Verkommenes Subjekt / Von H. B. Wagenseil
Sie haben angefangen, mich unter die Entgleisten zu zählen. Wohl weil ich nicht willens war, in einen ihrer Sackbahnhöfe einzulaufen, nach welchen sie so wohlgeordnete und glatte Schienen ziehen. Mag auch sein, sie sind mir darob gram, daß ich meinen Kessel mit Sprit heize und weil allzu ständig die leichtfertige Rauchfahne der Zigarette aus dem Schornstein meines Mundes bläst, so daß statt der Leistung nichts herauskommt als eitel Lämmerwölkchen. Nur über ein Weilchen Geduld, so werden eure Prophezeiungen schon ganz herrlich in Erfüllung gehen: der Rost wird meine Wände durchnagen und meine Glut wird löschen!
Ich bin über viele Wechsel gerattert, bevor es gelungen war, mich aus der Zone des Verkehrs zu rücken, in welcher euer Leben pulst: die Züge mit Lasten und die mit Satten und Frohsinnigen vollgepfropften, welche in die Landschaft rollen. Oftmals habe ich versucht, Einhalt zu tun. Mich in die Bremsen zu stemmen, die Ventile meiner Not haben geschrieen, aber die Bahn war zu abschüssig. Endlich ließ ich alles gehen. So bin ich ganz von selbst bei den Ausrangierten gelandet. Wie die Strandung einen Balken ans Ufer wirft, weil er ihr moderig zu schmecken beginnt, so hat mich die Stadt gegen ihre äußersten Zäune gespieen.
Anfangs dachte ich, es wäre nun gut so und ich am Ende angelangt und brauchte nun weiter nichts mehr zu tun, als mich vollends fallen zu lassen. Der Sumpf würde mich schon zäh und gefräßig schlucken und voll grandioser Gleichgültigkeit wieder zuwachsen über der Stelle, wo ich einmal gestanden hatte, verschwiegener als ein Grab. Aber dann ward ich doch jämmerlich und begann gleich einer Alge mich an meine Planke zu klammern: damals lernte ich, daß den einen noch Nahrung gilt, was die andern schon Unrat nennen. Auch ist es wie ein wirrer Traum, was alles dem Menschen weich und weit genug als Lagerstatt dünkt, wenn er müde ist, sein Haupt darauf zu betten!
Alles das liegt weit zurück. Damals war noch Entsetzen in mir und eines Kindes Ungläubigkeit, es könne unmöglich soviel Grauen, Trostlosigkeit und Dunkel geben, in welches man nicht ungestraft hineinblickt. Heute starrt Bart um mein Kinn, stachlicht und hart wie Drahtgestrüpp und hat alle Anklage meines Mundes überwuchert. Auch meine Augen blicken ohne Tadel. Ich bin jetzt so sehr einig und eins geworden mit dieser Welt, daß mein zerfranstes Kleid mörtelfarben und grau geworden ist wie die Fronten der Vorstadthäuser, an denen ich so ungezählte Male entlang gestrichen bin und auf deren Stufen ich geschlafen habe wie ein Bündel. Wie sehr liebe ich es, wenn die gütige Dämmerung herabsinkt und die Härte und dumme Deutlichkeit aller Konturen verwischt, durch die planlos zersplitterten Gassen zu schlendern, Hände in den Taschen vergraben und sinnes-
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ähnlich einem Matrosen, der einen fremden Hafen um seine Geschehnisse bestürmt. Es mag wohl sein, daß ich heimkehrend große Reden halte und den Mond verlöschen will wie eine Ampel. weil er so unbewegt all meine Schande und mein Greinen bescheint. Er aber lächelt nur über meinen grotesken Schatten, den ich hinter mir herzerre auf den ungehorsamen Beinen eines Trunkenbolds. Es mag ihm verziehen sein. Wenn ich aber manchmal eine Laterne umarme und schmiege mein Gesicht an ihren Eisenpfahl, so sollt ihr nicht glauben, daß mich der Suff übermannt. Dies heuchle ich nur, wenn ihr vorbeigeht. Es ist nur, daß auch ich meine Arme breiten und irgend etwas nahe an meiner Brust hegen muß, und ich glaube, nur eine Mutter, welche ihr Kind verloren hat und jetzt im Wahnsinn eine Puppe wiegt, vermöchte mich ganz zu verstehen.
