, laß mich allein. Ich will einen Augenblick allein sein. SENTA:
Ja, Lieber. Sie will ihn küssen. ARTUR:
Nicht jetzt! Du sollst gehen! Senta ab. Artur zieht ein Buch aus der
Tasche und liest: "Mein Leben gähnt mich an wie ein großer weißer
Bogen Papier, den ich vollschreiben soll, aber ich bringe keinen Buchstaben
heraus. Mein Kopf ist ein leerer Tanzsaal, einige verwelkte Rosen und
zerknitterte Bänder auf dem Boden, geborstene Violinen in der Ecke, die letzten
Tänzer haben die Masken abgenommen und sehen mit todmüden Augen einander an.
Ich stülpe mich jeden Tag vierundzwanzigmal herum wie einen Handschuh. Oh, ich
kenne mich, ich weiß, was ich in einer Viertelstunde, was ich in acht Tagen,
was ich in einem Jahr denken und träumen werde. Gott, was habe ich denn
verbrochen, daß du mich wie einen Schulbuben meine Lektion so oft hersagen läßt?"
Artur geht zu einem Spiegel und betrachtet sich lange. Er zertrümmert mit dem
Buch den Spiegel. Verdammte Literatur! Rotz von Hungerleidern! Artur
rennt hinaus. Gerda tritt auf, nach einer Weile auch Rosie-Senta. GERDA:
Liebes Kind, kommen Sie näher. Wollen Sie sich nicht setzen? Setzen Sie
sich doch. – Sie machen Ihre Sache gut. Sogar sehr gut, wie mir scheint. Für
so eine Arbeit wird man wohl geboren, oder nicht? SENTA:
Ich hatte eine gute Ausbildung. GERDA:
Alles nur Ausbildung? Und kein Mitleid? Ich kann es nicht glauben.
Kunstgriffe, sicherlich, kann man lernen, aber nicht Mitleid. Und Sie
h a b e n Mitleid! Hatten
Sie eine schwere Jugend? Nehmen Sie eine Praline. Ich bitte Sie herzlich:
Greifen Sie zu! SENTA:
Ich mag nicht, danke. GERDA:
Sie mögen keine Pralinen? Und ich habe gedacht, Sie hätten eine schwere
Jugend hinter sich. Sind Sie nicht in einer Wohnküche aufgewachsen, wie man sie
heute manchmal noch im Theater sieht, wo den Leuten im Parkett dann immer das
Wasser in den Augen steht? SENTA:
Nein. GERDA:
Hatten Sie wenigstens sieben Geschwister und nur zwei Betten zum
Schlafen? SENTA:
Nein. GERDA:
Sie enttäuschen mich. Aber ich frage Sie, wie wird man ein hilfsbereiter
Mensch, wenn man nicht in einer Wohnküche aufgewachsen ist und nicht sieben
Geschwister und nur zwei Betten hatte? Verraten Sie mir das Geheimnis! SENTA:
Vielleicht, um eine Schuld zu bezahlen. GERDA:
Oh, ich möchte so hilfsbereit sein können wie Sie. – Und trotzdem
diese Traurigkeit in Ihren Augen. Strahlen Sie doch, strahlen Sie! Aber
wahrscheinlich gibt es auch in Ihrem Leben ein Defizit... ein Defizit an... na,
sagen wir... Liebe. Wahrscheinlich kriegen Sie zu wenig Liebe mit und zerreißen
sich darum selbst vor Liebe. Barmherzigkeit ist nichts anderes als Egoismus.
Ersatzbefriedigung. Schwindel. Warum verteidigen Sie sich denn nicht?
Verteidigen Sie sich doch! SENTA:
Sie machen mich völlig hilflos. GERDA:
Im Grunde ähneln wir uns beide sehr: Ich bin genauso hilflos wie Sie.
Nur mit dem Unterschied, daß i c h meine
Hilflosigkeit schon sehr lange kenne. Um genauer zu sein: seit meiner Hochzeit,
seit 40 Jahren. Ich glaube, eines Tages werde ich noch wahnsinnig. Stellen Sie
sich vor, Bomm hat mir überhaupt keinen Heiratsantrag gemacht, er hat mir
einfach einen Ring an den Finger gesteckt. Bomm hat mich einfach genommen, und
ich hab's mir gefallen lassen und hab mich nicht gewehrt. Aus Hilflosigkeit.
Oder in der Hoffnung, daß dieses schreckliche
D e f i z i t ausgeglichen würde.
Aber Bomm war ein Versager. Eine Riesenpleite wurde das. Flüsternd
Lassen Sie mich eine Intimität ausplaudern: In 40 Jahren haben wir nur zweimal
zusammen geschlafen, Bomm und ich. SENTA:
'Bilanzen waren für Bomm immer wichtiger...' GERDA:
Bilanzen waren für Bomm immer wichtiger als ich. – Nun, er ist auch
keineswegs sensationell im Bett. Eher schon eine Katastrophe. Wenn ich einen
Mann brauchte, habe ich ihn mir gekauft. Auch eine Geste der Hilflosigkeit, der
Verzweiflung. Gerda ist ins Stocken geraten. SENTA:
'Kennen Sie die Männer auf Capri?' GERDA:
Kennen Sie die Männer auf Capri? Nein, natürlich nicht, woher sollten
Sie... SENTA:
'Heute bin ich eine alte Frau.' GERDA:
Heute bin ich eine alte Frau. Die Falten im Gesicht lassen sich ja noch
retouchieren. Aber sehen Sie sich nur meinen Hals an und meine Hände. Ekelhaft,
nicht? Damit muß ich leben. Etwas dick bin ich in letzter Zeit auch geworden.
Das kommt davon, wenn man sich gehen läßt. SENTA:
'Aber ich habe mächtige Verbündete...' GERDA:
Aber ich habe mächtige Verbündete, die meine Jugend verteidigen: 123
Perücken... 947 Kleider... 83 Pelze... 1100 Paar Schuhe... und 160 Karat,
insgesamt. Sagen Sie mir, Rosie, daß ich noch jung bin! Warum schweigen Sie?
