Uhura Message 3
1998
Hallo Reinhold!
Wie geht's denn so? Mir geht's ganz gut, ich schlage mich durch
und mache mir so meine Gedanken. Gerade in letzter Zeit habe
ich wieder einmal darüber nachgedacht, wie die verschiedenen
Abschnitte in meinem Leben sich zueinander verhalten.
Es gab früher eine Zeit, da ist mir hier alles zu klein
und zu eng geworden, und ich hatte das Gefühl, ich müsse
hinaus in die weite oder große Welt, um das wirkliche Leben
zu erleben.
Nachdem ich mir von meiner Abstammung her und in der Folge bestimmter
Erlebnisse hierzulande mehr Hindernisse als Vorteile erwartete,
bin ich weggegangen.
Aber erst seit ich zurück bin, haben die wahren Erlebnisse,
die atemberaubenden Abenteuer, die unerwarteten Begegnungen angefangen,
in den letzten Jahren hat sich in meinem Leben mehr ereignet
als in den Jahrzehnten davor, in denen ich auf der Suche nach
Selbstverwirklichung war, während mein Leben seinen ureigensten
Lauf nahm und, wie es scheint, nicht viel Einfluß meinerseits
zuließ.
Ich habe nun einige von meinen Erlebnissen der letzten Jahre
aufgezeichnet, und wenn Du willst, kannst Du sie in Deiner Fanzine
"Uhura" abdrucken.
Es wäre mir ganz recht, wenn auf diesem Wege vielleicht
einige Leute, die mich früher gekannt haben, sehen, wie
es mir in der Zwischenzeit ergangen ist, und ich denke auch,
daß meine Erzählungen für manchen Leser ein Denkanstoß
in die Richtung sein können, daßdas Gute, das Abenteuerliche,
das Bewegende in unserem Leben nicht unbedingt in der Ferne zu
suchen sind, sondern daß bemerkenswerte Situationen genausogut
hier bei uns im Lande oder in der Provinz, wie es heute oft heißt,
sich ergeben können.
Nun, ich weiß zwar, daß meine Erzählungen eigentlich
nicht in Deine Fanzine gehören, da es sich bei diesen nicht
um die Fiction handelt, die Du auf das Banner Deines Blattes
geschrieben hast. Es sind allesamt Aufzeichnungen aus meinen
Tagen hier im Lande, was ich bei der Arbeit und in der Freizeit
erlebt und beobachtet habe.
Ich habe allerdings versucht, meine Aufzeichnungen flüssig
und leicht leserlich zu gestalten, so daß sie sich der
eine oder andere Leser Deiner Fanzine vielleicht ganz gerne zur
Unterhaltung anschauen wird, auch wenn sie nicht Fiction sind.
Neumarkt, 12. Dezember1998
Anmerkung der
Redaktion:
Begleitbrief zu den Geschichten
Der Maschinenbauer von Terlan
Der
Weinsurfer von Pinzon
Der
Kartenspieler von Gmund
Der
Höhlentaucher vom Karer See
|
Wenngleich mein Name aus der Zeit stammt,
als die Bauern ihre Abgaben auf die Schlösser meiner Ahnen
brachten, kann ich mir von diesem Namen nichts abschneiden, nicht
einmal ein Stück Pusterer Bergkäse und einen Streifen
Morandini-Vollkornbreatl für eine Marende. Es bleibt mir
also nichts anderes übrig, als mir meinen Lebensunterhalt
zu verdienen wie jeder andere gutwillige ungelernte Landsmann.
Eine Zeitlang machte ich dies bei einem Vertreter genau jenes
Standes, dessen Vorfahren oder Vorläufer ihren Tribut an
meine Vorfahren entrichtet hatten: Hubert K., der Maschinenbauer
von Terlan.
Hubert hatte sich bereits als Dreißigjähriger
seinen Jugendtraum von einem eigenen Obstbauhof mit geschlossenem
Anbaugelände erfüllt. Um dies zu erreichen, hatte er
als junger Bursche angefangen, zu den eigenen Wiesen große
Flächen Pachtgrund zu übernehmen. Dabei suchte er sich
fast ausschließlich Anlagen mit großen Rundkronen-
und Palmettenbeständen, die ziemlich durchgetrieben hatten
und die niemand bearbeiten wollte. Dadurch konnte er sich einen
sehr günstigen Pachtzins herausholen. Eine Anlage arbeitete
er scheint es um achtzig Prozent.
