2003

mit Bezug zu: 1998, New York Texte

 

"Tinúviel": "Aporien amerikanischer Eingebungen [...]", in: "Zergeisterung", 23.10.2003.

 

"Kurz nach dem 11. September zog es mich und zwei Freunde, hier als M. und P. vorgestellt, nach Manhattan. Anders gesagt: wir folgten einer Idee von M., für die ich auch weiterhin dankbar bin, da sie mich zu einer Erfahrung brachte, wie ich sie als jemand, der selten verreist, lange nicht mehr hatte. [...] Amerika ist für mich etwas, dem ich mit ambivalenter Empfindung gegenübertrete. Früh schon war ich jenem üblichen eher linken Antiamerikanismus verfallen, der nicht nur amerikanische Politik, sondern auch deren Kultur angriff - zwar nicht pauschalisierte auf den Amerikaner schlechthin, aber doch so Sätze aus mir hervorbrachte wie, ich würde dieses Land nie betreten. M. wußte die Geschichte eines Künstlers, der mit ähnlichen Worten sich zu einer Preisverleihung auf einer Bahre aus dem Flugzeug und auch danach tragen ließ, um sein Wort zu halten*.

In gewisser Weise brachte ich meine Kritik unter die Ps Profit, Puritanismus und Pragmatismus oder vielleicht die drei Ks Kapitalismus, Kalvinismus [eigentlich Calvinismus, nach dem Reformator Johannes Calvin, 1509-1564], Konstruktivismus... fühlte mit Tocqueville, wie er die 'Tyrannei der Mehrheit' in der 'Demokratie in Amerika' beschreibt**, und begegnete einem ähnlichen, irgendwie komplementären Bild von Europa.

Ein amerikanischer Reiseführer über Deutschland beginnt mit einem Bild: Würde man Ländern Geisteskrankheiten zuordnen, käme für Deutschland nur die Schizophrenie in Frage, im Norden das Wasser und im Süden die Berge, supermoderne Architektur direkt neben jahrhunderte alten Burgruinen und Kirchen, Volk der Dichter und Denker sowie das Land, das den Holocaust beging. Überhaupt gilt Europa als old-fashioned, als überholt, vergangen, 'das Land, in dem unsere Märchen spielen'. Rauchen, das in New York fast ausschließlich nur noch auf offener Straße erlaubt ist, ist typisch europäisch. Eine Werbung, die wohl von einer Anti-Raucher-Kampagne finanziert wurde, wirbt mit einem Raucherinnen darstellenden Gemälde aus den [19]20ern und fragt: 'Haben Sie es gemocht, in den Bars zu rauchen? - Dann studieren Sie doch am besten gleich französischen Expressionismus'. Entsprechend ist auch die Einstellung gegenüber Geschichte; alles, was über 100 Jahre alt zu sein scheint, ist historische Sehenswürdigkeit, die mit Schildern zu versehen ist, die dann etwa über das Clinton Castle informieren, das gerademal 150 Jahre alt gewesen war; das älteste gefundene Gebäude in Manhattan schien uns die Trinity Church (250) zu sein, wobei das möglicherweise nur auf einige Grabsteine zutreffen mag, die den großen Brand im 18. Jahrhundert überstanden hatten.

Eines unserer ersten Anlaufstellen war natürlich jener Ground Zero. Es ist sonderbar, wie einem zu diesem Mahnwort mystisch-nihilistische Vorstellungen kommen, denen dann Begriffe wie 'Urgrund' oder 'Nirvana' entrinnen. Ich muß dazu erst etwas erzählen, das den 11.9. vielleicht in angemessener Weise einfängt, meine persönliche Geschichte sozusagen [...].

