1998

mit Bezug zu: Ursula Pommer (Martin Walser), "Nominalismusproblem", Edition TiamatMerve

 

Anonym: "Die Welt" [geschrieben 1998/1999], in: "Oxymoron", Ausgabe 1 "Hier entzündete es sich am Rand einer Wolke" (Mai), abgebrochenes Zeitschriftenprojekt eines Künstler*innenkollektivs*, Marburg 2007, S. 13-18.

 

Bild "Eisfenster", 2005, Public Domain.

"Wie in Eis gefroren liegt sie da im kalten Licht, Ruhestätte leerer Hüllen, deren Besitzer einst dem Elysium gläserner Transzendenzen nachjagten. Ewige Ruhe erfüllt die steinernen Schicksale. Ich war wieder hinaufgestiegen zur felsigen Pforte an der Anhöhe des Hirschbergs, eine mächtige Birke verbarg mit ihrer herbstlichen Blätterfülle den Ausblick auf die andere Seite. Graue Wolkenmeere verdeckten den Himmel, das andauernde Geräusch ferner Flugzeugturbinen erfüllte den Äther wie ein tiefes fulminantes Grollen. Nieselregen. Hier wo wir einst saßen. Wo sich eine Tür zu öffnen schien**.

Ich saß auf der borkigen Wurzel der bestimmten Birke und blickte hinunter in die farblose Stadt, sah die Baracken, am Hang der Abhöhe stehend - Zerfall wo ich einst Erhabenheit glaubte. Stadtmenschen zierten die Kulisse, zogen ihre Bahnen, fuhren auf ihren Schienen dahin.

Wieder deutlich das Gefühl der Trance, durch virtuelle Welten zu treiben, Konstrukte aus Vektoren, durch die ich zu fließen scheine, eine Matrix aus Firmament, Untergrund und Horizont. 'O Wunder! Was gibt's für herrliche Geschöpfe hier. Wie schön der Mensch doch ist. Schöne Neue Welt, die solche Bürger trägt.'*** Und die Kulisse wechselt. Es zerfließen die fernen Heiden, Äcker und Wälder, verdichten sich zur Räumlichkeit; Poster hängen an den Wänden, in unbeachteter Redseligkeit tönt der Schall aus dem Fernsehgerät, vor blauem Hintergrund spricht ein Soziologe und Marktforscher:

'Der intellektuelle Hintergrund dieser Entwicklung ist die Postmoderne. Die Postmoderne negiert die Vorstellung eines einheitlichen menschlichen 'Ichs', sie lehnt lineare Zeitvorstellungen ab, sie 'dekonstruiert', was ihr in die Finger gerät. Die Theoretiker der Postmoderne singen das Hohelied des Fragments - auf Kosten des Ganzen...'

Der Tisch, von der Sitzgruppe umgeben, verbirgt seine architektonische Schönheit unter dem fahlen Grau gefüllter Aschenbecher, alten Zeitschriften [...]. Die meisten anwesenden Geister um mich herum entschweben über Serpentinen in fremdartige Gedankenwelten, erfreuen sich im einen Moment am tiefgreifendsten Sphärenklang, um im nächsten frenetisch aufzulodern. Der Eine flüstert ein zischendes 'Man lacht im Land Utopia' in die Richtung meines Gesichtes. Er [...hat] eine kleine Brille auf der Nase, immer Hin und Wider zwischen Manie und Depression.

'Die Studenten ergehen sich in endlosem Gerede von grenzüberschreitenden Diskursen, sie interessieren sich für jede Form von Randständigkeit, für jeden Nebenkriegs-Schauplatz; aber das wirkliche Leben gerät ihnen aus dem Blick. Ich halte die Postmoderne für eine ausgesprochen elitäre Veranstaltung...'.****

Ich blicke auf den Fernseher, auf ein schwarzes Gehäuse im modernistischen Stil, erkenne die Bildröhre, welche vor meinem Auge anwächst zu einer Myriade von Pixeln, ein Elektronenstrahl der über sie dahin wandert, sehe hinab in einen Silizium-Dschungel aus Widerständen, Elektroden, Mikrochips und Kabeln, glaube für einen Moment die grünlich leuchtende Amplitude zu sehen, das Wunder der Elektrizität, unendliche Röhren, schließlich reine Energie.

Weiter lenkt sich mein Blick durch den Raum der Zeit. Ich richte meine Augen nach vorne, vor mir die Windschutzscheibe, dahinter Asphalt, Betonwände und eilig schreitende Gestalten. Die Stimme von Zack de la Rocha***** ertönt aus den Lautsprecherboxen. Auf dem Beifahrersitz der Eine [...].

'Ich habe immer versucht, gegen den Strom zu schwimmen - doch manchmal wünsche ich mir, einfach vergessen zu können.'

Ich schaue kurz zu ihm hinüber. 'Das wollen viele. Aber du kannst nicht Gedachtes zurücknehmen.'