Nun hatte Hubert einen Freund, der bei
Siemens in München in der Entwicklungsabteilung arbeitet.
Dieser entwickelte für ihn einen batteriebetriebenen Laserstab,
der den Schnitt auch der dicksten Wasserschoße ohne Kraftaufwand
und flott möglich machte.
Für die Bearbeitung des Baumstreifens
baute ihm der Freund ein Laser-Gerät, das an der Seite des
Traktors, hinter der Aufsteighilfe, angebracht wurde.
Für die Nachbehandlung desselben
und für die Randbereiche wie Ecken und Kranzreihen benützte
Hubert den Laserschuh, der im Gehen bedient werden konnte, sowie
das Laserrad, das er wie ein Meßrad am Stab vor sich herschieben
kann. Die Stärke des gebündelten Lichtstrahls aus gasförmigem
Körper war so eingestellt, daß sie nur Gras und Unkraut
auf der gewünschten Höhe absengte, den Bäumen
tat der Bodenlaser überhaupt nichts.
Nachdem Hubert anfangs von den arrivierten Bauern belächelt
worden war, holte er sich den Respekt seiner Kollegen, als die
Bäume, die vorher fast nur mehr Holz produziert hatten,
sich bei ihm langsam formten und als sich nach dem dritten Jahr
die Äste in seinen Wiesen schwer von Früchten zu Boden
neigten.
Nach zwölf Jahren kaufte er den Hof in Terlan und er legte
den Kaufpreis bar auf den Tisch. Daraufhin nahm er einen Superkredit
auf und legte damit den Hof auf eine noch nie dagewesene Art
an.
Ich lernte Hubert auf der Interpoma, der
großen Apfelmesse in Bozen, kennen. Wir kamen ins Gespräch,
und er lud mich zu einer Besichtigung auf seinen Hof ein. Ich
war begeistert und blieb bei ihm als Mitarbeiter.
Der Hof ist vollständig neu angepflanzt.
Vierzehntausend Bäume stehen auf einem Hektar. Der Reihenabstand
ist ein Meter zwanzig, der Pflanzenabstand sechzig Zentimeter.
Die Sonneneinstrahlung ist trotz der großen Dichte gegeben,
da ausschließlich mit Kurztrieben gearbeitet wird und die
Reihen dadurch sehr licht gehalten sind und nur an die zwei Meter
hoch werden.
Der Baumstreifen wird nicht mehr mit Laserschuh
bearbeitet, die gesamte Bodenfläche ist mit einer eigenen
Einsaat von Gräsern bedeckt, die aus speziellen Kreuzungen
zusammengestellt wurde. Diese werden im Schatten vier Zentimeter,
bei Sonneneinstrahlung acht Zentimeter hoch. Das Aufkommen von
anderen Gräsern oder Unkraut wird durch diese aus traditionellen
einheimischen Gräsern konventionell gekreuzte Grasmischung
verhindert. Was wichtig ist, bei diesen Kreuzungen ist keine
Gentechnik zur Anwendung gekommen. Sie wurden schon lange vor
der Zeit hergestellt, als man anfing, überall mit Gentechnik
zu arbeiten.
Immer im Frühjahr wird etwas von
der Grasmischung nachgesät.
Das eigentliche Glanzlicht ist die Mehrzweck-Schienenanlage aus
Cunium, einer hochwertigen Multilegierung, u.a. mit 1 ppm Silber.
Die Schienen führen durchgehend durch
alle Reihen. Beim Anfang und am Ende eines jeden Sortenquartiers
steht eine Weiche, um aus der Kranzlinie in das jeweilige Quartier
ein- und danach wieder in jene einzufahren. Der erste und mit
der Ernte der Hauptzweck dieser Anlage ist das Spritzen. Im Hauptquartier
stehen die zehn Spritzwagen mit Elektromotor.