Am 9.9. 2001 gab es so etwas wie einen HTML-Kursus, bei dem mir ein gewisser Wolfgang ein Feuerzeug überließ, auf dem zufälligerweise die Türme des World Trade Center im Abendrot zu sehen waren. Weiß der Himmel, warum man sich an dem Gedanken so ergötzt, es könnte ein Zeichen sein, bis man sich eine Reihe von Zeichen ge- und erfunden, die dann zu der fixen Idee führen, der ich dann endlich meine Zeit auf Erden widmen kann.

Jedenfalls begann es schon ganz tragisch: nach einem Treffen für ein Film-Projekt einiger Medienwissenschaftler, das geplatzt ist, da der Regisseur verschlafen hatte, begleitete ich einen noch bis in die Oberstadt. Als wir uns trennten, war unweit von mir der Geiger, welcher öfters beliebte Plätze der Stadt aufsucht um seine fünf Lieder zu fideln - es sind wirklich fünf, einer dieser Orte wurde nämlich in der Folgezeit unter meinem Fenster, warum auch immer. Der Medienwissenschaftler rief mich auf mein damaligen Handy an, ich verstand nur etwas von Angriff, Attentat, Amerika; der Freund hatte nur Radio gehört. Wie ich auch besaß er kein Fernsehgerät. Schließlich trafen wir uns erneut, um in die Wohnung des abwesenden Regisseurs zu gehen, dessen Schlüssel noch da war - wo wir dann zum ersten Mal jener dämonischen Endlosschleife begegneten, die für die nächste Zeit wie eine hypnotische Schlange das Fernsehbild beherrschen sollte.

Was das Verbrechen selbst angeht, so glaube ich zumindest, daß es stattgefunden hat. Dabei ist die Beteiligung islamistischer Terroristen eher wahrscheinlich. Ob da aber noch andere konspirative Kräfte welcher Kombination auch immer am Werk sind, darüber schweige ich mich aus***. Die meisten der Ungereimtheiten werden zu gerne und zu leicht zusammengeworfen, um ihnen das Bild zu geben, das man selbst ihnen geben möchte. Auf der anderen Seite ist es unverkennbar, daß unlautere Mittel von Seite Amerikas verwendet wurden und werden, sowie daß jenes Ereignis des 11.9. 2001 ihnen zur Legitimation einer Politik der Neokonservativen, der Falken, des Projects for a New American Century und einer New World Order werden****. Aber natürlich darf man die Opfer nicht außer Acht lassen. Leider verführt die massenhafte Wiederholung von Betroffenheitsdeklamationen in den Medien zu einer Abstumpfung, einem Crowleyanischen Anti-Ekel-Training*****, aber wenn man dann doch das erste Mal persönlich wie unmittelbar einem Zeugen gegenübersteht, der seine Geschichte vom 11.9. erzählt mit Tränen in den Augen, weiß man, wie groß dieser Schrecken gewesen ist.

Das Land von Arni [Arnold Schwarzenegger] und [George W.] Bush [republikanischer Präsident, 2001-2009]****/6 war natürlich auch da. Das Hotel White House war im Greenwich Village, dem alternativen Viertel; die Zimmer oder Sargophage waren 1*1,90 Meter, ein Schlafsaal, in dem die Betten umzäunt wurden mit Bretterwänden. Dafür war es die billigste Absteige Manhattans.

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Auch der oben erwähnte Zeuge war ein Bewohner des Hotels, einige lebten hier schon seit 15 oder 20 Jahren - in ihrer Zelle. Ärger gab es nur einmal: wir saßen in dem größten Luxus des Hotels: der Lounge, die etwa so groß war wie drei Zellen. Dort gab es Fernseher und Kühlschrank, und jedenfalls es lief gerade eine Bushrede, ein Amerikaner um die 60 saß auf der Couch und meinte auf einmal, ob wir denn wüßten, daß man uns am Flugzeug fotografiert habe, der Geheimdienst mache von allen verdächtigen Ausländern Fotos, Deutschland, Frankreich und die Benelux-Länder hätten ja eine Allianz gegen die NATO geschmiedet, würden zudem von der russischen Mafia beherrscht, die mit Al-Quaida zusammenarbeite... wir drei könnten ja unschuldig sein... im Gegensatz zu Europa würde Amerika aus der Geschichte gelernt haben...

