Johann Christopherus Wagenseilius und Johann Jakob Scheuchzer

Johann Christopherus Wagenseil
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Johann Jakob Scheuchzer wurde am 2.8.1672 als Sohn eines Stadtarztes in Zürich geboren. Das geistige Leben war in der damaligen Schweiz noch sehr beengt und rückwärtsgewandt. Die reformierte Geistlichkeit dominierte das Leben. So galten etwa Tanz und Theater als unsittlich und waren verboten. Der Stadtarzt und Physikprofessor Johann von Muralt glaubte noch fest an Hexen. Die Forderung des Griechischlehrers Johann Heinrich Schwyzer, die Kirche habe sich dem Staat unterzuordnen, stieß auf schärfsten Widerspruch. Die höchste Lehranstalt in Zürich, das Collegium Carolinum, diente vor allem der Ausbildung von Theologen.

Scheuchzer war ein aufgewecktes Kind. So gab man bereits den Dreijährigen in die Deutsche Schule. Die Fächer waren: Anstandslehre, Katechismus, Lesen, Schreiben, Kirchengesang, Rechnen. Es folgte der Besuch der Lateinschule. Der Name kam nicht von ungefähr: Ab der 5. Klasse durften sich die Schüler, auch untereinander, nur noch lateinisch verständigen. Die Hauptfächer waren Religion, Latein und Griechisch. Der Zürcher Katechismus wurde schier auswendig gelernt. Als Nebenfächer kamen noch hinzu: Deutsche Grammatik, Schönschrift, Rechnen, in den Oberklassen Rhetorik und Poetik.

Am Collegium Carolinum wurden, bei einem Lehrkörper von sieben Professoren, die Studienfächer Theologie und Bibelkunde, Hebräisch, Griechisch, Kirchen- und Profangeschichte, Philosophie und Ethik angeboten. Dazu kam noch etwas Physica (= Naturkunde) und Mathematik. Gerade die Mathematik genoß wenig Achtung, da die Theologen sie als toten Ast am Baum der Gotteserkenntnis ansahen. Als Scheuchzer am Carolinum studierte (1687-1688), hielt der gut siebzigjährige Arzt Johann Heinrich Lavater die Physikvorlesung. Die Professoren blieben häufig bis zu ihrem Lebensende im Dienst.

Künftige Medizinstudenten wurden von den Ärzten der Stadt durch Privatunterricht auf die Universität vorbereitet. Scheuchzers Vater, der ja auch Arzt war, starb tragischerweise, als sein Sohn sechzehn wurde. So behalf sich Scheuchzer viel durch Selbststudium. Traditionelle Universitäten für Züricher Medizinstudenten waren damals Montpellier und Leiden. Ersteres war nach der Aufhebung des Ediktes von Nantes (1685) den Protestanten verschlossen, in Holland herrschte Krieg. So nahm Scheuchzer, von der Stadt mit einem Stipendium von 200 Gulden ausgestattet, im Frühjahr 1692 sein Studium in Altdorf bei Nürnberg auf.

Die Schule zu Altdorf, 1623 durch Kaiser Ferdinand II. zur Universität erhoben, galt gegen Ende des 17. Jahrhunderts als eine der bedeutendsten deutschen Hochschulen. Ihr 1625 gegründeter Hortus medicus war mit seinen 2000 Pflanzen größer als der zu Leiden. Dazu kamen ein chemisches Laboratorium, ein Theatrum anatomicum und eine Sternwarte.

Der absolute Star der Universität war Johann Christoph Sturm, Professor für Physik und Mathematik, der "Wiederhersteller der Naturwissenschaft in Deutschland". Er erkannte die Bedeutung des Experiments für den Unterricht. Sein "Collegium curiosum experimentale" (Nürnberg 1676 und 1685) ist das erste Lehrbuch dieser Ausrichtung in Deutschland. Sturms "eklektische" Physik versöhnte aristotelische und cartesianische Lehre. Er war der Ansicht, "daß alle Welterkenntnis zur Erkenntnis Gottes führe, daß diese Gotteserkenntnis den Endzweck aller Wissenschaft darstelle". Scheuchzer wurde von Sturm, dessen Lieblingsschüler er war, entscheidend geprägt.

Mit der Medizin stand es in Altdorf nicht so gut. Die Anatomie litt unter einem Mangel an Leichen fürs Sezieren. Scheuchzer schreibt einmal, er habe bis dato "nit mehr als ein Katz und zwei Kalberköpf dissecirt". Auch das Spital biete wenig für die medizinische Praxis, "da in demselben über goder 8 alte weiber nit sind". So legte Scheuchzer sein Studium auf breiterer Basis an und beschäftigte sich neben Medizin auch noch mit Botanik, Paläontologie, und Mathematik. Gerade die Paläontologie hatte es ihm angetan. Scheuchzer glaubte damals, bei Fossilien handele es sich um eine Art Auskristallisation aus dem Umgebungsgestein. Gerade die Idee einer möglichen Brücke zwischen anorganischem und organischem Reich faszinierte ihn.