Die jeweilige Spritzung wird im Schaltraum, der sich im Hauptgebäude
befindet, eingegeben. Der ausgewählte Spritzenwagen fährt
zum Spritzmittelfassen in den Pulverraum, wo er mittels Schlauch
und Saugstutzen automatisch eingefüllt wird. Im nächsten
Raum wird Wasser zugepumpt, und dann fahren bis zu drei Wagen
nacheinander zu einem bestimmten Sortenquartier. Während
der erste Wagen bereits sein Drittel begonnen hat, fährt
der zweite vorbereitet aus den Mischräumen, und wenn der
letzte sein Drittel beendet, fährt der erste bereits zurück
in die Zentrale. Gespritzt wird mit zwölffacher Konzentration
mit Doppelaxialgebläse mit sehr niedriger Luftgeschwindigkeit.
Weiters werden die Schienen zum Abtransport
des Schnittgutes mit Kistenwagen beim Schneiden benutzt. Das
gehäckselte Schnittgut wird dann wiederum zusammen mit zugekauftem
Häckselmaterial (hauptsächlich von der Gemeinde) zur
Bodenlockerung und Humusbildung mit eigenen Streuwagen wiederum
über die Schienenanlage ausgebracht.
Bei der Ernte werden Wagen mit zusammenklappbaren achtzig mal
achtzig mal sechzig Zentimeter großen Plastikkisten bis
zum Klauber in die Reihe gefahren. Der Klauber steigt darüber,
klappt die Kiste auf, pflückt sie voll und drückt auf
den Knopf am Fahrgestell, und der Wagen wird von der Zentrale
aus in diese zurückbeordert, wo er gestapelt wird, während
hinter dem Klauber bereits der neue Wagen anrollt.
Vor einem Jahr hat Hubert noch einmal
eins draufgelegt und die Videoanlage einbauen lassen: Auf jeden
Spritzwagen ist eine Minikamera mit Weitwinkelobjektiv montiert,
die laufend Aufbau des Baumgerüstes, Blattmasse und eventuelle
Anomalien scannt und auf den Zentralcomputer einspielt. Verschiedene
Programme vergleichen nach Abschluß der jeweiligen Spritzung
automatisch die eingegangenen Daten mit den Idealwerten. Mit
den Resultaten dieses Vergleichs ist die exakte Planung von Schneideeingriffen
(Winterschnitt, Blüteschnitt, Sommerschnitt) möglich,
und jede folgende Spritzung wird im chemischen wie im maschinentechnischen
Bereich durch ein Programm auf die neuen Werte abgestimmt. Der
jeweilige Spritzwagen wird durch dieses Programm Meter für
Meter gesteuert, Wasseraustritt und Windgeschwindigkeit werden
kontinuierlich erhöht oder zurückgenommen. So bekommt
jedes der Tausenden von Bäumchen genau die Menge in der
Art und Weise ab, die es genau in diesem Moment braucht.
Zum Binden, also dem "Hängen" von Jährlingen,
um sie zu Fruchtästen zu machen, benutzt Hubert einen biochemischen
Fadenzieher, den "Spiderglue-Clip" . Man biegt den
Zweig in die vorgesehene Schräglage, hält die Mündung
des Fadenziehers auf die Stelle, die man zum Herunterhalten des
Zweiges benutzt, zieht das Gerät bei gedrücktem Abgabeknopf
bis zu einer geeigneten unteren Befestigungsstelle am Stamm,
läßt den Abgabeknopf los und fertig ist gehängt.
Das Material, aus dem dieser biochemische
Bindfaden gebildet wird, ist nach der Formung leicht elastisch,
unzerstörbar und übersteht jede Witterung und jede
Temperatur. Die Herstellerfirma liefert ein Netzmittel für
Fungizidspritzungen, bei dessen Ausbringung sich der Faden auflöst,
ohne irgendwo in der Pflanze oder im Boden nachweisbar zu sein.
Man benützt dieses Mittel, wenn der Zweig zu tragen beginnt
und die vorgesehene Position von alleine einhält.