Er zog nachdenklich an seiner [...Z]igarette und rief es hinaus: 'Unwissenheit ist Stärke****/6 - ist es nicht so!?'

Wortlos betrachte ich die endlose Gerade Straße - so schön verlockt die milde Gunst der Ataraxie****/7 [...]! Doch ist es Stärke, kann dies wirklich Stärke sein! [...]

Er blickt zu mir und dann auf die Fußmatten unter den Sitzen: 'Deine Welt und meine Welt werden nie die gleiche sein! - gehe nur deinen Weg. Du bist dafür privilegiert. Du hast Entsprechendes geleistet. Du wirst deinen guten Scheißjob bekommen [...]! Aber es hat sich seit dem Mittelalter nichts geändert - Menschen wie du und Menschen wie ich können nicht zusammenpassen. Daran ändert auch nichts, daß ich dich gut leiden kann. Die Gesellschaft läßt es nicht zu.'****/8

Für einen Moment sah ich wieder die Nacht, einen kargen Baum und hörte die Stimme mit Wohlstandsschmatzen. 'Sind es nicht alles gute Patrioten?'****/9

Ich schaute auf den Erdboden, auf die borkige Wurzel und sah vor mit die farblose Stadt. [...] Der kühle Wind und der nieselnde Regen trieben mir ins Gesicht, doch schien sich auch eine wirkliche Träne auf meinen Wangen zu verirren. Wer habe ich zu sein in dieser Welt?

[...] Wie viele Menschen wissen, daß sie wirklich leben?****/10 [...]".

 

[ Anmerkungen. annotations. remarques ]

* "l_roman.odt", 26. April 2019: "Als wir zu dritt, O., S. und ich, oder gelegentlich zu viert, die Geschichte des Erlernens und Transzendierens künstlerischer Traditionen nachvollzogen, künstlerisch aktiv wurden, um diese Werke daraufhin in Kritik und Asche zu zerstören, auf diese Weise quasi unbeabsichtigt einem Fortschrittsdrang der Kunst nachgaben, der eine Originalität morgen schon in den abgestandenen Mief eines kitschigen Gestern stellt, da kam irgendwann der Tag, als S. die Frage stellte, ob wir denn damit Ernst machen wollten. Alles andere der Kunst unterordnen. Das war der letzte Tag des Dichterkreises".

Dieses Geschehen spielte ca. 2006-2009 am Ort bzw. im Umfeld des Schnaps- und Poesie-Theaters.

** Vgl. Aldous Huxley: "The Doors of Perception", London: Chatto & Windus 1954; daneben Francis Fukuyama: "The End of History and the Last Man", New York: Free Press 1992.

*** Ursprünglich aus William Shakespeare: "The Tempest" ["Der Sturm", geschrieben 1611, EA in "Mr. William Shakespeares Comedies, Histories, & Tragedies", London: Issac Iaggard & Ed. Blount 1623], zitiert nach "The Dramatic Works of William Shakespeare: With a Glossary", London: Henry G. Bohn 1858, S. 22 [google.books.com]: "Miranda. O, wonder! / How many goodly creatures are there here! / How beauteous mankind is! O brave new world / That has such people in't!". In Aldous Huxley: "Brave New World" [EA 1932], Harmondsworth: Penguin 1976, S. 114: "'O brave new world that has such people in it. Let's start at once'", S. 166: "'O brave new world!' Miranda was proclaiming the possibility of transforming even the nightmare into something fine and noble. 'O brave new world' It was a challenge, a command".

**** Richard Sennett: "Der charakterlose Kapitalismus. Ein ZEIT-Gespräch mit dem amerikanischen Soziologen Richard Sennett", in: "Die Zeit", Nr. 49, 26. November 1998, S. 28f.

Stefan Broniowski: "Feindbild Postmoderne. Zur diskursiven Konstruktion eines Popanzes", in: "Streifzüge", Nr. 5, 7. Mai 1999: "Der Herr Professor, der hier phantasiert, verfährt ganz nach dem Motto: Elitär ist, was mich im Zweifelsfall kritisieren könnte. Und weil man von Haupt- und Nebenwiderspruch nicht mehr reden mag****/11, faselt man von 'Randständigkeit' und 'Nebenkriegsschauplatz', wo vom 'wirklichen Leben' nichts mehr gewußt wird. 'Der moderne Kapitalismus kann jedenfalls hervorragend mit den Individualisierungstendenzen der sechziger Jahre und mit der kleinteiligen Ideologie der Postmoderne leben: Beide konzentrieren sich schließlich nicht darauf, ihn zu kritisieren, sondern auf eine mehr oder weniger diffuse ›Revolutionierung‹ dessen, was man wohl als ›Lifestyle‹ bezeichnet.' (Sennett) Na wunderbar, jetzt ist's durchschaut. Nicht nur 'anything goes', auch 'small is beautiful' (wohl samt der Varianten 'black is beautiful' und 'pride to be gay') ist kapitalistische Ideologie. Wer würde es wagen, daran zu zweifeln, daß die Managementphilosophie 'lean production' und Deleuzens/Guattaris Plädoyer für eine Kleine Literatur auf dasselbe hinauslaufen? Kurzum: 'Ich fürchte, die Postmoderne mit ihren Debatten über Randgruppen und -themen hat uns eine ganze Generation junger Kritiker gekostet.' (Sennett) Denn wer sich nicht mit dem beschäftigt, was der weiße, heterosexuelle, männliche Universitätslehrer für wichtig befindet, und wer es nicht auf eine Weise tut, die dessen Vorherrschaft bekräftigt, ist klarerweise zu vernünftiger Kritik gar nicht fähig.

