Uhura Message 3
1998
Hallo Reinhold!
Wie geht's denn so? Mir geht's ganz gut, ich schlage mich durch
und mache mir so meine Gedanken. Gerade in letzter Zeit habe
ich wieder einmal darüber nachgedacht, wie die verschiedenen
Abschnitte in meinem Leben sich zueinander verhalten.
Es gab früher eine Zeit, da ist mir hier alles zu klein
und zu eng geworden, und ich hatte das Gefühl, ich müsse
hinaus in die weite oder große Welt, um das wirkliche Leben
zu erleben.
Nachdem ich mir von meiner Abstammung her und in der Folge bestimmter
Erlebnisse hierzulande mehr Hindernisse als Vorteile erwartete,
bin ich weggegangen.
Aber erst seit ich zurück bin, haben die wahren Erlebnisse,
die atemberaubenden Abenteuer, die unerwarteten Begegnungen angefangen,
in den letzten Jahren hat sich in meinem Leben mehr ereignet
als in den Jahrzehnten davor, in denen ich auf der Suche nach
Selbstverwirklichung war, während mein Leben seinen ureigensten
Lauf nahm und, wie es scheint, nicht viel Einfluß meinerseits
zuließ.
Ich habe nun einige von meinen Erlebnissen der letzten Jahre
aufgezeichnet, und wenn Du willst, kannst Du sie in Deiner Fanzine
"Uhura" abdrucken.
Es wäre mir ganz recht, wenn auf diesem Wege vielleicht
einige Leute, die mich früher gekannt haben, sehen, wie
es mir in der Zwischenzeit ergangen ist, und ich denke auch,
daß meine Erzählungen für manchen Leser ein Denkanstoß
in die Richtung sein können, daßdas Gute, das Abenteuerliche,
das Bewegende in unserem Leben nicht unbedingt in der Ferne zu
suchen sind, sondern daß bemerkenswerte Situationen genausogut
hier bei uns im Lande oder in der Provinz, wie es heute oft heißt,
sich ergeben können.
Nun, ich weiß zwar, daß meine Erzählungen eigentlich
nicht in Deine Fanzine gehören, da es sich bei diesen nicht
um die Fiction handelt, die Du auf das Banner Deines Blattes
geschrieben hast. Es sind allesamt Aufzeichnungen aus meinen
Tagen hier im Lande, was ich bei der Arbeit und in der Freizeit
erlebt und beobachtet habe.
Ich habe allerdings versucht, meine Aufzeichnungen flüssig
und leicht leserlich zu gestalten, so daß sie sich der
eine oder andere Leser Deiner Fanzine vielleicht ganz gerne zur
Unterhaltung anschauen wird, auch wenn sie nicht Fiction sind.
Neumarkt, 12. Dezember1998
Anmerkung der
Redaktion:
Begleitbrief zu den Geschichten
Der Maschinenbauer von Terlan
Der
Weinsurfer von Pinzon
Der
Kartenspieler von Gmund
Der Höhlentaucher
vom Karer See
|
Während meiner Arbeit als Holzfäller
in Aldein begegnete ich einem jungen Kerl aus Montiggl, der den
ganzen Tag über plauderte, Witze machte und überhaupt
ein starkes Bedürfnis zu haben schien, sich bei jeder Gelegenheit
durch Reden von dem abzulenken, was gerade die Situation war.
Meinem Naturell lief dieses Verhalten extrem zuwider, und ich
versuchte anfangs, dem Burschen zu verstehen zu geben, daß
er durch sein Verhalten sich und seine Kollegen bei der schwierigen
Arbeit in Gefahr bringen konnte. Ich hatte nebenbei den Eindruck,
daß er trotz allem lustigen Gehabe nicht eigentlich fröhlich
und gelassen war. Es half aber alles Zureden nichts, andererseits
machte der Junge seine Arbeit sehr sicher. Er hantierte mit der
großen Stihl-Motorsäge mit dem 50er Schwert wie mit
einer kleinen Gartensäge, es ging ihm alles locker von der
Hand, und in jedem Moment, der nicht von Motorenlärm erfüllt
war, ging sein Mundwerk ungebremst dahin. Ich wurde richtig zornig,
und eines Tages im Wald ober Radein ging ich ihn beim Halbmittag
direkt an. Ich fragte ihn einfach, ob er ein Problem habe, daß
er in einem fort reden müsse, ob er in der Nacht auch und
vielleicht mit seiner Alten im Bett auch noch jede freie Minute
redete. Ich war richtig zum Streiten aufgelegt. Er schaute mich
an und sagte tatsächlich einen langen Augenblick lang nichts.