Zu Beginn der Führung seines Hofes
hatte Hubert den Ehrgeiz besessen, das meiste an Handarbeit selber
zu machen. Zugleich wollte er alles in schönster Ordnung
halten, auch seine Privatsachen. Z. B. legte er besonderen Wert
darauf, immer ein sauberes Auto zu fahren. Die zehn Minuten für
die geschlossene Waschanlage im Dorf schauten schon heraus, aber
für das Wageninnere war einfach nie Zeit. Da ließ
er sich in Rüsselsheim, BRD, eine spezielle Reinigungsanlage
einbauen.
Die gesamte Innenausstattung, von den Armaturen zu den Sitzen,
und Türverkleidungen und Sitzen ist mit einem besonderen
Vlies überzogen. Durch dieses zieht eine zentrale Lamellenstaubsaugeranlage
den Schmutz ab und durch dasselbe verteilt eine Kapillarpumpe
ein Imprägnierungsmittel uniform an die gesamte Oberfläche.
Vom Wagendach werden Scheibenschieber ausgefahren, die alle Scheiben
naß abstreifen, nachwischen und durch ein Gebläse
trocknen. Hubert muß nur ab und zu Imprägnierungsmittel
und Wasser mit Frosch-Glasreiniger nachschütten. Die gesammelten
Reinigungsrückstände werden verdünnt und können
ohne Bedenken direkt vom Wagen aus entleert werden.
Die Erntehelfer des Maschinenbauern kommen aus China. Da hat
er nicht nachgegeben, bis er das erreicht hat. China ist der
größte Apfelproduzent der Welt, bringt aber auch am
meisten Menschen hervor. Als Hubert vor Jahren über seine
Internet-Kontakte Wind von einer äußerst schwachen
Ernteprognose in China bekam, schlug er sofort zu und flog sich
eine Gruppe aus Kanton ein. Die Spesen für den Flug der
Leute sowie für all die Laufereien zur Erreichung der Arbeitsgenehmigungen
sollten sich sehr wohl lohnen. Ein jeder dieser Klauber pflückt
vierhundertfünfzig Kilogramm die Stunde - und das beim Auspflücken.
Die Schnelligkeit scheint diesen Leuten angeboren, man hat nicht
das Gefühl, daß sie sich beeilen, man hat nur den
Eindruck, sie sind ganz bei der Sache, und das Tempo, mit dem
sie arbeiten, ist die natürlichste Sache der Welt. Es ist
nebenbei ganz unmöglich, an einem einzigen Apfel, den sie
in der Hand gehabt haben, eine Druckstelle zu finden. Ich hatte
beim Klauben die Logistik zu überwachen, und dabei hatte
ich manches Mal Gelegenheit, den Chinesen beim Klauben zuzuschauen.
Wie Zauberer und Taschenspieler sind sie mit den Händen
schneller als das menschliche Auge. Dadurch sieht man gar nicht,
wie der einzelne Apfel vom Ast geholt und in die Kiste gelegt
wird, man sieht nur, wie die Bäume langsam leerer und die
Kisten gefüllt werden. Besonders aus einer gewissen Entfernung
beobachtet, gewinnt man den Eindruck eines steten Flusses; wie
langsame Wellen konnte man den Weg eines jeden Klaubers durch
die Reihen verfolgen, und der Weg der Früchte in ihrer großen
Gemeinsamkeit erinnert an unseren eigenen Weg und den Weg alles
Vergänglichen von der Blüte zur Reife und von der Reife
zur Ernte. Durch die Arbeit unserer chinesischen Klauber hatte
ich zum ersten Mal in meinem Leben dieses Erlebnis, bei dem ich
in der Natur, mit der wir arbeiten, eine Kraft und eine Bewegung
spürte, die weit über das hinausführt, was wir
mit unserer technischen Beweglichkeit zu erreicht haben glauben:
Wir haben geglaubt, mit unseren Autos, Motorrädern, Motorschlitten
und Flugzeugen Zeit und Raum überwunden zu haben und den
gewohnten Naturabläufen bereits weit voraus zu fahren. Aber
am steten Fluß der Äpfel spürte ich, daß
uns die Natur nicht nur nicht einzuholen braucht, sondern wir
vielmehr gleich wie vor Tausenden von Jahren immer die sind,
die fest aufpassen müssen, das Gespür für den
Fluß der Dinge nicht zu verlieren.