Der Mittagstisch bei dem Orientalisten Johann Christoph Wagenseil mit seinen gelehrten Tischgesprächen diente ebenfalls dazu, den Horizont des jungen Studiosus zu erweitern, unvergessen die kluge Tochter Helena Sybilla, Mitglied der Akademie zu Padua.

Scheuchzers Züricher Verwandtschaft mißfiel der schleppende Fortgang in der Medizin. Sie befürchtete, ihr Schützling würde sich endlos verzetteln und drängte auf einen Universitätswechsel. So ging Scheuchzer denn im August 1693 nach Utrecht, und bereits Ende Januar 1694 wurde er dort zum Dr. med. promoviert.

Der Stellenmarkt in Zürich war eng. Es gab nur vier amtliche Medizinalstellen, und die Gründung einer Privatpraxis war kostspielig. Es hieß sich gedulden, bis ein Kollege durch Tod seine Stelle räumte. Da Scheuchzer nicht ohne Arbeit sein konnte, entwickelte er bald eine lebhafte und vielseitige Tätigkeit. Großen Anteil nahm er an der örtlichen Gesellschaft der Wohlgesinnten, einer 1679 erstmals gegründeten Akademie, in der sich die geistig interessierte Jugend zu freier Diskussion versammelte. Bisweilen wurden auch recht abgelegene Fragen angeschnitten, etwa, "woher der Herr Christ nach seiner Auferstehung Kleider genommen". Scheuchzer wirkte hier von 1697 bis 1709 als Schriftführer und hielt zahlreiche, vor allem paläontologische und mathematische Vorträge. Auf diese Weise konnte er sich in der Stadt als Wissenschaftler einen Namen machen und Schüler für seinen Privatunterricht gewinnen.

Im Frühjahr 1695 begab sich Scheuchzer noch für einige Zeit nach Nürnberg, um bei Georg Christoph Eimmart seine Kenntnisse in Astronomie und Mathematik zu vertiefen. Dieser besaß eines der schönsten Observatorien in Deutschland und ein von ihm selbst verfertigtes Modell des Kopernikanischen Systems. Er hatte eine hochgescheite Tochter, Maria Clara (1676 - 1707), die leider jung im Kindbett starb. Drei geistsprühende Briefe an Scheuchzer sind uns von ihr erhalten.

Am 14.12.1695 starb der Züricher Waisenhausarzt Johann Jakob Wagner, Verfasser einer ersten "Historia naturalis Helvetiae curiosa" (Zürich 1689). Scheuchzer kam dadurch in Amt und Würden, wenngleich das Gehalt noch bis Pfingsten 1696 an die Witwe Wagners floß. Diese Stellung ermöglichte ihm auch, einen eigenen Hausstand zu gründen. Am 9.11.1697 ehelichte er die um zwei Jahre ältere Susanna Vogel, Tochter des Ratsherrn und Wirtes "beim Hecht" Kaspar Vogel.

Zu Scheuchzers Amtsobliegenheiten gehörte auch die Sorge für die Bürgerbibliothek und die Kunst- und Naturalienkammer. Wie es seine Art war, ging er sofort mit Eifer an die Abfassung eines großen beschreibenden Katalogs der Naturalien. Diese Arbeit brachte ihn auf die Idee, sich auch der Kunstkammer Gottes zu widmen, wie sie in Form der Alpen und seiner Schweizer Heimat vor ihm lag. Er wollte dem Beispiel Wagners folgen und dessen Arbeit noch übertreffen. Er plante eine umfassende naturkundliche Beschreibung der Schweiz. Zu diesem Zweck unternahm er zwischen 1694 und 1714 in Begleitung von Schülern und Freunden zahllose Exkursionen in die Alpen.

Um die Erforschung der Alpenwelt auf eine breitere Basis zu stellen, verfaßte Scheuchzer 1697 einen detaillierten Fragenkatalog, die "Charta invitatoria". Gefragt wird hier etwa nach Temperatur, Wetter, Hagel, Schneefall, Mineralquellen, Pflanzen, Tieren, Fossilien usw. Er ließ diesen Katalog über Freunde breit streuen. Vor allem strebte er die Mitarbeit der Ärzte und Geistlichen auf dem Lande an. Die Resonanz war ernüchternd gering.