[...]

New York gilt als die Stadt, die niemals schläft. Manhattan wurde zumindest von einem Reiseführer mit 'Ort des ewigen Rausches' übersetzt, inzwischen weiß ich aber hinzuzufügen, daß das ind[...] Wort eigentlich nur eine geographische Besonderheit meinte. Es ist in der Tat auch etwas für europäische Städte meiner Erfahrung Ungewöhnliches, wie sich etwa samstagabends das Leben auf den Straßen dort gestaltet. Drei Blickwinkel bot mir die Skyline dieser Stadt, zwei von der Brooklyn Bridge aus: offenkund graue Riesen, Wahrzeichen der Stadt, Zivilisation, Technik, vielleicht Mahnmale, vielleicht Symbole... jedenfalls war ich nie besonders diesem Bild der Skyline zugeneigt gewesen, gleich auch wie kunstvoll manche eigenwillig ekklezistische Gebäudearchitektur auch sein mag. Warum bin ich nicht in der Lage, hier positiv zu assoziieren? Ich fragte mich das wirklich, nicht unbedingt im Moment dieses Fotos, aber danach irgendwann. Ähnlich empfand ich für einen Moment, als wir ein zweites Mal - diesmal nachts - hierher kamen, die Wolkenkratzer wie feurigen Käse, wie ein Bild, daß ich aus kunstvoll simulierten Atombombenexplosionen kannte, wie eine Feuerbrunst das Gestein erst von innen aushöhlt, bis sie es zum Barsten bringen kann - so wirkten für mich die nächtlichen Lichter in den Fensterreihen. Das dritte war aber anders. Diesmal: der Rückflug in der Nacht; die Stadt war golden, dazu über den Kopfhörer von British Airways Mozarts 'Zauberflöte', was mir den ironischen Beigeschmack eines Freimaurerwitzes gab; die Welt des goldenen Glanzes. Aber es war auch ein schöner Anblick, der ergriffen macht.

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Das High-Life der high society ist auch in gewisser Hinsicht ein prägender Eindruck. Das mag zum Teil daran liegen, daß Manhattan sehr auf Touristen ausgerichtet ist, von ihnen beherrscht. Abgesehen davon, daß es auch die Stadt der Einwanderer ist, Leute im Bus sprechen dich einfach an; natürlich ist das nicht überall so. Die Obdachlosen werden wohl immer mehr und unterliegen in diesem maroden timokratischen System einem Teufelskreis: wer seinen Job verliert, verliert auch bald seine Wohnung. Wer keine Wohnung hat, kann kein Konto, keinen Führerschein, nichts an Papieren haben; folgerichtig auch keinen Job. Viele singen in den U-bahnen, andere erzählen dir für einen Penny einen Witz, andere verkaufen Ramsch oder betteln einfach. Kalifornien soll seine Obdachlosen einst wohl einfach nach Hawaii geschickt haben, um sie los zu werden. Man merkt auch, daß [...U]nterschiede noch sehr stark vorhanden sind; etwa daran, wer arbeitet im Supermarkt an der Kasse, in der Bank am Schalter (das gilt wohl als geringer Job dort) oder bei der Straßenpolizeistreife, die wohl auch eher ein Brotjob ist...

Jedenfall kann es einem auf der anderen Seite auch passieren, daß man etwa im Central Park auf einen Menschentrubel stößt, dessen Kern der Dalai Lama selbst ist. Jedoch eigentlich müßte ich erst das Bild zeigen und fragen, was darauf zu erkennen ist.