Ich befand mich nun seit eineinhalb Jahren auf dem Hof von Hubert
K., und mir war noch keine Minute langweilig geworden, auch war
mir noch nie vorgekommen, daß die Arbeit schwer oder unangenehm
geworden wäre. Bei allen anfallenden Problemen entstand
immer sofort das angenehm vibrierende Klima, das von Huberts
Leitmaxime geprägt war: "Flexibel nach oben".
Jedes Problem schuf eine Situation, in der eine Verbesserung
in der Luft war; ich hatte eine Zeitlang sogar den keimenden
Verdacht, daß Hubert gewisse Probleme fast absichtlich
herbeiführte, um bei der Findung von Lösungen mit seinem
und seiner Mitarbeiter Erfindungsreichtum über die bestehende
Situation auf seinem Hof hinauszusteigen. Ja, auch selber kam
man in die Stimmung und in die materielle Lage, Verbesserungen
vorzuschlagen und auch anzuwenden. Ich erinnere mich, daß
gleich im ersten Frühjahr meiner Anstellung ein Problem
mit den Wildschäden durch Hasen entstand. Hubert war gegen
den Schutzbestrich der jungen Stämmchen, aber wir entdeckten
mit unseren Videowagen mehr und mehr Nageschäden. Hubert
war gerade auf einer Sortentagung in Ostdeutschland und nicht
erreichbar, wir waren auf uns selber angewiesen. Da kam mir die
Idee mit den Vielzweckschienenanlagen.
Ich benützte drei Wagen gleichzeitig: zwei als Treiber und
einen mit aufgebauter Dreh-Schußanlage. Diesen bediente
ich über unsere Videosteuerungsanlage, für die Manövrierung
jener gewann ich Fritz, einen Boku-Studenten in Saisonanstellung.
So legten wir uns auf die Lauer und nach drei Nächten hatten
wir vier Trophäen hängen. Für jenes Jahr war Ruhe
mit den Wildschäden.
Wie gesagt, Langeweile kam nie auf, und man konnte sich zu jeder
Zeit auf die nächste Arbeit freuen. Aber so recht konnte
ich mich nicht mehr freuen, bei aller Abwechslung machte sich
in mir eine fade Stimmung breit, die ich mir nicht erklären
konnte. Ich kann Dir das Gefühl nicht besonders gut beschreiben,
denn es fällt schwer, sich vorzustellen, auch für mich
jetzt in der Erinnerung, daß Herausforderung, Abwechslungsreichtum,
Modernität einhergehen können mit zunehmender Leere
und Abwesenheit von ich-weiß-nicht-was.
Schließlich kam der Tag oder die
Nacht der Erkenntnis. Es war eine Nachtspritzung mit Calzium
angesagt, die mit unserer vollautomatischen Anlage auch unbemannt
abgefahren wäre, aber Hubert wollte immer, daß jemand
die Kontrolle hielt und wer "die Nacht machte" (die
Spritzung mußte um vier Uhr beendet sein), konnte den ganzen
nächsten Tag frei nehmen. Ich saß eine Weile an der
Hauptkonsole und überwachte die Abläufe, perfekt wie
immer oder meistens. Gegen Ende der zweiten Stunde ging ich auf
die Terrasse vor dem Kommandoraum und schaute hinunter auf die
Anlagen im Mondlicht. Eine leichte, kaum merkliche Brise bewegte
die satten Blätter unter mir in einem lautlosen Spiel, der
Wind ließ ab und zu nach, und auch wenn ich mich anstrengte,
genau hinzuschauen, konnte ich nicht mit Sicherheit sagen, ob
sich die Blätter in dem Moment bewegten oder nicht. Es schien
wie ein Spiel, das sich mir abwechselnd darbot und wieder entzog.
Und immer wieder kamen die surrenden und rauschenden Spritzwagen
dazwischen, die mit ihrem Sprühnebel und ihren Turbinen
für einen Moment alles in ein Rauschen hüllten, bis
sie nach dem Wenden in die andere Richtung der Zeile verschwanden
und die Blätter wieder dem zarten Spiel des Windes überließen.