Ich hasse Sie, Rosie. Nein, ich liebe dich, Rosie. Gib mir von deiner Jugend ab,
du bist doch gewohnt zu teilen. Laß mich dich umarmen, die Berührung mit dir
hat Zauberkraft. Schönes Fleisch. Samthaut. Kirschenmund. Und keine Kuhfladenbrüste.
Komm in der Nacht! Männer sind Dreck. Warum läufst du denn weg, Rosie? Lauf
doch nicht weg! Senta
ab. Gerda wählt in der Musikbox "Wo meine Sonne scheint" von Caterina
Valente. Nachdem die Hälfte des Schlagers gespielt ist, geht Gerda abrupt fort.
Die Bühne bleibt eine lange Minute leer, für Caterina Valente. Dann treten
Hamlet und die andere Senta auf. Hamlet ist gekleidet wie Artur und spielt
dessen Attitüden. SENTA:
Du warst so böse. Beim letzten Abschied. Ich hatte vor, in den nächsten
vierundzwanzig Stun... zwölf Stunden kein Wort mit dir zu reden, Artur. Aber
jetzt bin ich doch gekommen... HAMLET:
Ich habe es erwartet. SENTA:
Schimpf nicht wieder mit mir. Hörst du, du sollst nie wieder mit mir
schimpfen. Hamlet küßt sie. HAMLET:
Der Wunsch zu quälen, verzeih. SENTA:
Die Welt quält uns genug... HAMLET:
Und Bomm... SENTA:
Die Geschichte, Artur, deine Geschichte... HAMLET:
Die Geschichte meiner ersten Liebe. Punkt. So eine erste Liebe hat ja
jeder. Daran kommt wohl keiner vorbei. Ich war sechs und gerade in die Schule
gekommen. Auf dem Schulweg mußte ich jedesmal an einem Haus vorbei, wo am
Fenster im ersten Stock immer ein Mädchen saß. Das Mädchen war blond, die
Haare gingen bis auf die Schulter, w u n d e r s c h ö n nennt
man das wohl, und das Mädchen saß jeden Tag da. Jeden Tag. Zuerst bin ich
verschüchtert, nein, g e b l e n d
e t, vorbeigelaufen. Vielleicht hab ich mich manchmal umgedreht, aber sonst
hatte ich keinen Kontakt. Eines Tages sagte das Mädchen, als ich vorbeiging:
ja. Und ich sagte auch. Ja. Das ist wohl die komischste Art, wie man sich
kennenlernen kann und, wie mir heute scheint, die schönste. Von nun an kam ich
immer zu spät in die Schule, weil ich so lange auf der Straße stand und mit
dem Mädchen im ersten Stock herumalberte... Bis eines Tages die Mutter mich zu
einem Kakao ins Haus einlud. Und da sah ich plötzlich,
w a r u m das Mädchen am
Fenster saß. Die Beine waren verkrüppelt. Da ist der Knirps schreiend aus dem
Haus gelaufen und hat von nun an immer einen Umweg gemacht, wenn er zur Schule
ging. Ich schäme mich. Ich bin so schlecht! SENTA:
Nein, du bist gut. Ich würde dich nicht lieben sonst. HAMLET:
Aber Bomm, was hat er aus mir gemacht. Und aus dir. SENTA:
Sprich seinen Namen nicht aus. HAMLET:
Ein Feiertag, wenn er verreckt. SENTA:
Keine Mauern mehr und nicht mehr Angst. Und frei der Weg. HAMLET:
Der Weg i s t
f r e i. Hab keine Angst. Ich küsse dich... ich streichle dich... nur
wir... SENTA:
Du bist ganz wie ich... alles ist wie mit mir... du... ich... wir...
Senta gibt Hamlet, der sehr leidenschaftlich geworden war, eine Ohrfeige. Fassen
Sie mich nicht an! Ich habe Ihnen nicht die Erlaubnis gegeben, mich anzufassen.
Das ist gegen die Abmachung. Sie Sittenstrolch. Sittlichkeitsverbrecher! Ich
werde Sie hinauswerfen lassen. Ich werde alles meinem Vater erzählen. Sie läuft
hinaus. HAMLET:
Geldziege... Tittentante... Kuhtrampel... Rammelhexe... Luxusfotze...
Pflaumendiva... Pißritze... Artur tritt auf. ARTUR:
Studieren Sie eine neue Rolle? HAMLET:
Nein, das Stück ist abgespielt. ARTUR:
Gedächtnisübungen? HAMLET:
Schon eher. ARTUR:
Flippern Sie mit? HAMLET:
Ja, gern. ARTUR:
Haben Sie ein Geldstück? HAMLET:
Wozu? ARTUR:
Bomm verdient, wo er kann. HAMLET:
Hier. ARTUR:
Danke. Sie flippern. – Ich mag Sie nicht.
HAMLET:
So. ARTUR:
Wieso sagen Sie: so? Wieso nicht: warum? HAMLET:
Ich kann's mir denken. ARTUR:
So. HAMLET:
Ja. ARTUR:
Ich hasse das Theater. Nur Lügen und Betrug. HAMLET:
Die Leute wollen nichts anderes. ARTUR:
Weil sie krank sind. HAMLET:
Die Leute bezahlen dafür. ARTUR:
Weil sie dumm sind. HAMLET:
Nicht dumm. Eher leichtgläubig. ARTUR:
Dann eben leichtgläubig. HAMLET:
Ja. ARTUR:
Was ist der Unterschied? HAMLET:
Fragen Sie mich nicht. ARTUR:
Na also. HAMLET:
Und trotzdem... bei Ihnen auch... im Hinterkopf... eine maßlose Liebe...