Er biß ein Stück von seinem Speckbrot ab und kaute
den Bissen ein paarmal durch, dann fragte er mich:
- Hast du Lust, mit mir tauchen zu gehen?
Jetzt war ich sprachlos, und ich ließ ihn die nächste
Zeit über in Ruhe. Es kam schließlich so weit, daß
ich durch Franz, so der Name des Burschen, zum Sporttauchen kam.
Die Ausrüstung konnte ich mir von einem seiner Freunde,
der nicht mehr aktiv war, ausleihen, und nach den ersten Schritten
im Schwimmbad von Neumarkt gingen wirr zusammen in die Südtiroler
und Trentiner Seen. Franz war unterwegs immer und überall
gleich gesprächig wie gehabt. Seine bevorzugten Themen waren
Erzählungen von den Feierabendtouren, Geschichten aus seinem
Dorf, abgewechselt mit Witzen über Politik und Geistlichkeit,
auch die Frauen bekamen ihr Teil ab. Erst in dem Moment, wo er
sich die Maske aufsetzte und unter Wasser verschwand, war Ruhe,
und ich merkte, daß auch für mich Ruhe einkehrte:
meine Lust und der Antrieb zu kritisieren und zu kommentieren
waren gleichfalls dahin, und ich gab mich ganz dem Element hin:
treiben, schweben, sinken, steigen, beobachten, alles geleitet
von wenigen Gesten und einem völligen Einverständnis.
Ich verstand die Botschaft, und das hektische Leben an der Oberfläche
machte mir immer weniger aus. Ich konnte bloß nicht verstehen,
warum die ruhige Lehre des Wassers bei Franz nicht dazu führte,
seine, in Worten ausgedrückte Unruhe zu mindern, sobald
er wieder oben war.
An einem Tage im August fuhren wir zum Karer See. Der See war
wie üblich zu dieser Zeit kaum halbvoll. Wie jedes Jahr
war der Wasserspiegel nach dem Höchststand zu Ende der Schneeschmelze
kontinuierlich abgesunken und hatte sich auf den Bereich links
des trennenden Dammes zurückgezogen. Wir stiegen inmitten
der badenden Nixen und Molche ins Wasser und begannen unseren
Unterwasserrundgang. Wir hatten vor unserer Tauchsession über
das mysteriöse Verschwinden des Wassers aus dem See gesprochen,
auch über den Versuch, der vor einigen Jahren gemacht worden
war, mit einer farbigen, ökologischen unbedenklichen Flüssigkeit
das Verbleiben des Wasser herauszufinden, wobei aber im Wasserlauf
unterhalb des Sees nichts herausgekommen war. Der Verbleib des
Wassers blieb ein Rätsel. Es reizte mich demnach, bei unserem
Tauchgang diesbezüglich etwas herauszufinden.
Augenscheinlich besteht der obere Rand des Sees aus Ablagerungen
schwarzer Steine, weiter unten findet man eine lehmige Schicht.
Es schien mir festzustehen, daß durch diese kein Wasser
abfließen konnte, und ich konzentrierte mich also auf den
einen Meter breiten Rand aus schwarzen Steinen, der noch unter
Wasser war. Franz kümmerte sich nicht um meine Suche, er
schaute sich die Fische an. Ich konnte nichts entdecken, was
auf eine noch so feine Abströmung hingewiesen hätte,
keine Unregelmäßigkeit in der Schichtung der Steine,
keinen Hinweis auf eine gerade aktive oder eine vorausgegangene
Bewegung an irgendeiner Stelle. Ich wollte schon innerlich und
äußerlich lostoben, wie immer wenn mir vorkommt, ich
werde an einer Sache gehindert, von deren Realisierung ich bereits
überzeugt war, aber ich war ja unter Wasser. Ich konzentrierte
mich auf meine Atmung und beruhigte mich, schwamm am Rand des
Sees entlang und versuchte zu ergründen, warum ich eigentlich
zu dieser Suche gekommen war. Aber wie seit Beginn meiner Tauchertätigkeit
festgestellt, schwiegen unter Wasser nicht nur die lauten und
geschäftigen Worte, die außen herumhüpfen, kaum
daß wir einem Menschen begegnen, es bildete sich nur ein
inneres Verhältnis zum Volumen, in dem ich mich bewegte.
