armin peter zH
Verplemperte Zeiten
(Fünf Texte II, für UHURA III) für lidi/Uhura 3

Die Reise (Fragment)
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Speckknödel und Fliegentunke (Ein Sonntag im September '94)
- Armer Seelentag - Ein Dienstag
- Heimat: Ein lückenhaftes Drehbuch
- 25. April 1995 oder 50 Jahre danach


Uhura Message 3

1998
Vertieft ins Ich begibt sich auf Reisen eine junge Frau Anfang 20; das Ziel steht noch nicht fest, nur so weit, um zu vergessen. Entschlossen hält Carmen zwei schwarze Lederköfferchen in den Händen, während die Bahnhofsallee langsam zu Ende geht. Um die ausgeprägte Hüfte baumelt die rote Umhängetasche, von der Mutter zum letzten Geburtstag geschenkt. Der knöchellange Röhrenrock in Beige zeichnet bei jedem Schritt wohlgeformte Schenkel nach und läßt durch eine zarte Wölbung im Hüftbereich einen kleinen Bauch erahnen. Unter der blaßgrünen Sommerjacke eine Seidenbluse, ockergelb, tief geöffnet; provozierend sticht leuchtend ein BH mit Spitzen vor.
Sie tritt in die Bahnhofshalle mit steifen Brustwarzen ein, hervorgerufen durch den Ärger, den sie in sich trägt; der eigentliche Grund der Reise. Waagrecht ragen sie in die Halle, die Erregung ist groß, Erregung aus Wut. Blondes, schulterlanges Haar, teils ins Gesicht hängend, bringt sie ein wenig aus der Fassung, als sie auf der Schwelle zum Wartesaal steht; stellt die Koffer ab, streift eine Strähne zurück, bückt sich und nimmt die Gepäckstücke wieder an sich. Im Aufrichten trifft ein Blick tief das Dekolleté, und dies bemerkend harrt sie erschrocken für einige Sekunden in gebeugter Haltung. Wolfi P., werktätig als Pudelpendler, mit Hang zum Alkoholismus, hat sie mit schwerem Atem fixiert. Geräuschvoll hallt dieser durch die Stille des menschenleeren Raumes; die Pupillen regungslos punktierend Richtung Eingang gerichtet. Längst hatte Carmen schon an der Stirnseite des hohen, nackt wirkenden Zimmers Platz genommen, als Wolfi von einer zurückgebrannten Nazionale, die zwischen Zeige- und Mittelfinger eingeklemmt, schmerzvoll aus der Trance gerissen wird. Instinktiv schleudert den Stummel mit Wucht von sich, ohne mit seinen schmerzenden Füßen danach zu treten. Dies sichtlich Freude bereitend überkommt Carmen ein Lachen, das sich über die Backenknochen ausbreitet und mit einem strengen Blick von der Seite verstummt.