zum Theater. ARTUR:
Wo? HAMLET:
Im H i n t e r k o p f. ARTUR:
Sie sind ein Arschloch. Bomm tritt auf. BOMM:
Geh, Hamlet, laß mich allein mit Artur. HAMLET:
Wie Sie wünschen, Herr Bomm. ARTUR:
Hamlet, bleiben Sie. HAMLET:
Wie Sie wünschen, Artur. BOMM
zu Artur: Könntest du dich bequemen... ARTUR
der weiterflippert: Nein. BOMM:
Also, gut. – Ich habe mit dir zu reden. ARTUR:
Wenn es sein muß... HAMLET
marktschreierisch zum Publikum: Klassischer Vater-Sohn-Konflikt! BOMM:
Das geht so nicht weiter. Ich duld das nicht. Komm zu dir! Große
Aufgaben erwarten dich. ARTUR:
Ich sah mal einen Film, wo einer
morgens, als erstes nach dem Aufstehen, seine Schuhe putzte... HAMLET:
'Um das Bruttosozialprodukt besser vermehren zu können...' ARTUR:
Um das Bruttosozialprodukt besser vermehren zu können. Seitdem finde ich
das nur noch lächerlich. Auch wenn ich meine Schuhe niemals selber putzen muß... HAMLET:
'Du siehst vor dir einen Versager...' ARTUR:
Du siehst vor dir einen Versager. Schau ihn dir genau an. Denk, du wärst
im Zoo. Ganz seltenes Exemplar und ringsherum nur das Erfolgstier. HAMLET:
'Fleißig...' ARTUR:
Fleißig... HAMLET:
'...ordentlich...' ARTUR:
...ordentlich... HAMLET:
'...und arbeitsam.' ARTUR:
...und arbeitsam. Und sinnlos. Verschone mich mit Pflichten. Nein, keine
Pflichten. Dein Beispiel reicht mir. HAMLET:
'Enterbst du mich jetzt...?' ARTUR:
Enterbst d u mich jetzt, Vater? Armut stelle ich mir sehr aufregend vor.
Margarine auf dem Brot, nur ein Hemd und eine Hose, Löcher in den Schuhsohlen
und eine Dachkammer, in die es regnet... BOMM:
Du bist noch nicht erwachsen, Artur. Treib dich noch ein paar Jahre auf
der Universität herum. Dann wirst du dein Examen machen.
D u a u c h. Um dir die Krise zu erleichtern, verdopple ich dir
deinen Scheck. ARTUR:
Du hast nichts begriffen, Vater. Du hast überhaupt nichts begriffen. Artur
und Hamlet umärmelt ab. Senta-Rosie tritt auf mit Mama im Rollstuhl. BOMM
der auf den Flipper starrt: Das Ding kommt mir aus dem Haus. – Mama! Zu
Senta Wie geht es unserer Patientin? SENTA:
Blutdruck und Puls wie immer. Kein Fieber. BOMM:
Gut, Rosie, gut. Senta setzt sich und beginnt, in einem Buch zu lesen.
Mama, du wirst eines Tages wieder gesund sein. Die Medizin macht große
Fortschritte, von Tag zu Tag. Wir werden alle neuen Kapazitäten konsultieren.
Du sollst gesund werden. Dann kannst du wieder Bridge spielen und Himbeereis
essen. Aber ein bißchen mußt du dich auch ums Haus kümmern. Ich will Gerda
nicht mehr sehen. Fortschicken werd' ich sie. Die Kinder auch. – Du liest
viel, Rosie. Ich sehe dich immerzu lesen. SENTA:
Ich vernachlässige nicht meine Pflicht. BOMM:
"Was liest du, Rosie? Gib mir das Buch. Sie gibt es ihm. –
"Ja, die deutsche Geschichte schmeichelt sich einer Bewegung, welche ihr
kein Volk am historischen Himmel weder vorgemacht hat noch nachmachen wird. Wir
haben nämlich die Restaurationen der modernen Völker geteilt, ohne ihre
Revolutionen zu teilen. Wir wurden restauriert, erstens, weil andere Völker
eine Revolution wagten, und zweitens, weil andere Völker eine Konterrevolution
litten, das eine Mal, weil unsere Herren Furcht hatten, das andere Mal, weil
unsere Herren keine Furcht hatten. Wir, unsere Hirten an der Spitze, befanden
uns immer nur einmal in der Gesellschaft der Freiheit, am
SENTA:
Ist sie groß, die Ansteckungsgefahr? BOMM:
Ja, Rosie, riesengroß. Von fern: "Albumblatt für Elise".
Aus der Welt ist die Verzweiflung nicht wegzudenken. Oft frag ich mich, bin ich
auch infiziert von ihr? Ich glaube, ja. Ich geb das unumwunden zu. Manchmal hat
man so einen Augenblick der Wahrheit. Auch ich, ich auch. Aber selbst der
Klassenfeind verdient Mitleid. Er am meisten. Weil er zu einer aussterbenden
Gattung gehört. Jahrhunderte vergebens gejagt, rottet er sich selbst jetzt aus.
