Michael Unger: Der Anatom Ferdinand Wagenseil (1887-1967)

Integrer Rassenforscher und Bewahrer der Medizinischen Fakultät Giessen

(Schmitz, Wilhelm: Aus der Reihe: Arb. z. Gesch. d. Med. in Giessen 24)

Gießen: Schmitz 1998, S. 156-159.

Kapitel XVII. Zusammenfassung

[S. 156] Ferdinand Wagenseil wurde am 7. September 1887 als erstes Kind einer wohlhabenden Augsburger Kaufmannsfamilie geboren. Finanzieller Reichtum war jedoch nicht das einzige, was seine Familie ihm bieten konnte, sondern schon mehrere Vorfahren hatten sich als Schriftsteller und Komponisten einen Namen gemacht. So fand sich auch bei später bei ihm und seinen Brüdern eine große Neigung zur Literatur, die seine Brüder als Schriftsteller und Übersetzer sogar professionell betrieben. Wagenseil übernahm nach dem frühen Tod des Vaters die Rolle des Familienoberhauptes und kümmerte sich stets um die Mutter [Malwine] und seine Brüder [Kurt und Hans B.], zu denen er ein inniges Verhältnis hatte. Von 1898-1907 durchlebte er eine spannungsreiche Schulzeit auf dem Theresien-Gymnasium in München, die er trotz langwieriger Gesundheitsprobleme mit dem Abitur abschließen konnte. Nahtlos erfolgte an den Universitäten München und Lausanne das Medizinstudium, welches er 1914 mit der Note 1,00 beendete. Während des Praktischen Jahres engagierte sich Wagenseil auf dem Präpariersaal der Anatomischen Anstalt bei Prof. Rückert, anschließend erfolgte die Anatomische Dissertation.

Im ersten Weltkrieg arbeitete Wagenseil als (Hilfs-) Assistent von November 1914 bis Mai 1915 in der Münchner Pathologie, wobei er umfangreiche Vertreterdienste in der Anatomie leistete. Diese Tätigkeit beendete der wehrdienstuntaugliche Wagenseil, um sich freiwillig dem Roten Kreuz anzuschließen, welches eine Expedition nach Konstantinopel schickte, wo dem kriegsverbündeten Osmanischen Reich sanitätsdienstliche Hilfe geleistet wurde. Diese quasimilitärische Organisation in der Türkei wurde von Dr. Zlocisti, einem engagierten Zionisten, geleitet. Unter dessen Anleitung beschäftigte sich Wagenseil mit verschiedenen anatomischen Fragestellungen (u.a. Anthropologie und Eunuchoidismus) und sammelte bis zum Februar 1919 außerordentlich viel Material, das er z.T. erst deutlich später veröffentlichte. Nach einer kurzen, aber mit umfangreicher praktischer Arbeit ausgefüllten Episode als Assistent an der Münchner Anatomie, beendigte Wagenseil seine dortige Tätigkeit im April 1920. In den folgenden 11 Monaten arbeitete er ausschließlich an der Auswertung seiner Anthropologischen Erhebungen über spaniolische Juden in der Türkei und die jüdische Rassenfrage [Seine Arbeit bestreitet die Rede von den Juden als einer Rasse; "Beiträge zur physischen Anthropologie der spaniolischen Juden und zur jüdischen Rassenfrage", in: "Zeitschrift für Morphologie und Anthropologie", Bd. 23,1, 1923/1925, S. 33-150, z.B. S. 33: "Oft hatte ich Schwierigkeiten zu überwinden, einmal weil meine Tätigkeit als ärztliche Assentierung und Aushebung für den Militärdienst beargwöhnt wurde und dann, weil ich als 'Goj' mit manchem Vorurteil zu kämpfen hatte"].

Seit April 1921 als Assistent bei Prof. Eugen Fischer, dem damals bedeutendsten Anthropologen und Rasseforscher, konnte sich Wagenseil am 22. März 1922 in Freiburg habilitieren und bekleidete dort die Position des 1. Prosektors. Schon im Oktober erhielt er den Ruf an die Deutsch-chinesische Tung-Chi Universität in Schanghai, wohin er im November 1922 abreiste.

In China angekommen, mußte Wagenseil jedoch feststellen, daß die dortige Universität ganz erheblich unter den Folgen des verlorenen 1. Weltkrieges zu leiden hatte, so war u.a. das Anatomische Institut an die französischen Kriegsgegner gefallen und stand damit nicht mehr zur Verfügung. Es folgten deshalb schwierige Aufbauarbeiten, die im Wintersemester 1924/25 einen wichtigen Teilerfolg erzielten, als das von

[S. 157] Wagenseil konzipierte, neu erbaute Anatomische Institut eröffnet wurde. Hier gelang es, gegen starke Widerstände, einen Anatomie- bzw. Präparierunterricht nach europäischem Muster zu etablieren. Dennoch blieb die Situation in Schanghai sehr unsicher, da in China ein erbitterter Bürgerkampf tobte, der die Erhaltung der chinesischen Staatsuniversität erheblich gefährdete, teils durch mangelnde finanzielle Unterstützung, teils durch direkte kriegerische Einwirkung. Das Jahr 1927 brachte jedoch eine entscheidende Wende für Wagenseil und die gesamte Tung-Chi Universität, da das deutsche Außenministerium die dortigen Wissenschaftler als wichtige Repräsentanten der deutschen Kultur im Ausland einstufte und großzügige finanzielle Unterstützung bewilligte. Dadurch wurde es Wagenseil möglich, Personal für die Anatomie einzustellen. D.h. bis dahin, also mehr als vier Jahre, war er völlig allein in der dortigen Anatomie, es fehlten sowohl Assistenten als auch Diener.