Ich ließ meinen Blick über die gesamte Anlage schweifen
und nahm darin nun alle drei Wagen wahr, die ihre festgelegten
Bahnen zogen, ich nahm das Surren und Rauschen wahr und auch
den Dienst, den dieses technische Wunderwerk an den Kulturen
tat. Da dachte ich an das Wort "A perfect world", den
Titel eines US-Films und an dessen Schlußszene, und ich
fühlte, wie sich, eingebaut in die Rhythmen einer perfekt
funktionierenden Technik, meinen Lebensgeist mehr und mehr nach
innen verlagerte, und ich kapierte, warum ich mich in der letzten
Zeit nicht mehr richtig an meiner Arbeit freuen konnte: Es fehlten
die Erlebnisse, die Abenteuer. Es gab seit eineinhalb Jahren
keine Ereignisse mehr in meinem Leben, die über die Arbeit
und ihr Gelingen hinausgewiesen hätten und die für
sich eine Entwicklung und einen Nutzen oder Schaden gehabt hätten.
Alles in meinem Leben, seit ich auf dem Hof von Hubert K. arbeitete,
war dem Gelingen und dem Verbessern der Arbeit, durchaus auch
im Sinne des Wohlbefindens, untergeordnet gewesen.
In den nächsten Tagen redete ich mit Hubert über meinen
Wunsch zu gehen. Er war überrascht, beleidigt, traurig,
einverstanden, als er meine Gründe hörte. Dann lud
er mich ein, vor meinem Abschied mit ihm eine Reise an einige
bestimmte Orte im Lande zu unternehmen, sozusagen als Entschädigung
für die entgangenen Abenteuer in meiner Zeit bei ihm. Er
meinte dies ohne Spott, und ich merkte ihm an, daß er nicht
nur über meinen Weggang traurig war, sondern über etwas
ganz anderes. Der Ausgang jener Reise ließ mich im Zweifel,
ob mein Chef damit gerechnet hatte, mir durch die Begegnung mit
besonderen Menschen und Situationen einen Grund zu geben, doch
bei ihm zu bleiben oder ob er mir zum Abschied zeigen wollte,
daß meine Einstellungen und Wünsche nicht dazu taugten,
im Leben das zu erreichen, was man sich wünscht.
Zuerst begaben wir uns zu dem Mann mit
dem gewaltigen Händedruck. Es gibt Leute, die behaupten,
daß dieser Mann den stärksten Händedruck von
ganz Europa hat, obwohl es überall jede Menge Kraftprotze
gibt, z.B. hat ein Isländer ein Wikingerboot von achthundert
Kilogramm gestemmt. Der Mann hatte sich ganz zurückgezogen
und lebte in der Einöde eines Seitentales des Pustertales.
Ich erwartete mir einen gewaltigen Kerl und Muskelprotz. Wie
war ich überrascht und ein bißchen auch enttäuscht,
einen schlaksigen schmalen Typen vor mir zu sehen, der in höflicher
Zurückhaltung und fast in seine Schultern versunken ein
zögerliches Lächeln zum Gruß andeutete. Ich war
auf der ganzen Fahrt dorthin gespannt gewesen, wieviel Kraft
dieser Mann wohl haben und wie ich selber beim Händeschütteln
dastehen würde. Der Mann gab mir auch die Hand, aber nichts
passierte, es war, wie wenn man gegen eine Mauer drückt;
sie drückt nur soviel zurück, als man hineindrückt.
Wir setzten uns, und Hubert brachte den Mann zum Erzählen,
nachdem er uns Tee und Aufschnitt serviert hatte.
- Ich weiß selber nicht, woher ich meine Kraft habe. Irgendwann
haben meine Mitmenschen herausgefunden, daß ich in meinen
Händen diese besondere Kraft habe. Es gibt Leute, die diese
Kraft einem spezifischen Training und einer besonderen Ernährung
zugeschrieben haben, die die Kraft auf eine bestimmte Anwendung
konzentrierten, während die restlichen Körperfunktionen
auf einem viel geringeren Niveau blieben. Es wurde trainiert,
und ich wurde herausgefordert, immer mehr und immer öfter
kamen Burschen zu mir, die meinem wachsenden Ruf gefolgt waren
und sich mit mir im Händedrücken messen wollten. Es
war schlimm. Es gab Knochenbrüche, Quetschungen, Zerrungen.