In unseren Breitengraden kaum noch lebensfähig, flüchtet er sich in südliche
Exile, wo das Klima selbstmörderisch ist. Fortgeschrittenstes Stadium der
Degeneration. Ja, ja, im Fieber der Verzweiflung flieht man. Zum Beispiel in die
Südsee. Exklusiv ist die, und nur wenige können sie sich leisten. Der Rest
flieht billiger. Weil Wirklichkeit nicht zu ertragen ist, selbst nicht für
Elefanten. SENTA:
Bei Fieber gibt's noch andere Mittel. BOMM:
Du Krankenschwester! Freundliches Gesicht und ein warmer Händedruck. SENTA:
So geht das Sterben leichter. BOMM:
Ich lächle nicht dankbar zurück. D
e r Trost ist mir zu billig. Ich
bin immer noch unheilbar gesund. Verachtest du mich jetzt, weil du Friedrich den
Großen eine Sekunde schwach gesehen hast? Das kommt nur selten vor. SENTA:
Ich bin beruhigt, daß Sie nicht aus Stein sind. BOMM:
Du bist zu zart für Revolutionen, Rosie. Stell dir das Blut vor in der
Gosse, wie es versickert in den Gullies. Bestimmt würdest du ohnmächtig
werden. Gib auf. Laß Rosie sterben. Hör mir zu: Rosie muß sterben! SENTA:
Ja. – Rosie soll sterben. DRITTER
AKT In
der Nacht. Für
Hamlet einen Punktscheinwerfer. Die übrige Bühne ist dunkel und wird erst allmählich,
ganz langsam, heller. Das tropische Ambiente –mit Sternenhimmel- ist
unwirklich schön. Bomm und seine Familie, mit Ausnahme von Mama, haben gerade
ihr Abendessen beendet. HAMLET:
"Sein oder Nichtsein, das ist hier die Frage: Ob's
edler im Gemüt, die Pfeil' und Schleudern Des
wütenden Geschicks erdulden, oder..." Hamlet
wird aus dem Dunkeln von Artur und Senta mit Tomaten, Eiern und anderen
klebrigen Eßwaren beworfen. ARTUR:
Provinztheater...Schmiere... SENTA:
Bonn... Bielefeld... Name des Aufführungsortes... HAMLET:
"Sich waffnend gegen eine See von Plagen, Durch
Widerstand sie enden. Sterben – schlafen –"... ARTUR:
Sprücheklopfer... SENTA:
Affenarsch... HAMLET:
"Nichts weiter! – und zu wissen, daß ein Schlaf Das
Herzweh und die tausend Stöße endet, Die
unsers Fleisches Erbteil –"... ARTUR:
Drecksau... HAMLET:
" 's ist ein Ziel Aufs
innigste zu wünschen. Sterben – schlafen – "... SENTA:
Bettnässer... HAMLET:
"Schlafen! Vielleicht auch träumen! – Ja, da liegt's: Was
in dem Schlaf für Träume kommen mögen, Wenn
wir den Zwang des Ird'schen abgeschüttelt, Das
zwingt uns stillzusehn. Das ist die Rücksicht, Die
Elend läßt zu hohen Jahren kommen."... ARTUR:
Anpasser... SENTA:
Schleimer... ARTUR:
Kriecher... HAMLET:
"Denn er ertrüg' der Zeiten Spott und Geißel, Des
Mächt'gen Druck, des Stolzen Mißhandlungen, Verschmähter
Liebe Pein, des Rechtes Aufschub, Den
Übermut der Ämter und die Schmach, Die
Unwert schweigenden Verdienst erweist, Wenn
er sich selbst in Ruhstand setzen könnte Mit
einer Nadel bloß? Wer trüge Lasten Und
stöhnt' und schwitzte unter Lebensmüh'?"... ARTUR:
Scheißkerl... Scheißkunst... SENTA:
Todesstrafe... HAMLET:
"Nur daß die Furcht vor etwas nach dem Tod - Das
unentdeckte Land, von des Bezirk Kein
Wandrer wiederkehrt – den Willen irrt, Daß
wir die Übel, die wir haben, lieber Ertragen,
als zu unbekannten fliehn."... SENTA:
Lügensau... ARTUR:
Alle Bücher verbrennen... HAMLET:
"So macht Bewußtsein Feige aus uns allen; Der
angebornen Farbe der Entschließung Wird
des Bewußtseins Blässe angekränkelt. Und
Unternehmungen voll Mark und Nachdruck, Durch
diese Rücksicht aus der Bahn gelenkt, Verlieren
so der Handlung Namen."... Bomm
und Gerda applaudieren. Artur und Senta sind etwas erschöpft. BOMM:
Höchster poetischer Reiz für m
i c h: die Sprache der Wirtschaft. GERDA:
Trotzdem, er ist schon seine Gage wert. HAMLET:
Kann ich mich jetzt umziehen? BOMM:
Ja, geh. Geh, geh. Hamlet ab. ARTUR:
Er ist unbegabt. Schrecklich unbegabt. SENTA:
Schmeiß ihn raus, Vater. GERDA:
Ich möchte, daß er bleibt. Inzwischen hab ich mich gewöhnt an ihn. Und
er ist brauchbarer als alle anderen, immerhin. ARTUR:
Unser 46. Hamlet ist sehr gut gewesen. Er konnte seinen Monolog stehend
auf den Händen. GERDA:
Aber er lispelte und hatte Mundgeruch. Ich frage mich: Lispelte er, weil
er Mundgeruch hatte, oder hatte er Mundgeruch, weil er lispelte? ARTUR
zu Bomm: Miete uns ein Ballett. Mit Streichorchester. Das ist bestimmt
noch lustiger. GERDA:
So viele fremde Menschen! SENTA:
Er ist mir an die Wäsche gegangen, Vater. BOMM:
Lüge, Senta, Lüge. ARTUR:
Er ist wirklich unterdurchschnittlich begabt. Nicht einmal fürs
Stadttheater reicht sein Talent. BOMM:
Es gibt nichts Schlimmeres, als kein Genie zu sein. Das ist bekannt. Und
ebendrum. Mein letztes Wort. Er bleibt. Und damit basta.- GERDA:
Die arme Rosie! Hätte sie sich doch wenigstens erst
n a c h dem Essen
ungebracht. Der Hummer war so köstlich. Friedrich, ein schöner Fang. SENTA:
Sich aufzuknöpfen in aller Öffentlichkeit. Nicht irgendwo, versteckt in
einer Kammer. Wie schamlos. ARTUR:
Der Plebs kennt keine Rücksicht. SENTA:
Verdorben ist der ganze Abend. GERDA:
Keiner will mehr dienen. Und die Arbeit mit Mama, die haben
w i r jetzt. Ich glaube,
eines Tages werde ich noch wahnsinnig. SENTA:
Als sie da hing, mit herausgestreckter Zunge, der Schrei blieb mir im
Halse stecken. GERDA:
Ich wäre auf der Stelle ohnmächtig geworden. SENTA:
Geschmackloser Domestikentod. ARTUR:
Zum Glück hat Hamlet sie ja abgeschnitten. Ich hätt' es nicht gekonnt. BOMM:
Es ist ein Übel, wenn man immer nur erlösen will, und gleich die ganze
Menschheit. Rosie war von dieser Sorte eine. Jetzt ist sie selbst erlöst. Ist
sie erlöst? Erlösung schafft nur Kampf, tagtäglich. Und dazu muß man höchst
lebendig sein. – Überschrift: D i e S c h l a
c h t u m
d e n A u t o k o n z e r
n... Schon lange lag in meinem Blickwinkel die Fahrzeugbranche. Ich witterte außergewöhnliche
Erträge, langfristig gesichertes Wachstum- die Vollmotorisierung: unaufhaltsam.