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Es könnte vielleicht auch ein Rockkonzert sein. Jedenfalls hätte das sicher vielen der dortigen Besucher keinen Unterschied bedeutet. Der buddhistische Weg wurde angepriesen nach einer langen Einleitung über derzeitige politische Unworte wie 'friendly fire', die Auswirkungen der Globalisierung****/7, die in den Affekten ruhende Gefahr des Krieges und der Aggression, die Notwendigkeit der Innenkehr zur Überwindung des dharmas und vieles mehr. Ich war zunächst etwas eintäuscht, gewann aber dann doch nach Überlegungen gewisse Einsicht, indem ich mich in die divergente Rolle des Dalai Lama selbst versetzte und die Dialektik betrachtete, mit der er sein Los tragen muß. Jedenfalls ging es auch ähnlich touristisch weiter, am nächsten Tag baute ein Filmteam für das 'Woody Allen Autumn Project 2003' einen Wagen vor unser Hotel sowie welche in die Bondstreet, in der wohl eine Szene im 'Il Buco' gedreht wurde. Kurz sahen wir den stadtneurotischen Gegen-Hierophanten****/8, der mit dem Dalai Lama ein sonderbares Bild von Yin und Yang zu ergeben scheint. Er sah genervt aus.

[...]

Ich sah Kunstwerke aller Epochen, vieles von Rembrandt, zu wenig von Goya, lernte vieles insbesondere aus der italienischen Renaissance neu kennen, auch wenn mir leider die Namen schon zumeist wieder entfallen sind. Doch diese Darstellungen von Venus, Cupido und Psyche, Maria Magdalena oder Lucretia hatten schon etwas, insgesamt vielleicht die Epoche mit der besten chymischen Hochzeit von Sexus und Religion. Ich sah aber auch moderne Werke, hier war ich insbesondere von dem Original von Edvard Munchs 'Der Vampir' sehr beeindruckt. Es waren dort aber auch viele berühmte Werke von Impressionisten und vieles mehr, vieles ungesehen, vieles stümperhaft im Vorbeigehen zur Kenntnis genommen, schon an Reizüberflutung leidend, konnte man am Ende noch einen Blick in die babylonische Sammlung werfen, nachdem man durch die islamische geeilt war, dann wurde geschlossen.

[...] Man kann sagen, uns wurden Vorteile abgebaut und welche bestätigt. Das Essen ist fettig und zuckrig, man sehnt sich wirklich nach deutscher Kost; es gibt Recycling, aber sonst ist es mit dem Umweltbewußtsein nicht weit her; der Spruch, es sei alles nur Fassade, hat hier etwas Wortwörtliches, denn scheinbar sind die Häuserfassaden alle renovierungsbedürftig, eine Stadt, erbaut um zu blühen und zu verfallen. Dahinter gibt es ein Netzwerk von Gängen, kleinen Ecken, die sehr modrig wirken, Hintertreppenecken aus entsprechenden Filmen. Die gesichteten Tierarten sind recht überschaubar; einmal abgesehen davon, daß es im Central Park einen Turtle Pond gibt und dort sich noch andere Vogelarten befinden sollen, gibt es sonst in der Stadt nur Tauben und Spatzen. Luftratten sollen erstere im Italienischen heißen. Katzen konnten wir nur mit zwei Exemplaren als vertreten verzeichnen, einmal im Hotel, das andere mal in einem Bücherantiquariat. Es gab auch sehr wenige Hunde, die auch immer angeleint waren und deren Kot sofort vom Herrchen entsorgt wurde, und wenn dabei die gerade zum Lesen hergeholte Zeitung herhalten muß. Die amerikanischen Eichhörchen sind noch relativ zahlreich in den kleinen wie großen Parks. Und auch eine Kakerlake soll gesichtet worden sein, aber nicht in unserem Hotel. Wenn man um eine Zigarette gefragt wird, bieten viele ein paar Cents an, schließlich kosten die zags 8 Dollar. Während Rauchen nur in der Öffentlichkeit gestattet ist, ist Trinken dort untersagt, es sei denn, man hüllt sein Getränk in eine braune Papptüte. Ohne Papptüte kostet es 50 Dollar.