Es war mir unmöglich, mich den Herausforderungen zu entziehen,
immer wieder wollte es einer probieren. So habe ich in jener
Zeit gelernt, meine Kraft zu kontrollieren. Ich habe mich darauf
spezialisiert und trainiert, bei jedem Händedruck, ganz
egal, mit wem ich gerade zusammenkomme, die Kraft meines Gegenüber
nur so lange zu erwidern, bis der kurze Moment des Ausgleichs
zustande kommt. Diese neue Art des Händedrucks gibt mir
seit Jahren eine besondere Art der Kommunikation, eine besondere
aggressionslose Art der Beziehung zu meinen Mitmenschen.
Ich wollte den Mann aber unbedingt dazu bringen, seine wirkliche
Kraft herauszulassen, um darauf zu kommen, wieviel ich selber
tatsächlich Kraft habe. Ich versuchte, ihn davon zu überzeugen,
daß erst in der höchsten Anstrengung die wirklichen
Kräfte eines Menschen geweckt werden und man sich selber
kennenlernt. Ich versuchte, dem Mann mit dem gewaltigen Händedruck
mit den verschiedensten Mitteln beizukommen.
- Haben Sie denn Freunde?
- Manchmal lerne ich Leute kennen, die mir taugen, aber sie haben
meist ganz andere Sorgen als ich.
Ich versuchte, ihm klar zu machen, daß er mit seiner Art
der Zurückhaltung nie eine Kommunikation erreichen würde,
die wahr sei, weil er die wahren Verhältnisse verberge,
er schließe sich davon aus, sich selber und seine Umgebung.
Es half nichts. Ich versuchte, ihn bei seiner Ehre zu packen.
- Kann es nicht sein, daß Sie einfach Angst haben, eines
Tages könnte einer kommen, der Ihnen über sein könnte
beim Händedrücken?
- Ich werde ganz von alleine nachgeben, wenn meine Zeit da ist.
Das habe ich nur mit meinem Schöpfer auszumachen.
Nachdem wir uns verabschiedet hatten und über die steilen
Wiesen nach unten stiegen, sagte Hubert:
- Auf die Stärke des Händedrucks etwas zu geben, ist
ja altmodisch. Der Händedruck ist einfach wie er ist, Wurst
ob etwas stärker oder weniger stark. Hauptsache ist, die
Papiere eines Menschen sind in Ordnung, wenn du verstehst was
ich meine.
Ich war aber frustriert und unausgeglichen
wie noch nie, und vor lauter Frustration stellte ich auf dem
Nachhauseweg allerhand verrückte Sachen an: Ich stieß
die Milchkannen an einer Sammelstelle über den Abhang hinunter,
schrie Wutausbrüche in den anbrechenden Abend, und wenn
mich Hubert nicht zurückgehalten hätte, hätte
ich einen Hofhund von der Kette befreit.
Danach besuchten wir ein Dorf hinter Lajen.
Dort sah ich alle Bewohner wie mit schweren Beinen umhergehen;
keiner, gleich ob jung oder alt, hob die Füße beim
Gehen mehr vom Boden ab, als notwendig ist, den Platz zu wechseln.
Wir setzten uns zu einem Bier im Dorfgasthaus und Hubert erzählte
mir.
Die Einwohner dieses Ortes waren in uralten Zeiten weitum berühmt
für ihre Hochspringer. Kein Heuschober war so hoch, daß
die Besten ihn nicht zu überspringen vermochten, bei allen
Tätigkeiten in Haus und Feld schnellte ein jeder und eine
jede aus dem Stand oder mit Anlauf überall hinauf, wo andere
mühsam geklettert wären. Von klein auf bis ins hohe
Alter gehörte der Sprung zum täglichen Leben. Nun kam
eines Tages von Italien herauf die Kunde davon, daß die
Welt eine Kugel sei und sich mit großer Geschwindigkeit
um sich selber drehe. Diese neue Entdeckung wirkte auf die Leute
wie ein Blitzschlag. Sie hatten seit jeher eine starke Beziehung
zu ihrem Boden gehabt, und die Verhaftung damit gab ihnen Sicherheit.