Als das geeignete Objekt gefunden war, kaufte ich in aller Stille, über Strohmänner,
um die Kurse nicht zu erschüttern, gute 25% des Kapitals auf, der Sprung über
die Sperrminorität, der war geschafft. Schließlich, durch umsichtiges
Taktieren, 40% vom Kapital in meiner Hand, endlich also
Generalversammlungsmehrheit. Eingestiegen bin ich bei Kursen zu 100-200%, heute
liegen sie weit über 1000. Ich konnte so billig kaufen, weil das Grundkapital lächerliche
70 Millionen nur betrug, 10 Millionen weniger als der Reingewinn pro Jahr, nach
Abzug aller Steuern, bei einem Umsatz, der sich der 2 Milliarden-Grenze näherte.
Der längst fälligen Kapitalerhöhung stimmte ich nach schwerem Ringen zu, denn
nichts lag mir ferner, als dividendensüchtige Kleinaktionäre zu bereichern,
was sich umgehen läßt mit Investieren und Abschreiben. Eine Hälfte der
Kapitalerhöhung wurde finanziert aus den Reserven der Gesellschaft, die andere
verkauft zum Nennwert. Es fängt an zu schneien. Meinem Kapitalanteil
entsprechend, kassierte ich für 60 Millionen neue Aktien, zum halben Preis,
versteht sich. Der Tageswert von dem Paket betrug, gemessen an dem Börsenkurs
zu jener Zeit, 750 Millionen. Der Arbeiterpöbel schrie nach Beteiligung, nach
Gratisaktien. Demonstrationen und Streik. Aber dann kuschte der Mob, weil seine
Gewerkschaft sich wohl übernommen hatte. – 750 Millionen! Ist das nicht ein
Geschäft? Ich trinke auf die freie Marktwirtschaft.
SENTA:
Schnee. ARTUR:
Der ganze Dreck wird zugedeckt. BOMM:
Sonst fällt euch nichts ein? Sonst nichts? GERDA:
Du bist großartig, Friedrich. Artur und Senta gehen auf die Terrasse. BOMM:
Ich sehe nach Mama. GERDA:
Ach ja, Mama. BOMM:
Wird Hamlet sich um dich kümmern? GERDA:
Wir sind verabredet für später. BOMM:
Gut. Sehr gut. Bomm
ab. Gerda wählt in der Musikbox "Roter Mohn" von Rosita Serrano und hört
sehr aufmerksam zu. Dann verläßt auch Gerda den Raum. SENTA:
Du bist so traurig heute abend. Warum bist du so traurig? ARTUR:
Ich denke nach. SENTA:
Komm, laß uns einen Schneemann bauen! ARTUR:
Man sollte sich umbringen. SENTA:
Sprich es nicht aus. ARTUR:
Durchs Denken kommt alles Unglück in die Welt. SENTA:
Unser letzter Abend. ARTUR:
Ja, morgen müssen wir wieder abreisen. SENTA:
In aller Herrgottsfrühe. Ich werde unausgeschlafen sein. ARTUR:
Woanders ist das Leben nicht zu ertragen. Nur hier. SENTA:
Und diese endlose Warterei im Flughafen... weil Bomm zu geizig ist für
ein Privatflugzeug... zwischen den stinkenden, schlimmen Touristen... ARTUR:
Das Leben lebt nur hier... SENTA:
...winzige Artgenossen... ARTUR:
...woanders ist es sinnlos. SENTA:
...ohne Träume von der Gegenwelt. ARTUR:
Machst du Musik? SENTA:
Ja, Artur. Sie wählt an der Musikbox das Todesduett aus Wagners
"Tristan und Isolde". ARTUR:
Ja, man sollte sich umbringen. SENTA:
Tabletten? ARTUR:
Wenn nicht diese unerträglichen Magenkrämpfe wären... SENTA:
Im Bad der Fön... ARTUR:
Das Risiko einer Lähmung des halben Körpers... SENTA:
Sich ertränken im Ozean... ARTUR:
Nicht aufgedunsen-grün ins Grab... SENTA:
Sich aufhängen! ARTUR:
Domestikentod... SENTA
die sich an Rosie erinnert: Verzeih! ARTUR:
Nein, es muß eleganter sein... SENTA:
Wie, wie, wie? ARTUR:
Den Kopf auf die Eisenbahnschiene legen und auf den Intercity warten... SENTA:
Aber wenn's nur ein Güterzug ist... ARTUR:
In gewittriger Mainacht vom Blitz getroffen werden... SENTA:
Nein, in Schönheit sterben... ARTUR:
Oder aus einem Wolkenkratzer springen, aus dem 43. Stock, in New York... SENTA:
Man wird die Fenster nicht öffnen können… ARTUR:
Oder sich erschießen im Petersdom, während der Papst die Messe liest... SENTA:
Ich höre Engelchöre jauchzen... ARTUR:
Oder nach einem einfachen Leben ein einfacher Tod, ganz einfach, sich die
Pulsadern aufschneiden. Nicht quer, wie es alle diese Dummköpfe machen. Der Länge
nach muß man sie aufschneiden. So... und so... Artur bearbeitet mit einem
Messer seine Pulsadern. Viel Blut. SENTA:
Du bist stark, Artur. Hilf mir. Ich habe keine Kraft. Artur ersticht
Senta ausführlich. Ihr Chiffon-Kleid färbt sich melancholisch rot. Beide
sinken sehr elegant zu Boden. Nach einer Weile treten Gerda und Hamlet auf. GERDA
in Kostüm und Maske der dreißiger Jahre: Ich habe extra auf die Karten drucken lassen: Smoking
o d e r Uniform. Und ich
hatte erwartet und bin überaus glücklich, daß... HAMLET
in Offiziersuniform: Im Krieg zieht ein Soldat die Uniform nie aus, gnädige