Seine festen und seine beweglichen Gestaltungselemente wie Steine,
Gewächse und Fische, waren nichts mehr als wechselnde Anhaltspunkte
oder Bewegungsanreize. Ich studierte nichts, ich beobachtete
nichts. Ich kannte keine Fischart beim Namen. Aber es interessierte
mich, wo das Wasser hinging. Da ich nun alle Anstrengung fahren
ließ und auch keinen Ärger mehr aufkommen ließ,
kam mir ein Gefühl, das ich so beschreiben kann:
Ich bin im Wasser, das Wasser geht irgendwo hin. Wenn ich nichts
dagegen habe, wohin es geht, brauche ich ihm nur nachzugehen.
Ich hatte die Bereitschaft, aber glaube mir, es war keine Überlegung
dabei, ich hatte keine Worte für diese Entscheidung. Ich
schwamm in Richtung Ufer, räumte ein paar von den schwarzen
Steinen beiseite und spürte, wie es weiterging, wie es hineinging,
einen Moment lang schien mir, als ob es schneller gehe, wie in
einem Sog, ich bekam einen Schub von hinten, dann schwamm ich
mit gleicher Bewegung und gleichem Tempo weiter wie kurz vorher
im See, bloß war ich jetzt in einer Art Tunnel und es ging
abwärts, in einem Winkel von ca. 45°. Das Wasser hatte
dieselbe türkisblaue Helligkeit wie in drei Meter Seetiefe,
das kam mir schon seltsam vor, beflügelte mich aber, ich
fühlte mich in der Lage, weiterzuschwimmen, zumal ich auch
an dem Tunnel keine Seitenarme entdeckte, in denen ich mich auf
dem Rückweg hätte verirren können. Ich kontrollierte
in Minutenabständen meine Sauerstoffreserven und versuchte
meine Bedürfnis nach Freiraum nicht überhand nehmen
zu lassen, der Tunnel schien zwar gerade breit genug für
eine Wende zu sein, aber um ganz sicher zu gehen, hätte
ich einen Versuch unternehmen müssen und vielleicht hätte
ich zum Wenden die Sauerstoffflasche vom Rücken nehmen müssen,
das alles hätte Zeit gekostet. Ich rechnete bald mit einer
Öffnung in ein großes Becken, in eine Höhle.
Aber was ich nach ein paar weiteren Minuten erlebte, damit hätte
ich nicht gerechnet. Der Tunnel, konstant nach unten geneigt,
war zu Ende, ich blickte nach vorn, nach unten, was ich sah,
ließ mich im Schwimmen innehalten - so trieb ich langsam
nach unten. Ich kam mir vor wie ein Hängegleiter, der vom
Tschafun ins Tal herunterschwebt: Ich sah die Häuser von
Atzwang und von Blumau, die stillgelegten Eisenbahnschienen,
den Eisack, es bewegte sich auch Leben zwischen den Gebäuden,
von einem Handwerksbetrieb jenseits des Flusses stieg sogar eine
Rauchsäule - in den Himmel hätte ich beinahe gesagt,
wenn es nicht daßelbe Wasser gewesen wäre, in dem
ich seit einer Stunde schwamm, durch das der Rauch aufstieg.
Ich sank unbemerkt ab bis auf den Boden und, als ich sah, daß
sich dort Menschen ohne Atemgeräte aufhielten, legte ich
meine Ausrüstung ab und versteckte sie hinter einem Busch,
ich konnte tatsächlich auch atmen. Ich ging durch den Ort
Atzwang und sah, wie sich das Leben ganz normal abspielte, bloß
die Kleider und die Fahrzeuge sahen etwas ungewohnt aus. Sie
waren nicht modern und nicht historisch, eigenartig und nicht
leicht zu beschreiben. Ich fiel in meinem Taucheranzug nicht
auf, jedenfalls schien niemand von mir Notiz zu nehmen. Auf den
Straßen gab es Pferdefuhrwerke ebenso wie Autos, bloß
schauten auch diese anders aus, sowohl als unsere modernen als
auch die historischen Gefährte. Allerdings sah ich keine
Autobahn. Ich stieg in den Zug, fuhr aber nur bis Blumau. Dort
ging ich in eine Gaststätte, um zu probieren, wie ein Bier
unter Wasser schmeckt. Dort lernte ich ein Mädchen kennen,
sonderbar und wunderbar wie die ganze Unterwasserwelt, in der
ich mich bewegte. Das Mädchen war gerade beim Gehen, ließ
sich aber einladen, mit mir etwas zu trinken. Sie hatte schwarze
Haare und dunkle Augen, die aber hell leuchteten. Sie hieß
Karina und sagte, das sei bosnisch. Sie erbot sich von sich aus,
mich eine Weile zu begleiten.