Denn es ist stets Kraft und Sehnsucht in mir gewesen, eines Menschen Herz zu gewinnen. Aber es scheint mir nicht gegeben. Ich bin ein ungeschickter Werber und kann den Schlüssel nicht finden. Und doch: wieviel Diebe sehe ich ringsum mit dem Dietrich hantieren, der alle Schlösser sprengt!
Auch schlecht' Ding will Weile haben. Es hat lange gewährt, bevor ich mir das Wachs aus den Ohren schmelzen ließ, womit ich sie gegen die hämische Stimme der Erkenntnis verstopft hatte. Damals, als ich Schiffbruch litt und mir das Atlantis eurer Welt verschlungen ward, trieb ich auf den Wellen der Ungewißheit voll stiller Gläubigkeit, einmal müsse doch wieder ein Eiland auftauchen, nach welchem es mir gelänge, meinen Anker zu werfen. Mochte es auch häßlich sein und unfruchtbaren Angesichts, wenn er nur Grund faßte und sich festbiß! Kein Wasser war mir zu schmutzig, ich legte denn in ihm mein Netz aus. Endlich glaubte ich ein paar der Versprengtesten hineingegangen. Niemals wieder war ich so glücklich wie zu jener Zeit.
Wenn du die Straße ganz zu Ende gehst, so kommst du zu einer Kneipe. Sie war einmal mein Paradies. Trätest du hinein, so würdest du dich entsetzen: denn sie ist bevölkert mit Tiergesichtern. Mich aber duldeten sie nach einer Weile, ohne mir die Zähne zu weisen. Bald sogar geschah es, daß man nach mir rief. Kannst du es ganz begreifen und auskosten, was es heist: es fehle etwas ohne dich ?! Ich ließ meine Kleider und das Wenige, das ich noch besaß, in dem Winkel modern, in welchem ich bisher gehaust hatte und ging nicht mehr hin. Vielmehr gewöhnte ich mich daran, dort drinnen auf einer Bank zu schlafen, wenn endlich der letzte Gast gegangen war, und der Wirt ließ mich gewähren. Es war ein Diebesnest. Und um in deiner Sprache zu reden: mein Umgang Gesindel. Aber es geschah doch oft, wenn ich eintrat, daß einer mitten im Spiel die Karten ruhen ließ, einzig, um mir auf die Schulter zu schlagen oder mir die Hand zu geben. Einmal auch ward ich zum Hehler und damit ganz der ihre.
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Jenen Abend hatten wir unvermutet Polizeibesuch bekommen und ich versteckte die goldene Uhr eines Mannes in einer aufgeplatzten Naht des Lederpolsters, die einzig ich kannte, da ich ja ständig darauf schlief. Dieser Mann hat mir sehr gedankt. Heute ist er versorgt und aufgehoben, seit Jahr und Tag, und wohl auf Nimmerwiedersehen. Wenn ich zeichnen könnte, so würde ich sein Gesicht darstellen, wie es aussah, als eben die Tür aufging und der Kommissär eintrat. Aber ich kann nichts! Zum Teufel auch mit ihm.
Dann kam jene einzige und unvergessliche Nacht, in welcher der Rauhreif plötzlicher Erkenntnisse die letzten Früchte vom spärlichen Baum meiner Freude platzen ließ. Ueber der Stadt spannte sich ein selten schöner und sternen weißer Himmel. So war auch ich froh und stieß meinen Stock aufs Pflaster und freute mich, wie sehr mein Schritt hallte. Nein. Ich will alles Versteckenspielen beiseite tun und dir mein Geheimnis flüstern: Ich war ein wenig närrisch, denn man hatte mir gesagt, daß sie da sei. Kaum daß ich eintrat, sah ich sie sofort. Denn da es noch früh war, saßen erst zwei Mädchen beisammen. Betty und Anna. Betty ist sehr blond und hat einen hübschen Mund. Aber Anna. - Nun, kehr dich nicht darum. Ich aber erkannte gleich, daß sie verstimmt war.