Erst ab 1927 konnte er deshalb darn gehen, wissenschaftliche Arbeiten vorzunehmen, zu denen es bis zu diesem Zeitpunkt keine Möglichkeit gegeben hatte. Im Feburar 1928 wurde ihm vom Badischen Kultusministerium die Amtsbezeichnung eines ausserordentlichen Professors verliehen. Diese Ehrung geschah ausdrücklich als Anerkennung für die außenpolitische Leistung Wagenseils, da dieser "auf einem schwierigen Posten das Deutschtum in einwandfreier Weise vertrat", was die geringe Anzahl seiner Veröffentlichungen seit der Habitilation kompensierte. Seine letzten Jahre in China, bis zum August 1931, verbrachte Wagenseil mit intensiver Forschung über Eunuchoidismus, Erbbiologie und Anthropologie, woraus sich bis 1936 neue Veröffentlichungen ergaben. Diese fanden in der Fachliteratur großes Interesse und wurden als "sehr wertvolle" und "wichtige" Arbeiten beschrieben.

Wagenseils Rückkehr nach Deutschland im Herbst 1931 bewahrte ihn davor, den Untergang des von ihm erbauten Anatomischen Instituts mitzuerleben, das 1932 in kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen China und Japan zerstört wurde. Vermutlich war seine Berufung als Oberassistent nach Bonn das Ergebnis politischer bzw. persönlicher Bemühungen von an Wagenseils Fortkommen interessierten Kräften in Berlin. So war Wagenseils Karriere in Deutschland nachweislich das Objekt der Anstrengungen des Auswärtigen Amtes, das versuchte, heimkehrenden Auslandsgelehrten eine adäquate Stellung zu verschaffen. Anderenfalls befürchtete man für die Zukunft einen Mangel an auslandswilligen Hochschullehrern, wenn diesen keine Perspektiven geboten werden könnten.

In Bonn beschäftigte sich Wagenseil vor allem mit der Verarbeitung der oben erwähnten Materialsammlung und deren Publikation. Zunehmend geriet er jedoch in das Spannungsfeld des Nationalsozialismus, da u.a. sein Bruder mehrfach vehaftet [1935 und 1939] und für längere Zeit ins Konzentrationslager Dachau eingeliefert wurde. In väterlicher Fürsorge kümmerte sich Wagenseil um den jüngsten Bruder und unternahm eine Vielzahl von Anstrengungen (Reisen nach England zur Erbittung von Beistand etc.), um diesen zu befreien. Nervlich und körperlich schwer unter diesen Bedrohungen leidend, wollte Wagenseil keine Rassenforschung mehr im nationalsozialistischen Deutschland durchführen. Er wechselte 1935 auf zellbiologische Fragestellungen und beschäftigte sich mit der Gewebezüchtung, wobei er u.a.

[S. 158] Explantationsversuche am Nebenhoden von Mäusen durchführte. Jedoch mußte Wagenseil selbst zunächst langwierig in dieses Arbeitsgebiet eingewiesen werden, was in den von Möllendorffschen Laboratorien geschah.

Wagenseil konnte also seinen wissenschaftlichen Rückstand bzgl. der Anzahl und der Qualität von Veröffentlichungen, sowie der Heranbildung von Schülern, nicht aufholen. Nach den sehr produktiven Jahren von 1927-1934 litt Wagenseil in starkem Maße unter der Terrorisierung seiner Familie, was im Zusammenhang mit dem erzwungenen Wechsel des Arbeitsgebietes seine Produktionskraft schwer schädigte. So erfolgte auch 1935 seine Beförderung zum Abteilungsvorsteher, d.h. Verbeamtung und Ernennung zum ordentlichen Professor, vor allem als Anerkennung für seine aufopfernde Arbeit im Ausland und es erschien als eine "Ehrenpflicht", ihm eine beamtete Stelle zu übertragen.