Sie führte mich als erstes an einem Haus in Atzwang vorbei,
in dem ein Schriftsteller wohnte, ich sah, wie er gerade im seidenen
Morgenrock vor das Haus trat, um den Postboten zu begrüßen,
der mit seinem schweren Waffenrad in den Hof fuhr. In den Augen
und in der Haltung des Schriftstellers sah ich satte Behäbigkeit,
die Hände in die kurzen Taschen des Morgenrocks gesteckt,
wartete er auf den Stufen vor seiner Haustüre, bis der Postbote
zu ihm heraufkam und ihm eine Postanweisung überreichte,
die er auf einem kleinen Tischen quittierte. Nach einem jovialen
Gruß und einem kurzen Blick aufs Wetter zog sich der Schriftsteller
in sein Haus zurück.
Wir fuhren anschließend im Zug nach Bozen. Nachdenklich
schaute ich auf den Eisack hinaus. Ich saß in meinem schwarzen
Kostüm auf dem Sitz, mir gegenüber ein hübsches
Mädchen, das mich freundlich anlächelte, alles war
so normal und doch so sonderbar. Es war so wie immer, die gewohnte
Umgebung, das vertraute Land, bloß war alles unter Wasser.
Als der Zug aus dem Eisacktal herausfuhr, fragte ich Karina:
- Wer seid ihr hier in diesem Land?
Sie schaute mir in die Augen, und ihr Lächeln schien mir
den Ausdruck gelassener Wehmut anzunehmen, dann sagte sie fest
und ruhig:
- Wir sind die versunkenen Träume dieses Landes.
In Bozen angekommen stiegen wir nach Meran um. Dort wohnte Karina.
Wir schlenderten in der Stadt herum, dann nahmen wir ein droschkenähnliches
Gefährt mit Gummirädern und fuhren nach Marling. Dort
zeigte Karina über einen Gartenzaun Kartenspieler beim Perloggn.
Einer von den Männern glich aufs Haar dem Kaiser Franz Joseph.
Ich musste ein paarmal hinschauen.
- Ist er's, ist er's nicht?
Karina erklärte mir: Er ist es nicht, dieser Mann gehört
einer Familie von Träumen an, deren erste Nachkommen seit
Generationen aufs Haar seinem Vater gleichen.
Ich fragte sie:
- Ist es die Familie des Kaisers, ein Habsburger?
- Nein Baron, vergiß nicht, wir sind Träume.
Anschließend lud mich Karina bei sich in Obermais zu einem
Kaffee ein, zu einem heißgesottenen schwarzen bosnischen
Kaffee im Bronzehäfchen, schwarz und pulvrig. Beim Kaffee
redete sie nicht viel und schlürfte nur versonnen und genießerisch
die heiße Brühe. Ich tat es ihr gleich und fühlte
mich wie ein Teil eines jener seltenen Träume, bei denen
man sich rundherum wohl und aufgehoben fühlt und eine stille
Hoffnung hegt, es sei vielleicht doch kein Traum.
Schließlich fragte ich sie, was wir als nächstes anschauen
würden. Sie sagte:
- Wir gehen nur einfach so zwischen den Dörfern herum.
So sah ich in Terlan den Bäcker, der die singenden Engel
aus Fochazteig verkaufte, pausbäckig standen sie im Schaufenster
und sangen die schönsten Choräle. Ich konnte Trapezkünstler
bewundern, die auf einem Seil turnten, das bei Salurn zwischen
Geier und Giggeregg gespannt war. Wir gingen in Branzoll in eine
Fabrik, wo Krawatten eigens für Ozeankapitäne und Piloten
hergestellt wurden. Ich sah wunderbare Gartenanlagen an den östlichen
Hängen der Brantentalmündung. Im Pustertal sah ich
auf den Wiesen riesige Kühe, so groß wie kleine Elefanten,
mit Eutern so groß wie Bierfässer: Bei Bruneck sah
ich eine große Stadt aus schweren aber kunstvoll gezimmerten
Holzhäusern mit bis zu fünf Stockwerken, für unsere
gewohnten Verhältnisse allerdings sehr karg geschmückt.
Überall standen Menschen beieinander und schauten einmütig
in den Tag. Es war eine friedliche Welt, obwohl mir der Blick
manches Einwohners oder besser gesagt Traumes eine recht entschlossene
Miene verriet. Dorf für Dorf traf ich auf Bauten, Situationen
und Verhältnisse, die mich erstaunten und beeindruckten.