Frau. GERDA:
Ach ja, es ist ja Krieg. Was macht euer Krieg? HAMLET:
Vormarsch planmäßig. Bald stehen wir vor Moskau. GERDA:
Kein nennenswerter Widerstand? HAMLET:
Nein, und kaum Verluste. Der Untermensch ist feige. Kampfbereitschaft
quasi null. Ungeziefer, das man mit dem Stiefelabsatz zermalmt. GERDA:
Geben Sie Bericht von der Front! HAMLET:
Die Vorsehung ist auf unserer Seite. GERDA:
Das größte Fest, das je im Reiche stattfand, werde ich in unserem Hause
geben nach dem Endsieg... HAMLET:
Gnädige Frau, wir kennen unsere Pflicht. GERDA:
...ein Fest für hunderttausend Helden. HAMLET:
Sie die Siegesgöttin! GERDA:
Küssen Sie mich. HAMLET:
Aber... GERDA:
Wir sind allein... Hamlet küßt sie. HAMLET:
Ein anderes Feld der Ehre. GERDA:
Ich beobachte dich schon lange. Du wirst oft eingeladen, nicht wahr? Die
Uniform macht dich so stattlich. Ich liebe Uniformen und was daruntersteckt. HAMLET:
Haut wie Leder? GERDA:
Ja. HAMLET:
Muskeln wie Stahl? GERDA:
Ja, ja. HAMLET:
Die Kraft der ganzen Rasse? GERDA:
Ja! Ich möchte deine Kriegsbraut sein, denn Bomm ist eine Niete. HAMLET:
Geheime Kommandosache: Europa und der Stier. GERDA:
Wir werden Wege finden. Und für jedes absolute Glück ein Orden. Deine Brust
ist viel zu kahl. HAMLET:
Etwas Lametta wär nicht schlecht. GERDA:
Das läßt sich machen. Heute abend ist
e r Gast bei uns. HAMLET:
E r selbst? GERDA:
Er selbst. Ein alter Freund von Bomm, Freund der Familie sozusagen. Ein
schlichter, liebenswürdiger Mensch, für den vegetarisch gekocht werden muß,
weil er ein Magenleiden hat. Aber ein glänzender Unterhalter! Wir sehn ihn gern
in unserem Haus, und was immer auch geschieht, nie wird das sich ändern. Er mißgönnt
uns nicht das Fleisch auf unsern Tellern und liebt die Kinder, als ob es seine
eignen wären. Ein kultivierter Mann, voll Herzensgüte. HAMLET:
Großer Tag! Nie stand ich i
h m Auge in Auge gegenüber. GERDA:
Wenn ich i h n
darum bitte, befördert e
r dich auf der Stelle. Deine
Zukunft ist gesichert, General. HAMLET:
Ich küsse dir die Hände. GERDA:
Laß uns tanzen! Ich möchte so gern mit dir tanzen. Sie wählt an der
Musikbox "Davon geht die Welt nicht unter" von Zarah Leander. Gerda
und Hamlet tanzen. HAMLET:
Du tanzt wie eine... GERDA:
Feder? HAMLET:
Ja. Wie eine Feder. GERDA:
Starke Arme. Geborgenheit. Sicherheit. Ewigkeit. Näher... näher... ich
will deinen Körper spüren... ja, ja... du tanzt wie ein Gott... tanz
schneller... schneller... schneller... dieses Karussell im Kopf... hoppe, hoppe,
Reiter... Sie bricht zusammen. HAMLET:
Was ist denn, Gerda? Fühlst du dich nicht wohl? Er bringt sie zu
einem Sofa. GERDA:
...und wenn du wieder an die Front gehst, Siegfried, in die Kälte,
Siegfried, werde ich dir Socken stricken und Pulswärmer. Und deine Kriegsbraut
wird dein Foto küssen und an dich denken Tag und Nacht. Sieg Heil! Hamlet
zieht seine Jacke aus und legt sie über Gerdas Kopf. – Bomm fährt Mama im
Rollstuhl herein. BOMM:
Hat dir die frische Luft gutgetan, Mama? Sicher hat sie dir gutgetan.
Nach einem solchen Tag. Das Klima in den Tropen ist ziemlich mörderisch, ich
weiß. Ich hätte es dir nicht zumuten sollen. Aber du allein zu Hause, übers
Wochenende, von uns verlassen, das würd' ich niemals dulden. Und du solltest
sehen, wie schön wir es hier haben. Es ist doch schön, oder nicht? Ist es
nicht das reinste Paradies? Es ist das Paradies. Er hat den Rollstuhl weit
nach vorne gefahren; man sieht Mama im Halbprofil. – Bomm bemerkt Hamlet. Du
schläfst noch nicht, Hamlet? HAMLET:
Nein, Herr Bomm. BOMM:
Die anderen, glaube ich, die schlafen schon. Wartest du auf deinen
Auftritt im letzten Akt, Hamlet? HAMLET:
Ich gehe nach Hause, Herr Bomm. Ich lasse die Vorstellung platzen. BOMM:
Kein Verantwortungsbewußtsein? Kein Mitleid mit den Kollegen? Kein
Selbsterhaltungstrieb? HAMLET:
Ich kündige. Fristlos. BOMM:
Die Kündigung nehme ich nicht an. Vertrag ist Vertrag. Die Spielzeit hat
gerade erst begonnen. Bühnenschiedsgericht. Konventionalstrafe. HAMLET:
Sie können bei mir pfänden. BOMM:
Womit bist du denn zu beeindrucken? Sag es mir im Vertrauen, Hamlet. HAMLET:
Sie beeindrucken mich überhaupt nicht mehr, Herr Bomm. BOMM:
So? HAMLET:
Sie ekeln mich an, Herr Bomm. BOMM:
Ich verdopple deine Gage, ja? HAMLET:
Nein. BOMM:
Das Zehnfache. HAMLET:
Nein. BOMM:
Das Hundertfache. HAMLET:
Das Hundertfache? BOMM:
Nur das Gedicht... dann kannst du gehen. Keine weiteren Verpflichtungen.