Scheuchzer war es sehr um die Hebung der allgemeinen Volksbildung zu tun. So veröffentlichte er seine schweizerischen naturkundlichen Forschungen 1705-1707 auch in der Form eines populär gehaltenen Wochenblattes, den "Seltsamen Naturgeschichten des Schweizer-Lands wochentliche Erzehlung". Hier steht auch der berühmte Artikel über das "Schweizer Heimweh oder die Nostalgia". Scheuchzer führt es auf den höheren Luftdruck im flacheren Ausland zurück! Die Beiträge wurden später unter dem Titel "Naturgeschichte des Schweizer-Lands" in drei Bänden zusammengefaßt..

Dem gleichen Ziel der Volksbildung diente seine "Physica, oder Natur-Wissenschaft", die erstmals 1701 erschien und bis 1743 weitere vier Auflagen erlebte. Es war das erste "Physik"- Lehrbuch in deutscher Sprache. Es wäre falsch, dies Werk an Newton messen zu wollen. Scheuchzer schrieb hier für Laien.

Ein wichtiges Thema bildeten weiterhin die Fossilien. Scheuchzer, der sich inzwischen auch die modernen Sprachen angeeignet hatte, kam nun durch die Lektüre von John Woodward's (1665-1728) "Essay toward a natural history of the earth and terrestrial bodies" (London 1695) zu der Erkenntnis, daß es sich bei Fossilien um Versteinerungen vorzeitlicher Pflanzen und Tiere handle.

Durch den Fund fossiler Meerestiere in den Alpen war natürlich sofort die Sintflutthematik angeschnitten, mit allen Implikationen vor allem für das Erdalter. Die Paläontologie sollte sich zum Sprengsatz für die biblische Schöpfungschronologie entwickeln. Scheuchzer brachte 1704 eine lateinische Übersetzung von Woodward's Schrift heraus, das "Specimen geographiae physicae". 1709 legte Scheuchzer sein berühmtes "Herbarium diluvianum" vor, das 1723 in wesentlich erweiterter Auflage erschien, mit 14 Kupferstichen.

Im Zuge seiner Alpenstudien entstand 1713 auch Scheuchzers Landkarte der Schweiz in 4 Blättern, die "Nova Helvetiae tabula geographica", die beste zu seiner Zeit. Auch an seiner Naturgeschichte der Schweiz arbeitete er weiter. Zwischen 1716 und 1718 erschienen 3 Bände, welche die Themen Gebirgskunde, Hydrographie, Meteorologie, Geologie und Paläontologie der Schweiz behandelten. Weitere Bände über die Pflanzen- und Tierwelt sowie eine Studie über die Bewohner der Schweiz, ihre Lebensart und ihre Krankheiten kamen nicht mehr zur Ausführung.

Scheuchzers Fähigkeiten blieben in der Welt der Wissenschaft nicht lange unbeachtet. Bereits 1697 wurde er in die Academia Caesarea-Leopoldina aufgenommen. Weitere Mitgliedschaften folgten (Berlin, London, Bologna; für Paris kam er seit der Hugenottenverfolgung als Protestant nicht mehr in Betracht). 1710 bot der russische Zar Peter der Große, auf Empfehlung von Leibniz, Scheuchzer gar die glänzend dotierte Stelle als Leibarzt an. Doch Scheuchzer wollte sich von seiner lieben Heimatstadt nicht trennen. Diese indes betrachtete ihren großen Sohn voller Mißtrauen. Er war zu umtriebig, brachte zu viele neue Gedanken, schuf unerwünschte Unruhe.

Scheuchzers Lebenswunsch war es, die Physikprofessur am Carolinum zu erhalten. Nach dem Tod des Pfarrers Johannes Herrliberger (1630-1709), der das Fach Mathematik bisher im Privatunterricht abgedeckt hatte, bekam Scheuchzer 1710 die Professur für Mathematik. Doch auch da wurde ihm untersagt, höhere Mathematik zu lehren, da man geistlicherseits in Sorge war, weiß Gott wohin das führen könne. Scheuchzers Antrittsvorlesung trug denn auch den bezeichnenden Titel: "De matheseos usu in theologia".

Die Geschichte ist oft nicht ohne Ironie. Im Januar 1733 wurde endlich die Physikprofessur durch den Tod von Johann von Muralt vakant. Er hatte das biblische Alter von 88 Jahren erreicht. Scheuchzer war endlich am Ziel. Im Juni desselben Jahres starb auch er.

Scheuchzer trug sich spätestens seit 1720 mit dem Gedanken an eine "Physica sacra", das heißt, eine Darstellung und Erklärung aller naturkundlichen Realien, die in der Bibel vorkommen. Als ersten Versuch bearbeitete er das Buch Hiob, in dem Werk "Jobi physica sacra, oder Hiobs Natur-Wissenschaft verglichen mit der heutigen" (Zürich 1721). Dieser Versuch sollte auch die Reaktion der Geistlichkeit testen. Die ließ nicht auf sich warten. Die Zensur verweigerte die Druckgenehmigung, falls er nicht die kopernikanische Lehre und andere Anstößigkeiten entfernte. Er mußte sich fügen. Doch der Erfolg beim Publikum ermutigte ihn, Hand an sein letztes und größtes Werk zu legen.