Verkrampft an die Lehne gedrückt und den gierigen Blicken ausweichend, drückt sich Carmens Befangenheit in roten Wangen aus; wenn doch der Nachtzug endlich ausgerufen würde, murmelt sie gesenkten Hauptes in die von rechts nach links gekreuzten Beine. Drei Tage hatte sie die Septemberausgabe des "Brixners" ungelesen in der Handtasche herumgeschleppt, aber dann beim Eintritt in den Bahnhof einem Mülleimer überlassen; zu dumm, hätte ich doch ... . Zähneknirschend und eine Hand in der Hosentasche mit irgend etwas spielend, läßt er ihr Warten zur Folter werden. Die tiefrote Lepsnase, vor Lust kochend, erspäht sie bei einem hastigen Blick; doch siehe da, mit einem Mal steht er kreischend auf, und schnellen Schrittes zum Ausgang hin laufend. Dreht sich in der Tür nochmals um, hascht in den Ausschnitt und verschwindet endgültig in der Halle. Carmen atmet tief durch, das Rückgrat sackt zusammen, den Rock spannend durch die Knie und einen Bauch bildend. Wolfi P. eilt unterdessen an Paulos Zeitungskiosk, an Journalen, Alto Adige, Tabak, Corriere, Dolomiten, Cerinis, Süßigkeiten, Tutto Sport und an dem vorüber, was wohl Armins B.'s Lieblingslektüre ist, Richtung WC. Sie hat sich wieder gefangen, ihr Äußeres in Ordnung gebracht und eine angenehme Sitzhaltung eingenommen, als er die Bedürfnisanstalt wieder verläßt. Keuchend und mit fleckiger Hose trottet zufrieden mit sich selbst das Stumpfgleis entlang, vorbei an Güterwaggons, als der Nachtzug über die Sprechanlage unverständlich ausgerufen wird. Carmen steht am Bahnsteig drei, hat eilig die dreckige Unterführung zuvor hinter sich gelassen, und der Zug fährt auch schon ein. Ein allzu eifriger Bahnpolizist reicht ihr die angeblich so schweren Köfferchen bis ins erste beste freie Abteil. Stia attenta, così da sola, und schon trillert die Vorsteherin mit obligater roter Mütze; Türen knallen, Lichtzeichen der Schaffner auf den Trittbrettern stehend, und der Zug rollt langsam an. EC288, mit erster Klasse am Zugende; beschleunigende Elektromotoren unter immer rhythmischer werdenden Schlägen von Achsen auf dem Geleise. Innere Leere kommt in dem leeren Abteil auf; an den Wänden Halterungen für Flaschen und die immer selben und ewig vergilbten Billigstdrucke. Die sonst obligaten Spiegel fehlen, wahrscheinlich gestohlen; so bleibt ihr nur der Blick ins Abteilfenster, als Ersatz nicht minder, wenn der Betrachter dies in Nachtstunden tut. Blickt also hinein, ein abgespanntes Gesicht inmitten der vibrierenden Einrichtung eines Transportmittels, das sie bisher wenig nutzte. In der Ferne verschwommene Lichter, zwischen undefinierbaren Wäldern, Wiesen und Dörfern. Die Zentrifugalkraft einer Kurve zwingt Carmen, eine sitzende Haltung einzunehmen; kurz nach halb sieben Uhr morgens werde sie in München sein, sollte sie vorher nicht aussteigen. Was solle sie dort, eine Stadt ohne ein bekanntes Gesicht, "was soll ich dort bloß machen", und zündet eine Zigarette an.Der Rauch steigt trotz Nichtraucherabteil trotzdem auf und bildet am Ansatz zum Gewölbe einen Schleier. Beklemmung und Unruhe, das, was in ihr aufkommt; kratzt an der Oberfläche, wühlt Unbequemes auf, bis zu dem Moment, wo ein Schaffner energisch die Abteiltür öffnet. Rasch und mit Hastigkeit sucht Carmen in der Handtasche die Geldbörse, in der sich die Fahrkarte mit diversen Zuschlägen befindet. Unruhig, auf beiden Beinen wippend, beobachtet der privatisierte Staatsdiener ihr Treiben, bis er das Billett in den Händen hält. "Danke und weiterhin gute Reise", von ihr ein dankendes Erwidern, und sie nun wieder allein in der zu weichen Sitzgarnitur. Die Wärme des Raumes sie der Müdigkeit preisgibt; kurz vor dem Tiefschlaf mit sanftem und langanhaltendem Atem versetzt das Öffnen der Tür sie wieder in den Wachzustand. Automatisch, als sei es ihr angeboren, streckt sie dem im Gegenlicht stehenden großgewachsenen Uniformierten devot das entwertete Billett entgegen. Mit dem Erreichen der maximalen Lichtempfindlichkeit der Iris erkennt sie, daß es sich um einen "Doganiere di Stato", einen Finanzbeamten handelt. Er bleibt in der Tür stehen, die Legitimation erwartend, die Carmen berechtigt, sich außerhalb des italienischen Staatsgebietes aufzuhalten.