Anna hat ein Erlebnis gehabt, und ich will es dir erzählen. Ich glaube, du kannst es begreifen, daß es kein Vergnügen ist, unter dem schlechten Heiligenschein einer Gaslaterne zu stehen und deinen Leib feilzubieten. Wenn du aber schon dazu getrieben und entschlossen dazu bist, so wirst auch du dankbar sein, einen Käufer zu finden. Es war ein feiner Herr, der Anna angesprochen hatte. Sie ging sogleich neben ihm her, wie es ihre Art ist: den Kopf ein wenig gesenkt und den Blick knapp vor sich auf den Boden gerichtet. "Ich will ein Auto haben" - sagte der Herr. Seine Stimme ist gutmütig und ein wenig melancholisch. "Ich möchte nicht, daß man ..." Aber Anna verstand schon und ließ noch ein paar Schritte Abstand zwischen ihnen wachsen. Es ist so selten, daß sich ein besserer Mann in diese Gegend verirrt. Und man muß dankbar sein und einsichtig. - Da stoppte auch schon der Wagen. Aber jetzt erst, nachdem sie schon eine Weile gefahren sind, sah ihr der Mann beim Lichtschein der vorüberhuschenden Straßenlampen voll ins Gesicht.
" Und wurde plötzlich aschfahl", erzählte Anna weiter, "so das auch ich erschrak und richtig bange wurde. 'Irmgard !' stammelte er ganz in sich zusammensinkend und mit einer Stimme, als ginge es ans Sterben. Darauf riß er plötzlich meinen Mund an sich! und küßte mich wie ein Toller. 'Dein Gesicht! Meine Braut ...' und dieser Mensch von vierzig Jahren begann wie ein Hund zu heulen. 'Halten !' - brüllte er plötzlich den Chauffeur an, so daß ich hochfuhr in den Kissen.
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'Halt!' schrie da auch ich und klammerte mich an seinen Aermel, 'erst zahlen!' - Aber er misverstand mich wohl und versuchte sich loszureißen. 'Nein. Nicht mich' sagte ich da bittend. 'Aber den Chauffeur sollen Sie wenigstens bezahlen. Denn ich...'
Aber er war schon fortgestürmt und weinte und fluchte in seinen Mantel.
"Jetzt wird mit Lokalschluß der Chauffeur kommen." fuhr Anna fort und sah mich dabei an. "Was wird Max sagen? Und wird Max mir glauben ?"
Du, Freundchen, wirst natürlich jetzt mit all deinem Mitleid bei dem Herrn mit der melancholischen Stimme sein. Du wirst! seine Erschütterung miterleben, seine Erniedrigung und seine Traurigkeit. Ich aber zittere für Anna. Hier sitzt ein Mensch, der den Schmerz des soignierten Herrn für geringer achtet, als die Schuld seiner Achtlosigkeit, Not zu Not zu häufen.
"Sie sind alle gleich !" fuhr Anna nach einer Weile fort. "Dem einen muß man die Lustige vorspielen, weil er glaubt, mit meinem Gesicht müsse man lustigen Gemütes sein. Der Provinzler will ein wenig Unflat und ein wenig Gruseln: So sieht das Bild aus, das er sich von einer Dirne gemacht hat. Basta.
" Und der Bräutigam will echte Liebe obendrein ! - lacht Betty ergänzend. "Er kann sich nicht denken, daß man seinen Schnurrbart nicht ebenso entzückend findet, als diejenige es tut, welche er soeben mit einem Kuß unter der Haustüre verlassen hat."
"Da ist unser Alter schon anders !" fällt Anna ein und fast mir mit der Hand unters Kinn, daß meine Barthaare knistern. "Dir braucht man nicht erst was vormachen, denn Du gehörst zu uns." "Ob Max mich vertrümmen wird ?" verfällt sie ein wenig in Nachdenken. Plötzlich wird sie sehr geschäftig: "Pump mir fünf Mark. Ich werde den Chauffeur abfangen: zwei schulde ich dem Kellner. Bis Max kommt, geh ich anschaffen und lade wieder an Dich ab."
Und wir kamen so überein.
Max war um Mitternacht da. Gegen ein Uhr holte Anna ihn ab. Ich machte mich ganz klein auf meiner Bank: sie möchte sonst in Verlegenheit geraten. Aber vielleicht hätte ich das nicht nötig gehabt. Heute morgen besaß ich noch fast zehn Mark, überlegte ich und begann unter dem Tisch zu zählen. Ich habe meiner Mutter ... Aber es genügt schon derlei zu tun. Man muß soviel Scham bewahren, es nicht auch noch zu sagen.
Sieh' da. Verdammt. Bis der Kellner all meine Kreidestriche addiert, ist mir Anna entwischt. Ich will gleich nachstolpern!