Aber die hundertfache Gage. Rechne: die Gage jetzt... hundertmal... Hamlet
beginnt mit Bomms Lieblingsgedicht. Bomm zieht aus der Jackentasche eine Pistole
und erschießt Hamlet mit ausgestrecktem Arm. Die hundertfache Gage! Einfach
zum Lachen. Unmoralischer Paketaufschlag. – Es gibt nur Sklaven auf der Welt.
Ich ekle mich vor ihnen, aber ohne sie kommt man nicht aus. – Los, steh auf,
Hamlet! Das Spiel ist aus. Lauter Das Spiel ist aus! Haltet euch an das
Stichwort, verdammt nochmal. Schluß mit dem Theater. Schluß... Schluß... abräumen! Hamlet
rührt sich nicht. Das Südsee-Ambiente verschwindet, auf der Hinterbühne wird
eine trostlose, graudreckige Industrielandschaft sichtbar. Bomm hat Hamlet
vergessen. Mein
Lebenswerk, Mama, sieh, unvergänglich, ewig. Einzige schöne Welt, und sie gehört
mir: 350 Unternehmen, Jahresumsatz 2o Milliarden, 300 Tausend Köpfe und 600
Tausend Hände, die für mich arbeiten. Mit den Familien zusammen macht das eine
Million Leibeigene. Jeden Tag verdiene ich 1,5 Millionen. Das ist ein
Stundenlohn, normaler Zehnstundentag vorausgesetzt, Sonn- und Feiertage
mitgerechnet, von 150 Tausend. Im Jahr sind das 550 Millionen, rund, ich will
nicht kleinlich sein. Dafür müssen von dem Pack 30 Tausend arbeiten ein ganzes
Jahr lang, der Multiplikator meines Wertes ist 30 Tausend. Und 600 Tausend, wenn
es um das gesamte Vermögen geht. Falls die Statistik stimmt, daß der
Durchschnittsmensch Habseligkeiten besitzt für 10 Tausend, übrigens totes
Kapital, das keine Zinsen trägt. Die Liste der reichsten Männer dieser Welt
nennt mich erst an fünfter Stelle. Das ist beschämend. Ich werde mich
anstrengen, Mama. Artur, Senta und Gerda beginnen, nacheinander und sehr
langsam, wieder zum Leben zu erwachen. Die Säulen meines Reiches sind nicht
auf Sand gebaut. Solide Fundamente: der Autokonzern, der Papierkonzern, der
Kunststoff- und Sprengmittelkonzern, der Eisenverarbeitungskonzern, Stahlwerke
natürlich auch, Kohle weniger, der lächerlichen Rendite wegen, und nur zum
eigenen Bedarf. Luxus-Limousinen... Klobecken... Badewannen... Lokomotiven...
Zement... Artillerieraketen... Panzer... alles Produkte von
Dabei
hat alles ganz bescheiden angefangen. Nichts ist mir in die Wiege gelegt worden.
Ich habe alles erreicht aus eigener Kraft, mit Fleiß und Wissen. Geboren wurde
ich auf einem Bauernhof. Als Bürolehrling hab ich angefangen, ich habe alles
von der Pike auf gelernt, Mama, du bist mein Zeuge. Mit dreißig hatte ich den
ersten Dienstwagen samt Chauffeur. Gut, Papa hat mir etwas unter die Arme
gegriffen, damit ich die Mehrheit bei der ersten Hütte erwerben konnte, und die
Heirat mit Gerda verschaffte mir natürlich auch etwas Ellbogenfreiheit. Der
Rest war fast nur noch ein Kinderspiel. Von
frühester Kindheit an war ich ein Bastler. Beim Basteln muß man erkennen,
welche Teile zusammengehören. Ich habe mit großer Leidenschaft gebastelt.
Gebastelt, immer nur gebastelt. Die Erkenntnis später war nicht schwer, daß zu
Stahlhütten Grubenwerke gehören, für die Verarbeitung des Rohstoffs. Hat man
hochwertiges Material erst einmal hergestellt, muß man sich weiter darum kümmern,
was aus diesem Material dann wird. Also schafft man sich Betriebe an, die das
Material verarbeiten. Kinderlogik, oder nicht? Man muß nur einen Blick dafür
haben, was ein Werk wert ist und welche Ergänzung es für ein anderes bietet.
Ich bilde mir ein, ich habe diesen Blick. GERDA:
Großartig, Friedrich. Artur und Senta applaudieren. BOMM:
Zu expandieren war ganz einfach, weil das Geld von Tag zu Tag weniger
wert wurde: Inflation. Ich lieh mir von den Banken Geld und kaufte eine Firma,
die mir noch fehlte. Dann brauchte ich nur zu warten, bis die Entwertung des
Geldes den Punkt erreichte, wo ich mit einem Wochengewinn der gekauften Firma
leicht den Kredit zurückbezahlen konnte. Gleichwohl gehörte Unternehmermut
dazu. Meine Devise ist immer
gewesen: M i t
e i n e m M i n i m u m
a n K a p i t a l e i n s a
t z -
e i n M a x i m u m
a n M a c h t b e r e
i c h. Ja,
das war für mich immer der entscheidende Beweggrund: Macht, Macht, Macht. Mehr
als dreimal essen am Tage kann ich auch nicht. Dann
kam das neue Reich. Ich hatte die Entwicklung schon lange vorher eingeplant.