Karina führte mich auch zu dem Spiegelbaumeister auf den
Schlern. Schon von Völs aus sah man große Lichtreflexe
vom Gipfel her aufblitzen, und ich wunderte mich sehr. Oben angekommen,
sahen wir einen Bauplatz mit riesigen Gerüsten, von denen
sechs fertig und zwei im Bau waren. Auf den fertigen Gerüsten
waren riesige, haushohe Spiegel angebracht, die in alle Himmelsrichtungen
und zugleich in einem geometrischen System zueinander schauten.
Der Mann, denn wir kennenlernten, wollte eine Station bauen,
in der sich von jedem Punkt im Lande aus in jedem Moment jeder
zusammen mit allen anderen im Spiegel betrachten konnte.
Karina wollte mich unter dem Hochplateau auch zu dem Mann mit
den tausend Hunden führen, aber ich war müde und wollte
hinunter ins Tal. Es wurde dunkel im Land, und wir fuhren wieder
im Zug mach Meran. Ich konnte bei Karina übernachten. Sie
kochte mir einen Pfannkuchen, dazu gab es Schafskäse aus
den Abruzzen und scharfes Sauerkraut und roten Wein aus Moldawien.
Anschließend gab es Kaffee, und wir unterhielten uns. Ich
wollte alles wissen über das Leben der versunkenen Träume.
- Wer hat euch denn geträumt?
Ihr seid die Nachkommen von denen, die uns geträumt haben,
manche von uns stammen auch von euch. Die neuen Träume,
die versinken, kommen zu den alten hinzu. Sie verstehen sich
manchmal gut, manchmal nicht so besonders, es kommt auch zu großen
Konflikten.
Dann bekämpfen sich die Träume, bis das Wasser durch
und durch trüb wird, man meint oft sogar, es wäre rot
vom Blut der Träume. Dann ebben die Kämpfe wieder ab
- aber manch einen Traum gibt es dann nicht mehr - er lebt danach
nur mehr als Erinnerung. Das Wasser ist dann klar und durchsichtig,
wie du es vorgefunden hast, als du zu uns herunter gekommen bist,
klar und wunderbar zum Leben, für unser langes Leben der
versunkenen Träume.
Die Träume heiraten auch, bekommen Kinder, werden krank
und wieder gesund, sterben am Ende ihres Lebens, manche sterben
natürlich, ohne Kinder bekommen zu haben, diese Linie hört
dann auf.
- Wer hat denn dich geträumt?
- Ich bin die Nachkommin einer Linie, die von den Träumen
eines bosniakischen Soldaten ausgeht, der sich hier im Lande
aufgehalten hat. Wir sind zusammengesetzt aus den verschiedensten
Herkünften, aber die meiste Zeit leben wir recht verträglich
miteinander, wie du gesehen hast.
- Gibt es auch Alpträume unter euch, oder einfach wilde
Träume?
Karina schaute mich an, mit dem Ausdruck von jemandem, der prüfen
will, ob er ein Gegenüber hat, mit dem man, ernste Sachen
reden kann.
- Du hast wahrscheinlich gemerkt, daß es hier bei uns recht
kühl für die Jahreszeit wird. Morgen werden wir einen
Ausflug machen, bei dem ich dir etwas zu deiner Frage zeigen
werde. Lassen wir den Abend schön ausklingen.
Ich sagte Karina, daß ich am nächsten Tag wieder zurück
in den See und an die Oberfläche wolle, wir plauderten noch
eine Weile, ich schaute in die funkelnden Augen des Mädchens
und versank schließlich für diese Nacht im nie endenden
Traum eines Traumes.
Am nächsten Tag führte mich Karina auf eine Anhöhe
zwischen Kollmann und Klausen und zeigte mir einen riesigen Käfig,
der aus armdicken Eisenstangen gebaut war, die mehrere Meter
tief in Stein und Beton verankert waren. Der Käfig war größer
als ein Kondominium, und die Eisenstangen liefen oben zusammen
wie ein Dach. Er war leer.
- In diesem Käfig war das Tier eingesperrt. Jahraus jahrein
war es hier drin, und es war schon seit jeher drin. Man ging
oft hierher, das Tier anzuschauen, manche nur einmal, manche
öfter. Ganze Gruppen gingen es anschauen. Mütter zeigten
es ihren Kindern, jeder wollte es einmal gesehen haben. Das Wasser
um den Käfig herum war immer aufgewühlt und trüb,
es war ziemlich warm, in der Nähe des Käfigs brodelte
es oft. Es gab die verschiedensten Schilderungen von dem Tier.