Sie gehen schon ein gut Stück vor mir in der Straße. Anna hat ihren Arm unter der linken Achsel des Mannes durchge-
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schoben und ihre Hand auf seine rechte Schulter gelegt. Ihr Arm! rankt sich um seinen Rücken wie eine Guirlande. Wieviel Liebkosung, wieviel Zartlichkeit spricht seine Linie! Sie gingen sehr langsam und in einem trunkenen Gleichschritt. Ich aber lief sehr! schnell; ein wenig unsicher, weil ich mir zuviel Mühe gab, nicht zu lärmen.
Eben als ich ihnen nahe gekommen war, unterbrach Anna das Schweigen, das offenbar zwischen ihnen gehalten worden war: "Der Alte ist mit fünf Mark herübergekommen --", sagte sie und preste Maxens Arm. "Man muß ihn nur zu nehmen wissen. Er will, daß man ihn für einen Lumpen nimmt und unseresgleichen."
Max prustete ein wenig und steckte in Liebkosung die Nase in ihr Haar.
Wie sie sich lieben ! dachte ich verwundert und ließ meinen eiligen Schritt zurückfallen in müden Trott. Endlich blieb ich lange stehen. Ich sinnierte und begann Selbstgespräche zu halten. Damit aber störte ich die Ratten die von den Alleebäumen und aus den Kanalisationstrichtern nach den Kellerfenstern zu liefen. Sie setzten sich auf und funkelten mich aus aasfresserischen Augen an. Erst hatte ich Gelüst, mit dem Stock nach ihren tückischen Fratzen zu schlagen. Dann aber mußte ich lachen und warf ihnen den Rest meiner Brotrinde hin. Niemand mag euch leiden. Dies könnte Grund sein, es zu tun.
Vgl. Armin A. Wallas: Zeitschriften und Anthologien des Expressionismus in Österreich. Analytische Bibliographie und Register, Berlin: De Gruyter 2011, S. 40, S. 251 u. 753, insb. S. 40:
"Das Gesindel
Erscheinungszeitraum: 1925
Untertitel: Zeitschrift für Menschlichkeit. Herausgeber: Karl F. Kocmata
Redakteur: Karl F. Kocmata
Verlag, Ort: Verlag 'Das Gesindel', Wien IX, Schulz-Straßnitzkygasse 13
Druck: Julius Wassertrüdinger, Wien VII, Richtergasse 4 Redaktionsadresse: Wien IX, Schulz-Straßnitzkygasse 13 Erscheinungsweise: halbmonatlich
Auflistung der Einzelhefte:
H. 1: 15. Oktober 1925; S. 1-16
H. 2: 30. Oktober 1925; S. 1-20
Format: 23 cm hoch, 15 cm breit
Preis: Einzelheft: 40 Groschen Abonnement: Jahr 10 Schilling Standort: ÖNB 608.158-B
UBW I 390.286
Literatur: BILKE: Zeitgenossen, S. 131-134. - DIETZEL/HUGEL: Literarische Zeitschriften, Nr. 1166, S. 494
Die in zwei Heften erschienene Zeitschrift stellt eine Fortsetzung der Zeitschrift Das Gesindel (1911/12) dar und wurde von ihrem Herausgeber Karl F. Kocmata in erster Linie zu seiner Selbstrechtfertigung gegründet, um gegen seine Entlassung als Redakteur der Wiener Tageszeitung Der Abend zu protestieren und seine Verdienste als Elendsberichterstatter hervorzuheben. Zur Unterstützung der Argumentation Kocmatas enthält die Zeitschrift auch eine Stellungnahme des Mitarbeiters und zeitweiligen Mitherausgebers der Zeitschrift Das Wort, Rudolf Geist. Außer polemischen Artikeln zum Wiener Literatur- und Pressebetrieb finden sich im Gesindel literarische Beiträge von Karl Burger, Walter Eskenasi, Carl Julius Haidvogel, Elisabeth Janstein, Karl F. Kocmata (Ausschnitte aus der Literatursatire Teofil Burdas Leben und Höllenfahrt; 10; 27), Erich Mühsam und H. B. Wagenseil. Die Rubrik Notizen' enthält aktuelle kulturpolitische Kommentare. Die Zeitschrift bietet ein Spiegelbild der persönlichen Feindschaften und inhaltlichen Auffassungsunterschiede der Wiener Sozialisten- und Anarchistenszene".
Kurt Wagenseil (1904-1988)
Hans B. Wagenseil (1894-1975)
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