"Dikiarra quall ke kosa?", klar Dialekt eingefärbt; sie verneint, "allora buon viaggio, buona sera signorina". "... Brennero - Bahnhof Brenner", schrillt die Megaphonanlage in den einfahrenden Zug; der Wind, fester Bestandteil diesen Ortes, auf dieser uralten Transitstrecke, trägt dies mit hoher Wahrscheinlichkeit bis runter nach Gries. Durch Beuteln des gesamten Zuges, hervorgerufen durch öfteres Wechseln der Geleise, erwacht unsanft Carmen. Streckt die Glieder, mit verschlafenem Äußeren und Druckstellen auf den Wangen durch das mit Kraft heruntergezogene Fenster Ausschau haltend. Leichter Fahrtwind treibt "Gänserupfen" auch an den intimsten Stellen des Körpers hervor; Quietschen, ein Ruck vor und zurück, stop, der Zug steht. Mit dem Öffnen der ersten Türen, vermischt durch die Geräuschkulisse des Bahnhofspersonals, zieht sie den Kopf wieder zurück und schließt das Fenster; es könnte sie jemand erkennen, ihre Angst. Wieso und warum, ein Gedankengang während des Sich-in-die-Polsterung-fallen-Lassens. Richtet sich wieder auf, streckt den linken Arm aus, so daß der senkrecht erhobene Handrücken parallel zu ihr ist. Sehr schön, wunderbar mit zufrieden in voller Breite grinsendem Ausdruck; perlweiß lackierte Fingernägel funkeln im orangen Licht des Bahnhofareals. Erhebt die andere Hand dazu und hat fünf ausgeprägte formvollendete Fingerpaare vor sich. Eigentlich schön, einer wie der andere und keiner abgebrochen, die Nägel wunderbar, sehr schön; wenn doch alles so in Ordnung wäre.
Langsames Senken der Extremitäten, die sich an den Körper schmiegen, der indes erneut von der Wärme des überhitzten Abteils unter Beschlag genommen wird; der Wirkung gleich wie ein Schlafmittel. Tief und fest ruht sie, das monotone Schlagen der Achsen im Hintergrund. Der Kopf wippt hin und her, auf und ab, ist in sich gekehrt und träumt von Bildern aus vergangenen Tagen, an denen der Himmel klar und dunkelblau nie zu enden scheint. Zitronenfalter, Vogelgezwitscher und sie mittendrin von Blüte zu Blüte schwebend, der erste Kuß getragen von einer Endlosmelodie; Vivaldis Frühling, Moldau, Strauß Vater und Söhne. Wohlig warm, ist sie doch an den Ufern der Glückseligkeit, und so hart wie die Realität des Erwachsenenlebens das Erwachen. Personenkontrolle, bitte Papiere und den Zweck der Einreise in die BRD, vernehmen es Carmens Ohren und die Augäpfel einen hechelnden Hund deutscher Rasse, dessen Speichelfluß auf einem der am Boden liegenden Schuhe sich ergießt.
"Na wird's bald, hallo, bitte Dokumente!"Jetzt begreift sie, daß diese energische Stimme nicht zum Traum paßt, der hier sein Ende hat. Rasch erhebt sie sich, wankt ein wenig benommen, streift die Haare aus dem Gesicht und versucht, einen klaren Gedanken zu fassen. Greift zunächst eines der Köfferchen und den Fehlgriff bemerkend mit einem "Scheiße!" überspielend zur Handtasche, die sie in den letzten Stunden unter sich begraben hatte. Daraus zieht sie dann zwischen Schlüssel, Schminkutensilien, Tempos und Tampons ein zerknirschtes Etwas, eine Legitimation, sprich einen Personalausweis, aber durchaus entsprechend. So wie sich dem deutschen Zöllner der amtlich beglaubigte Wisch präsentiert, dem entspricht auch der innere Gemütszustand von Carmen. ... (Fortsetzung folgt)
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