New Yorks Finanzstruktur läßt sich über die Preise von Magaritha Pizzastücken darstellen (P. und ich sind arme Vegetarier). Während man am Südpunkt Brooklyns in Coney Island gerademal einen Dollar bezahlt, kosten sie am Timesquare, an der Wallstreet und noch so ein paar anderen Gegenden zwei Dollar, dazwischen liegen 1,70 Broadway und Greenwich Village, 1,50 Little Italy, teilweise Central Park, 1,20 Staten Island.

Mag schon sein, daß wir letztlich nicht allzuviel gesehen haben, daß das Innenleben dieser Stadt uns verborgen blieb, viel Touristik, der Glanz des Times Square und seiner Bebilderung der Hochhäuser, die Ruhe des Central Park, das Leben in den Clubs wurde nur beschnuppert, immerhin gelang es bereits, die Erfahrung einer Kneipenschlägerei zu machen, aber passiv glücklicherweise. Ebenso wurde die New Yorker Philharmonie sowie ein Blues Club besucht, leider ist das Foto davon nichts geworden. Wir sahen noch eine [German-American Freiherr Friedrich Wilhelm von] Steuben Parade (das war ein deutscher General, allerdings möchte ich doch diese sonderbaren Fotos hier nicht hinsetzen), eine Islam-Parade oder -Prozession (?), M. besuchte das Space- and Sea-Museum, das sich aber dann als Militärmuseum herausstellte, ich besuchte ein Straßenfest in Little Italy und konnte mich gar nicht damit anfreunden, daß wirklich niemand Alkohol trinkt... teilweise saß ich auch einfach nur vor dem Hotel und schaute nach dem Geschehen, las etwas in meiner Henry-Miller-Biographie****/9, der Schreiber des 'Sexus' ist ein gebürtiger New Yorker deutscher Abstammung, wurde von einem Bankgebäude unweit des Hotels zu ein paar poetischen Zeilen inspiriert... und wußte in naturalistisch-anarchistischer Art gut gegen die amerikanische 'Civilis' zu lästern, doch verklärte sich - wie so oft in Biographien - gegen Ende sein denken, sprach sicherlich nicht Falsches, und doch - es erscheint dieses letzte Wort wie ein Frieden, der über allem steht, da nicht mehr von dieser Welt - dieser Wandel der Gesinnung hat immer etwas Beängstigendes für sich, auch wenn der Einstellung des alten Millers sicherlich nichts Schlechtes anzuhängen ist außer vielleicht ein Vorwurf der Passivität. Jedenfalls wußte Miller mir New York ein wenig zu würzen, lehrte mich träumen, während sich New York zu einer Fantasie erhob, teilweise künstliche Begehungspassage und Einkaufwunderwelt, teilweise Selbstpräsentation einer patriotischen Gesellschaft, die Welt der Straßennamen, buildings und Denkmäler...zugleich der Rausch der Großstadt, [...], das ewige Blinken, das Getöse der Klimaanlagen, der Verkehr. Zu dem letzten Foto weiß ich nicht viel zu sagen, es ist ein Vietnam-Denkmal [Vietnam-Krieg 1955-1975, Kriegseintritt der USA 1963], das bisher einzige Trauma der USA, jetzt ergänzt durch den 11.9., die Listen von Namen amerikanischer Soldaten. Nicht zu überlegen, wie viele solcher Tafeln nötig wären, um die gefallenen Vietkong aufzulisten.