Nun schoß ihnen die Angst in die Köpfe und in die
Glieder, daß sich der Boden unter ihnen fortbewege, während
sie bei ihren Sprüngen in der Luft waren und sie somit beim
Landen nicht mehr dort wären, von wo sie vorher weggesprungen
waren. Im schlimmsten Falle fürchteten sie, aus ihrem Land
herauszuspringen durch den Lauf der Welt. Seither gehen sie seit
Generationen wie von Magneten zu Boden gehalten, entwickeln dazu
schwere Muskeln an den Waden und lassen sich durch nichts auf
der Welt von Ort und Stelle mehr verrücken, mit denen sie
sich so sehr verbunden fühlen.
Wir tranken unser Bier aus, und ich ging zu unserem Auto wie
ein Luftwesen, mir kam vor als ob ich nur mehr ganz wenig mit
den Füßen auf dem Asphalt anginge. Als wir durch das
Dorf hinausfuhren, schaute ich nicht mehr auf die Menschen mit
den schweren Füßen, sondern immer mehr in mich hinein,
weil ich nicht mehr wußte, wo ich stand in diesem Land.
Am selben Tag fuhren wir zu den Menschen, die sich einst in völligem
Einklang mit der Natur befunden hatten. Man darf nämlich
nicht meinen, Streß und Hektik seien Erscheinungen, die
unserer heutigen Zeit vorbehalten wären. Schon früher
hatte es Zeiten gegeben, da den Menschen, auch in den ländlichen
Gebieten, die Harmonie abhanden gekommen war. Nun gab es zu einer
solchen Zeit Menschen auf unseren Bergen, die im Gegensatz zu
ihrer Zeit die Langsamkeit zu einer großen Vollkommenheit
gebracht hatten. Sie waren vor allem landwirtschaftliche Arbeiter,
Kleinpächter, einige hatten es bis zum Verwalter gebracht,
die durch einen unerschütterlichen Gleichmut es geschafft
hatten, vollständig in den Rhythmus der Natur einzugehen
und ihre Arbeit darin aufgehen zu lassen. Wo sie arbeiteten,
prangte und drängte überall die Frucht, schwer neigten
sich die Ähren auf den Kornfeldern, kräftig stand das
Tier auf den Wiesen, leicht flossen die Bäche durch Wald
und Feld. Niemand wußte genau, wie diese Menschen ihre
Erfolge bewerkstelligten. Niemand glaubte, daß die hohen
Erträge und die regelmäßige Regenerierung der
Produktionsgrundlagen nicht trotz, sondern gerade durch ihre
Langsamkeit zustande kamen.
Eines Tages sah einer der Herren, bei dem einige von diesen Menschen
arbeiteten, wie bei ihrer Heimkehr von der Feldarbeit noch die
Winden des wilden Hopfens um ihre Hosenbeine bis übers Knie
hinauf gewickelt waren. Die Arbeiter hatten die Gewächse
allem Anschein nach erst beim Weggehen vom Feld losgerissen.
Das wurde dem Herrn zuviel, und er schickte die Leute weg.
Bald wollte niemand mehr die Menschen
dieses Volkes beschäftigen. Die Frauen kamen mit der Zeit
doch irgendwie unter, aber die Männer gingen hinaus auf
die Höhen und die Hänge und schauten schweigend auf
die Bergspitzen hinaus und über die Täler hinweg. Still
standen sie im Wind, und bald umflatterten sie die langen Ende
ihrer moosigen Bärte, erloschen hingen die Reggeln in ihren
Händen herab. So blieben sie stehen, und so stehen sie heute
noch im Rhythmus der Natur, der Jahreszeiten und des Wetters.
Auf der Rückfahrt von diesem Ausflug
sprachen Hubert und ich viel von der Schönheit unseres Landes
und von den Entwicklungen der modernen Zeit. Bei ihm auf dem
Hof sagte ein jeder von uns nur: Mach's gut, dann fuhr ich nach
Hause.
(1998)
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