Manche wollten es nur undeutlich gesehen haben, einige behaupteten,
es ganz klar und scharf gesehen zu haben. Es war zottig und schwarz,
muskulös oder sehnig, gebückt oder aufrecht, je nach
Schilderung.
Eines Tages oder eines Nachts hat jemand die Tür des Käfigs
geöffnet, und seitdem ist das Tier weg, niemand weiß,
wo es hin ist. Am Anfang herrschte eine ziemliche Aufregung,
und es entstand eine rege Diskussion über die Gründe
des Verschwindens, den Verbleib des Tiers und die möglichen
Folgen seines Verschwindens. Dann flaute die Aufregung langsam
ab, und man begann weniger über den leeren Käfig zu
reden. Schließlich wurde bemerkt, daß das Wasser,
in dem wir leben, langsam kälter und kälter wird. Es
handelt sich nur um wenige Zehntel Grad pro Jahr, aber mit der
Zeit wird es merklich kühler.
Wir hielten uns noch eine Weile an der Stelle auf und gingen,
jeder für sich, auf der Anhöhe herum. Ich dachte nach,
dann trat ich an Karina heran und sagte:
- Komm doch mit mir nach oben, und wer von deinen Leuten Lust
hat, soll auch mitkommen; ihr wäret eine große Bereicherung
für unser Leben.
Karina schaute mich nicht an, als sie antwortete.
- Das geht nicht. Wir können nur im Wasser leben, oben würden
wir aufhören zu existieren. Jeder Traum hat seine Existenz
nur im Zusammenhang mit den wirklichen Verhältnissen, und
diese sind uns abhanden gekommen. Das Wasser ist unsere einzige
Verbindung zu dem Leben oben. Solange von oben regelmäßig
genügend Wasser nachkommt, ist unser Lebensraum gesichert.
Wir haben hier herunten unser eigenes Leben, wir wissen auch,
daß es nichts mit dem Leben zu tun hat, das ihr oben führt.
Wir kennen auch die neuen Träume nicht, und wir wissen nicht,
ob sie uns kennen; manchmal haben wir eine Sehnsucht, sie kennenzulernen,
bevor sie zu uns herabsinken, wie ich dir erzählt habe.
- Aber gibt es nicht doch irgendeine Möglichkeit für
euch, nach oben zu kommen?
- Eine Möglichkeit gäbe es schon, und bei diesen Worten
schaute mir Karina fest in die Augen.
Du hast bemerkt, daß du hier nicht rauchen kannst, obwohl
wir Feuer haben. Wenn ihr oben alle mit dem Zigarettenrauchen
aufhört, können wir mit der Zeit vielleicht wieder
bei euch existieren.
- Aber was hat das mit dem Zigarettenrauchen zu tun?
- Das kommt ihr drauf, wenn ihr es läßt.
Ich wußte nicht mehr was sagen. Wir stiegen ins Tal hinunter
und gingen talabwärts, bis wir an die Stelle kamen, wo ich
mein Atemgerät versteckt hatte. Bevor ich meine Sachen hervorholte,
wandte ich mich an Karina, um etwas zu sagen, sie hob aber nur
die Hand zum Gruß und sagte:
- Denk manchmal an uns.
Ich legte meine Ausrüstung an und mit wenigen Flossenstößen
trieb ich stetig nach oben, hatte bald den Tunneleingang gefunden,
und nach wenigen Minuten war ich wieder im Karer See.
Franz wartetet am Ufer auf mich und begann gerade, sich Sorgen
zu machen. Das äußerte sich bei ihm, daß er
entgegen seinen sonstigen Gewohnheiten nicht viel redete. Ich
rauchte diesmal nicht, als ich aus dem Wasser stieg und mich
auszog.
Auf der Heimfahrt verspürte ich ein paarmal eine wachsende
Lust und ein Bedürfnis, Franz von meinem Erlebnis zu erzählen.
Ich hielt mich aber jedesmal zurück und verspürte dabei,
wie meine Anspannung wuchs. Schließlich zündetet ich
mir eine Zigarette an und blies den Rauch in rasch verwehenden
Fahnen zum offenen Wagenfenster hinaus.
Dabei dachte ich an Karina, an das verschwundene Tier und an
all die versunkenen Träume in ihrer kälter werdenden
Wasserwelt.
(1998)
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