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[ Anmerkungen. annotations. remarques ]

* Gemeint ist Joseph Beuys. Vgl. Carsten Probst im Gespräch mit Gabi Wuttke: "Wer Beuys einen Nazi nennt, wird angegriffen. Diskussion über Antisemitismus in Kunst und Kultur", über ein Video-Panel mit der Journalistin Mirna Funk, dem Künstler Leon Kahane und Museumsdirektorin Mirjam Wenzel, Sendung "Fazit", deutschlandfunkkultur.de, 24.02.2021: "Wenn er über Beuys' nationalsozialistische Vergangenheit spreche, werde dieser von allen möglichen Leuten sofort verteidigt, sagte Kahane: 'Ich bekomme ständig mit, dass sich Kolleginnen und Kollegen extrem darüber aufregen, dass ich den Beuys desavouiere. Joseph Beuys ist Repräsentant der kulturellen Stunde null. Aber was ist, wenn sich herausstellt, dass er eigentlich derjenige ist, der es geschafft hat, sozusagen ein völkisches Kulturverständnis in einer Art und Weise zu formulieren, dass es teilhaben kann an einer modernen Kunstwelt?'".

** Alexis de Tocqueville: "Democracy in America" [EA "De La Democratie en Amerique" 1835], New York: Saunders and Otley 1838.

*** In Teilen der politisch Linken wie in der politisch Rechten wurden nach dem 11. September 2001 strukturell bis offen antisemitische Verschwörungsmythen über die "wahre" Urheberschaft des Verbrechens populär.

Vgl. Samuel Salzborn: "Die antisemitische Revolution. Essay über die Folgen von 9/11", taz.de, 10.09.2018: "Die Auswahl der Ziele der Anschläge von 9/11 galt, das wurde sowohl in Erklärungen der Islamisten explizit formuliert wie durch interpretative Deutungen der symbolischen Bedeutung der Twin Towers auch implizit herausgearbeitet, der westlichen Welt als solcher. [...] Es war nicht nur ein Anschlag auf die USA, sondern ein Anschlag auf die durch sie verkörperten Werte von Freiheit und Gleichheit, letztlich ein Anschlag auf die Aufklärung und die Moderne. Und es war ein antisemitischer Anschlag, weil im islamistischen Weltbild alles, was abgelehnt wird, letztlich jüdisch identifiziert wird und die Anschläge von 9/11 den Auftakt für eine antisemitische Revolution bilden sollten. Eine Revolution, an deren Ende dem Willen der Islamisten folgend eine islamistisch unterworfene Welt stehen soll, in der sämtliche ­Errungenschaften von Aufklärung, Moderne und Demokratie zerstört und sämtlicher emanzipativer Fortschritt zum Stillstand gebracht werden soll.

[...] Dieser antisemitische Weltkrieg ist weltanschaulich entgrenzt, weil der Hass auf die Aufklärung und die mit diesem verbundene antisemitische Regression quer zu allen politischen Kategorialisierungen anzutreffen ist. Der antisemitische Krieg verbindet Identitäre auf aller Welt miteinander. Die Revolution der Antisemit(inn)en bricht sich dabei schrittweise Bahn - mal an der Macht, mal als Bewegungen aktiv, deren Ziel die Fixierung von kollektiven Identitätskonzepten ist, die mal völkisch bestimmt werden, mal islamistisch, in jedem Fall essenzialistisch, antiaufklärerisch und gegen das Individuum als Subjekt gerichtet. [...] Die liberale und aufgeklärte Welt befindet sich in der Defensive, auch mit Blick auf ihre stark ramponierte Selbstlegitimation, deren Reformulierung die Grundlage für eine neue Renaissance emanzipativer Bewegungen sein müsste. Denn entgegen mancher postkolonialer Utopien kann eine solche Emanzipation nicht ohne und schon gar nicht gegen den Westen geschehen. Die neuen identitären Bewegungen bilden sich nämlich nicht nur in der politischen Rechten, sondern auch in der Linken. [...] 9/11 war der Auftakt einer antisemitischen Revolution, die sich gegenwärtig weltweit im Gange befindet und die, wie jede Revolution, auch zerschlagen werden kann".