Die "Physica sacra" ist eine gigantische Leistung, allein schon physisch betrachtet. Sie ist ein Koloß von 4 Foliobänden, 2098 Seiten stark, mit 750 Kupfern. Scheuchzer faßte den Text lateinisch und deutsch ab. Der Pfarrer Johann Martin Müller brachte dabei Scheuchzers Schweizerdeutsch auf das Niveau der hochdeutschen Kanzleisprache. Die Vorlagen für die Kupferstiche zeichnete der Züricher Kunstmaler Johann Melchior Füßli. Nicht minder genial sind die von unerschöpflicher Erfindungskraft zeugenden allegorischen Bordüren des Nürnberger Künstlers Johann Daniel Preissler. Eine ganze Mannschaft von Kupferstechern übertrug die Zeichnungen auf die Druckplatten. Der berühmte Augsburger Johann Andreas Pfeffel in Augsburg übernahm den Verlag. Scheuchzer konnte noch das Manuskript abschließen, die Vollendung der Drucklegung erlebte er nicht mehr. Die lateinische und die deutsche Ausgabe erschien 1731-1735 in Augsburg. Wenig später folgten eine französische und eine holländische.

Scheuchzer, als Theologe nicht ausgewiesen, führt zu seiner Absicherung im Vorwort auf 30 Seiten nicht weniger als 287 Gewährsleute auf, darunter zahlreiche von der Kirche anerkannte Theologen. Jede Bibelstelle wird in der Lutherschen wie in der Züricher Übersetzung geboten. Von Pfarrer Miller stammt eine Unzahl einleitender, verbindender und zusammenfassender Verse, deren oft unfreiwillige Komik das Vergnügen des heutigen Lesers erhöht. Den Höhepunkt aber bilden natürlich die 750 großartigen Kupfer Füßlis. Die "Physica sacra" ist ein Meisterwerk barocker Buchkunst.

Zieht man in Betracht, daß Kopernikus' "De revolutionibus" bereits 1543 erschien, Newton's "Philosophiae naturalis principia mathematica" 1687, dann muß einem natürlich die Verfahrensart Scheuchzers, naturwissenschaftliche Wahrheit nur als Randverzierung zur Bibel zu verkündigen, als das bizarre Werk eines religiösen Phantasten, wenn auch ansonsten großen Naturforschers erscheinen. Andererseits liegt er durchaus auf einer Linie mit anderen Autoren, in deren Werken die "beste aller Welten" besungen wurde, denken wir nur an Brockes' "Irdisches Vergnügen in Gott" (9 Bände, 1721-1748) oder an van Swieten's Libretto zu Haydn's "Schöpfung" (1799). In neuerer Zeit, spätestens seit Voltaire's "Candide" (Genf 1759), ist man da häufig anderer Meinung.

Lassen wir das auf sich beruhen. Jedenfalls scheint uns der große Paläontologe Georges Cuvier (1769-1832) Scheuchzers "Physica sacra" am ehesten gerecht zu werden, wenn er sie wegen der zahlreichen Tier- und Fossiliendarstellungen als für den Zoologen unentbehrlich bezeichnet. Der gleiche Cuvier, der Scheuchzers "homo diluvii testis", von diesem für das Fossil eines vorsintflutlichen Menschen gehalten, als japanischen Riesensalamander identifizierte. Pietätvoll wurde er als "Andrias Scheuchzeri" klassifiziert. Und was fällt Pfarrer Miller dazu ein? "Betrübtes Bein-Gerüst von einem alten Sünder, Erweiche Stein und Hertz der neuen Boßheits-Kinder!" Damit sind auch wir gemeint! (Tafel XLIX).

Es ist unmöglich, in wenigen Worten die unvergleichliche Schönheit der Kupfer, ihren romantischen Reiz, ihre Naivetät, ihre Erzählfreude zu schildern. Ich nenne nur die physikalische Erklärung des Regenbogens nach der Sintflut, die Tafel mit den Schneeflocken und Eisblumen, das Dürersche Nashorn, das uns vor fast 200 Jahren schon bei Gessner begegnet ist, die 38 großartigen Schlangentafeln ... Wer sich näher interessiert, greife zur kommentierten Auswahlausgabe, Konstanz 1984, oder gleich zum Original selbst.

 

Schriften Scheuchzers

Bücher über Scheuchzer und zur Thematik

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