Spenden an die Partei. Als die Entjudung angeordnet wurde, hab ich vielen
Betrieben aus der Klemme geholfen, sie gehören heute mir. Ich war sehr gut
befreundet mit den neuen Herren, auch wenn ich ihre Ideale nie bejahte. Nie! Der
Krieg bescherte meinem Konzern einen außergewöhnlichen Boom. Der Unternehmer
war Herr im eigenen Hause, weder Betriebsrat noch Gewerkschaft pöbelten, die Löhne
wurden grundsätzlich stabil gehalten. Weitsichtig hatte ich schon früh mich
umgestellt auf Rüstungsindustrie. Zu einem Zeitpunkt, als die im
Wehrmachtsministerium davon noch träumten. Und die Gewinne überstiegen jede
Erwartung. GERDA:
Großartig, Friedrich. Artur und Senta applaudieren. BOMM:
Aber das Ende war bitter. Der Feind siegte. Ich wurde verhaftet, als
angeblicher Kriegsverbrecher, und mußte im Gefängnis den Schneider und den
Schuster spielen. Meinen Konzern wollten die Sieger entflechten, wie das damals
hieß. Noch im Gefängnis bin ich ihnen zuvorgekommen: Überschreibungen auf
entfernte Verwandte, Gesellschaften mit neuen Namen, Verwirrungen. Als ich
begnadigt wurde, hatte ich immer noch ein Vermögen von 300 Millionen. Und die
Durchschnittsmasse hat bei der Reform der Währung ein Trinkgeld gekriegt, sie
lernt es nie. Mir gelang der Wiederaufbau glänzend. GERDA:
Großartig, Friedrich. Artur und Senta applaudieren. BOMM:
Dazu kann ich nur sagen: "Eiserner Fleiß, geschäftliche Begabung,
wirtschaftlicher Instinkt für Kombinationen und die auf diesem Gebiete mir
eigene Erfindergabe, gute Zusammenarbeit mit meinen Mitarbeitern und ähnliche
Faktoren sind hinzugekommen. Zu diesen Voraussetzungen kam ein ausschlaggebender
Punkt hinzu, nämlich die Tatsache, daß ich mein ganzes Leben in härtester
Arbeit lediglich meinem Beruf gewidmet und mich von allen anderen Dingen...
ferngehalten habe. Mein Leben war im allgemeinen meiner Berufsarbeit
gewidmet." Eine Happy-end-Filmmusik. Trotz
meiner Erfolge bin ich bescheiden geblieben. Ich trage meine Anzüge mindestens
zehn Jahre lang. In der Eisenbahn fahre ich 2. Klasse. Die Anschaffung von einem
firmeneigenen Flugzeug würde ich für glatte Geldverschwendung halten. Ins Büro
nehme ich einen Henkelmann mit, in dem Eintopf ist. Ganz köstlich! Einmal saß
ich auf einer Parkbank und wickelte aus einem, m e i n e m Pergamentpapier
ein Butterbrot aus, der Chauffeur wartete hundert Meter weiter. Da setzte sich
ein Gärtnereiarbeiter zu mir, und jedes seiner Worte war Klassenkampf. Natürlich
gab ich ihm recht, und trinken durfte ich aus seiner Bierflasche. Er wunderte
sich sehr, als mein Chauffeur die Wagentür mir aufriß. Diese Szene hab ich
sehr genossen. Übrigens: mein größtes Hobby ist Holzhacken. Ende der
Filmmusik. – Bist du jetzt stolz auf deinen Sohn, Mama? Sei stolz. Du
kannst stolz sein. MAMA:
Du Vieh. Vieh. Bomm
beginnt zu lachen, auch Artur, Senta und Gerda fangen an zu lachen, vielleicht
lacht sogar Mama. ©
und Aufführungsrechte: S. Fischer Verlag/ Frankfurt am Main
Der
Salon eines Hauses, das in kolonialistischem Stil gebaut ist. Beim Mobiliar
sollte es sich es sich um eine Mischung aus europäischen Stilmöbeln des 19.
Jahrhunderts und exotischen Korbmöbeln handeln, die alle, obwohl sie nicht
billig waren, schon etwas schäbig aussehen- wie nach der 50. Aufführung in
einem Theater.
l e
i d e? Artur!
K i n d e r
v e r d i e n t. Ihr könnt
euch euer G u t e n M o r g e n
an den Hut stecken. Schließlich bettle ich nicht darum. Ich bin doch
keine Bettlerin. Mein Gott, womit habe ich solche Kinder verdient! – Trotzdem,
ich bleibe dabei: Was für ein schöner Tag! Und jeder Tag ist schön. Hier.
Einer wie der andere. Völlig überflüssig, jemandem einen G u t e n M o r g e n zu
wünschen. Der Morgen wird gut, so oder so. Und der ganze Tag. – Auch kein Küßchen
auf die Wange? Herzloses Pack. Und so etwas habe ich in die Welt gesetzt. War
strahlend vor... vor M u t t e r g
l ü c k. Ich werde euren Vater bitten, daß wir beide... das nächste Mal...
allein reisen. Jawohl, allein. Ohne euch.
I
c h will darüber reden und brauche
einen, der mir zuhört.
T a g i h r e r
B e e r d i g u n g." Frühe Gesamtausgabe,
in Saffian gebunden, aus unserer Bibliothek. Man liest sie noch, die Herren Marx
und Engels? Nun, für die Allgemeinbildung kann's nicht schaden. Es freut mich,
Rosie, daß du etwas tust für deine Allgemeinbildung. Oder suchst du Trost, bei
den Klassikern? Aber, sagte ich: T
r o s t? Das Gegenteil: unermeßliches Potential an Verzweiflung. Paß auf,
Rosie, sonst infizierst du dich.
m i r. *
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