**** Vgl. Sonja Marzock: "No World Order. Handeln gegen Verschwörungstheorien: 'Down the rabbit hole'. Verschwörungsideologie links der Mitte?", Belltower.News (Amadeu Antonio Stiftung), 21. August 2021: "Als Feind betrachten Verschwörungsideolog:innen zunächst den 'tiefen Staat'. Damit sind vor allem die Geheim- und Nachrichtendienste der US-Regierung gemeint. Ihnen wird unterstellt, das Weltgeschehen zu ihrem ökonomischen Nutzen und, darauf aufbauend, zur eigenen Herrschaftssicherung zu beeinflussen. Die USA und Israel als ihr engster Verbündeter werden in den entsprechenden Verschwörungserzählungen für alle negativen Auswüchse der kapitalistischen Wirtschaftsordnung als Verantwortliche angeklagt. In der Konsequenz müssten die Angehörigen des 'tiefen Staates' bekämpft werden, um ein gesellschaftliches Gleichgewicht wieder herstellen zu können. Diese Idee knüpft an die Erzählung einer 'New World Order' an. Diese Welterklärung ist so stark vereinfacht, dass sie die Komplexität des Kapitalismus und des globalen Geschehens nicht erfassen kann. [...].

Die Personifizierung von Macht und Herrschaft, wie sie im Antisemitismus stattfindet, entlastet von dem Konflikt, sich selbst als Teil der gehassten Struktur begreifen zu müssen. Stattdessen dürfen linke Antisemit:innen diejenigen sein, die heldenhaft gegen die verschwörerische Unterdrückung durch 'die Mächtigen' ankämpfen. Das haben sie mit allen Antisemit:innen gemein. Nur kämpfen linken Verschwörungsideolog:innen seltener für die Befreiung des 'deutschen Volkes', sondern lieber für die anderer 'Völker', mit denen sie sich besser identifizieren können. Auf diese Weise äußert sich ein Wunsch nach völkischer Gemeinschaft (völkische Sehnsucht), dessen sich linke Verschwörungsideolog:innen nicht bewusst sind und/oder den sie nicht wahrhaben wollen. Denn Gleichwertigkeit aller ist mit einer Volksgemeinschaft nicht umzusetzen. Dieser Widerspruch zwischen linken Idealen und der regressiven, autoritären völkischen Gemeinschaft wird über Verschwörungsideologien verdrängt und letztlich ausgelagert. Das eigentliche Problem ist dann nicht mehr das eigene regressive Bedürfnis, sondern der äußere Feind".

Abb. "Recreation of Alice's Adventures in Wonderland in Piccadilly Circus, London" von Valerie Hinojosa unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-SA 2.0 (modifiziert)..

***** Vgl. Anaïs Nin: "Diaries". Das "Anti-Ekel-Training" entstammt aber tatsächlich nur der Fantasie von Autor*innen bestimmter Ratgeberliteratur gegen sogenannte "Sekten" und "Kulte".

****/6 "Träume II", 20.3.2003: "Ein Traum von letzter Nacht [...]: Es spielte in diesem Haus und doch auch nicht. Genaugenommen fehlt mir vieles vom Handlungsstrang, aber es gab mich und möglicherweise X. als WG-Bewohner, nur daß es verschiedene Stockwerke waren, wo wir wohnten - und nicht eine WG. [...] Ob wir nun durch dieses Labyrinth zu Szene 2 kamen, ob es ein Bruch war, oder wie auch immer, auf jedenfall erfuhr ich plötzlich, daß der Leibhaftige unser Vermieter sei, las es auf meinem Mietsvertrag, [...] jedoch verwandelte sich irgendwas zu so einer Art Becher, der aber eigentlich so eine Art Sprachrohr für schwarze Magie war. Ich weiß, daß ich zweimal versucht wurde, es zu benutzen. Was das erste war, weiß ich nicht mehr. Auf jeden Fall war es so eine Art beklemmendes und erniedrigendes aber zugleich erhabenes Gefühl, in dieses Ding zu sprechen. Irgendwie wußte man, daß man zum Teufel sprach oder so was. Das zweite Mal bestand auf jeden Fall daraus, die McDonalds-Filiale [...] zu zerstören. Und dann ging ich über eine Straße und warf das Ding in ein größeres Auto einer Person auf der Rückbank zu, die prompt etwas dämlich damit zu spielen begann. Und kein Witz, die Person war George W. Bush".