Der Beginn des 2. Weltkrieges brachte auch für Wagenseil große Veränderungen, so mußte er trotz Widerwillens ab April 1940 vertretungsweise die Leitung der Giessener Anatomie übernehmen, ab August 1940 wurde er planmäßig auf diesen Posten berufen. In Giessen fand er ein völlig veraltetes Institut vor, welches durch den Kriegsbeginn noch mehr gelitten hatte, da es als Lazarett bzw. Verpflegestation für Durchreisende zweckentfremdet worden war. Außerdem war das gesamte Präpariermaterial an noch arbeitende Anatomien wegegeben worden, weshalb Wagenseil bis zum Sommer 1941 allein die Anatomie in Giessen vertreten mußte. In den folgenden Jahren war es genötigt, mit einer dünnen Personaldecke eine beständig ansteigende Studentenzahl auszubilden. Unter diesen Bedingungen, die ihn immer wieder an die Grenzen seiner Belastbarkeit führten, blieben Wagenseils Reformgedanken für den Anatomischen Unterricht nicht durchführbar, auch für wissenschaftliche Arbeit blieb keine Zeit. Wagenseil gelang es jedoch, vielen politisch verfolgten Studenten und Ärzten Unterstützung zu gewähren. Er selbst war einer der wenigen Professoren Giessens, die nicht der NSDAP beitraten. Im Dezember 1944 zerstörte ein Bombenangriff das Institut in der Bahnhofstrasse zu 90%, wobei es jedoch gelang, die Ausstattung zu retten. Bis zum Einmarsch der Amerikaner im März 1945 wurde provisorisch in der Heil- und Pflegeanstalt (Licherstrasse) weiter gearbeitet. Danach existierte bis zum Herbst 1949 keine offizielle Anatomie mehr in Giessen. Wagenseil übernahm im Juli 1945 das Dekanat der Medizinischen Fakultät, jedoch wurde diese zur selben Zeit offiziell durch die Landesregierung geschlossen. Deshalb mußte er bis zum Ende seiner Dekanatszeit beständig für den Wiederaufbau der Medizinischen Fakultät kämpfen. Gegen den Widerstand der Amerikanischen Besatzungsmacht und des Hessischen Finanzministeriums gelang es ihm, als Interimslösung, im September 1950 eine Medizinische Akademie für Forschung und Fortbildung zu etablieren. Dabei war es u.a. ein wichtiger persönlicher Teilerfolg Wagenseils, daß es ihm gelang, gegen die Marburger Konkurrenz, die Max-Planck-Institute für Neuroanatomie imd Neuropathologie (Professoren Spatz und Hallervorden) nach Giessen zu ziehen. Im Rahmen dieser Bemühungen

[S. 159] mußte Wagenseil seine Aufgabe als Anatom ganz bewußt hinter die Interessen der Fakultät zurückstellen. So gelang es erst 1949/50, in der Friedrichstrasse ein neues Anatomisches Institut zu etablieren und entsprechendes wissenschaftliches Personal (u.a. Prof. Tonutti) zu rekrutieren.

Nach seiner Emeritierung hatte Wagenseil endlich wieder genügend Zeit für seine wissenschaftlichen Interessen. So erfolgten mehrere Ostasienreisen, wo er Erhebungen für seine bedeutendste anthropologische Arbeit, wahrscheinlich für seine wichtigste Schrift überhaupt durchführte. "Die rassengemischte Bevölkerung der Bonin-Inseln" wurde von seinen Fachkollegen als eine der klassischen Monographien der Humangenetik bezeichnet und erhielt mehrfach das Prädikat "besonders wertvoll". Bis zu seinem Tod 1967 folgten noch eine Vielzahl kunstgeschichtlicher und medizinhistorischer Veröffentlichungen, die Wagenseil ebenfalls zu ausgedehnten Recherchen durch ganz Europa führten.

Ferdinand Wagenseil wurde 1957 zum Ehrensenator der Justus-Liebig-Universität ernannt, 1963 erhielt er das große Verdienstkreuz des Verdienstordens der Bundesrepublik. Damit wurde ihm noch zu Lebzeiten eine Anerkennung für seine Aufbauarbeit zuteil. Es ist interessant festzustellen, daß die Person Wagenseil auch schon früher inspirierend auf ihre Umgebung gewirkt hat. so wurde Dr. Gerhard Vescovi, Medizinstudent in Giessen 1943/44, dazu angeregt, Wagenseils Lebensgeschichte romanhaft verfremdet nachzuerzählen (Vescovi, Gerhardt: Das Herz sieht anders aus. Leben und Aufzeichnungen des Anatomen Eduard Siebenrock, Stuttgart 1979). Die Einmaligkeit seiner Biographie und seines Wirkens, seinen besonderen Charakter und vor allem sein hohes Maß an Integrität darzustellen, war das Ziel dieser Arbeit. Ebenfalls in der heutigen Zeit kann sein Beispiel zu der seltenen Kombination von Individualität, Aufrichtigkeit und Engagement ermutigen.

Michael Unger: "Der Anatom Ferdinand Wagenseil (1887-1967). Integrer Rassenforscher und Bewahrer der Medizinischen Fakultät Giessen", hrsg. von Wilhelm Schmitz, Reihe "Arbeiten zur Geschichte der Medizin in Giessen", Band 24, Gießen: Schmitz 1998, S. 156-159.

Ferdinand Wagenseil

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