****/7 Christoph Koch: "Genua vor zwei Jahren. Auf den Straßen herrscht Krieg", Süddeutsche Zeitung, jetzt.de, 7. Juni 2003: "Genua vor zwei Jahren: Auf den Straßen herrscht Krieg. Im Zuge des G8-Gipfels im Juli 2001 kommt es zu blutigen Straßenschlachten und Auseinandersetzungen zwischen Globalisierungsgegnern und Polizei. Am Ende stehen Hunderte Verletzte und mehr als hundert Festnahmen, Misshandlungen und Folterungen. Und ein Toter: Der 23-jährige Demonstrant Carlo Giuliani war der erste Märtyrer der Antiglobalisierungsbewegung. Der italienische Dramatiker Fausto Paravidino, geboren 1976 in Genua, hat mit seinem Stück 'Genua 01' eine Chronik der Geschehnisse geschrieben, die zugleich auch eine Streitschrift ist. Die Berliner Schaubühne am Lehniner Platz führt die deutschsprachige Version des Stücks heute um 21 Uhr als Premiere auf".

Fausto Paravidino: "Genova 01", übers. von Georg Holzer, Regie Martin Zylka (WDR), Berlin-Dahlem: Kiepenheuer Bühnenvertrieb 2004, S. 2: "VORBEMERKUNG: 'Genua 01' ist ein offener Text. Weil er im Theater angesiedelt ist, weil es keine Personen gibt und weil wir nicht wissen, ob und wann man unter die Geschehnisse von Genua, unter ihre Folgen und Auswirkungen ein 'Ende' wird setzen können. Wie es im Text heißt: 'Die Tragödie muss jeden Tag völlig neu geschrieben werden.' Und das machen wir, denn es ist unvermeidlich: der Text wird fortlaufend neu geschrieben und strukturiert, gemäß den neuen Entwicklungen, gemäß der Zeit, die unseren Blick auf diese Geschichte verändert, und gemäß der Einfühlsamkeit der Menschen, die daran arbeiten. Aus den vielen verschiedenen Versionen, in denen der Text bisher gelesen oder aufgeführt wurde, haben wir die erste und kürzeste zur Veröffentlichung ausgewählt, die im Feburar dieses Jahres am Royal Court aufgeführt wurde, mit einigen kleinen Änderungen an Stellen, die sich später als ungenau erwiesen haben, und mit einer Rekonstruktion des Todes von Carlo Giuliani als einzigem Zusatz".

S. 3 ("Prolog"): "Die Tragödie muss sich nicht darstellen, die Staatsmacht schon. Auch die demokratische. So wird der G8-Gipfel erfunden, das Fest der Mächtigen, bei dem sich die acht selbst ihre Macht bescheinigen und zeigen, wie mächtig sie sind und wie gut sie sich verstehen. Folgende Herren haben sich selbst eingeladen: [...]. Sie haben absolut nichts Wichtiges zu entscheiden. Die ihrer Meinung nach 'wichtigen' Entscheidungen könnten so unbequem werden, dass es besser ist, sie aus dem Scheinwerferlicht zu nehmen und sie an beigeordnete Organe wie die Welthandelsorganisation, die Weltbank oder den Internationalen Währungsfonds zu delegieren".

****/8 Woody Allen wurde bekannt mit dem Film "Der Stadtneurotiker" von 1977 (imdb tt0075686). "Melinda und Melinda" von 2004 hatte am 22. September 2003 einen Drehtermin und Drehorte in New York City (imdb tt0378947).

****/9 Walter Schmiele: "Henry Miller in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten", Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1961.

 

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