Die 'Postmoderne' im Namen der Hegemonie der weißen, heterosexuellen, wohlhabenden Männer anzugreifen, ist nun originellerweise nicht diesen Männern vorbehalten. Eine gewisse Mariam Lau [...] kann das auch. Zunächst verkündet sie: 'Die Gender Studies sind wahrscheinlich das erfolgreichste Projekt der Postmoderne.' (Mariam Lau[: 'Das Unbehagen im Postfeminismus', in: "Postmoderne. Eine Bilanz", hrsg. von Karl Heinz Bohrer und Kurt Scheel, 'Merkur', Heft 9/10, Stuttgart 1998, S. 919 ff., Zitat] S. 919). Sodann beklagt sie die 'spröde Umständlichkeit der kanonischen Texte' (S. 919), die dort verhandelt würden, und 'deren Studium den Leser mit einem Gefühl von Hoffnungslosigkeit, diffuser Bedrohung und etwas wie Reue nach empfundener Strafe zurückläßt' (S. 919). [...] Die Gender Studies - und also die ganze 'Postmoderne' - ist nichts als eine große Selbstbefriedigungsaktion der Lesben (und Schwulen: [Michel] Foucault)! Eine gigantische homosexuelle Verschwörung gegen die Heterosexuellen, wobei die 'grauenhafte Vorstellung von der Politisierung des Privaten' geradewegs 'bis zum Exzeß eines modellhaften Lebens getrieben' wird, 'in dem noch Bettgeflüster zum Manifest wird' (S. 927)".

Angesprochen wird Félix Guattari & Gilles Deleuze: "Kafka. Für eine kleine Literatur" [EA Paris: Éditions de Minuit 1975], Frankfurt am Main: Suhrkamp 1976, S. 24: "Eine kleine oder mindere Literatur ist nicht die Literatur einer kleinen Sprache, sondern einer Minderheit, die sich einer großen Sprache bedient". Zu dem 1984 an Aids verstorbenen Philosophen Michel Foucault vergleiche den Artikel "Die Kultur. Eine unabhängige Zeitung mit internationalen Beiträgen".

Homosexualität ist in Deutschland seit 1994 nicht mehr strafbar, der Paragraph 175 des deutschen Strafgesetzbuches existierte vom 1. Januar 1872 bis zum 11. Juni 1994, in der Deutschen Demokratischen Republik bis 1968. Dort gab es bis zur Wiedervereinigung 1989 einen Folgeparagraphen 151, der höhere Schutzaltersgrenzen für homosexuelle Kontakte vorschrieb.

Harry Oosterhuis: "Reinheit und Verfolgung. Männerbünde, Homosexualität und Politik in Deutschland (1900-1945)", in: Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaften, Bd. 5, Nr. 3/1994, S. 388-409 [journals.univie.ac.at], insb. S. 391, Anm. 10: "Manchmal ging in der nationalsozialistischen Propaganda Homophobie mit Antisemitismus einher, besonders bei Angriffen gegen jüdische, homosexuelle Intellektuelle wie Magnus Hirschfeld und Kurt Hiller", und S. 392f.: "Der Gefahr einer 'homosexuellen Verschwörung' wurde nach dem Röhm-Putsch 1934 [der 'Röhm-Putsch' genannten Mordserie; Anm.] in der Nazipropaganda große Aufmerksamkeit zuteil; viele Naziführer scheinen von ihr wie besessen gewesen zu sein. [...] Mit der zunehmenden Verfolgung wurden in der Diskussion die Metaphern der 'Ansteckung' und des 'Komplotts' untrennbar verwoben. Bemerkenswert ist, daß die Nazis tatsächlich der Meinung waren, alle deutschen Männer - und damit ihre eigene Bewegung, die auf einem Männerbündnis aufbaute - seien für eine homosexuelle Verführung anfällig".

***** Sänger der amerikanischen Band Rage against the Machine, das gleichnamige Debütalbum von 1992 enthielt die Trackliste "Bombtrack", "Killing in the Name", "Take the Power Back", "Settle for Nothing", "Bullet in the Head", "Know Your Enemy", "Wake Up", "Fistful of Steel", "Township Rebellion", "Freedom".

****/6 George Orwell: "Neunzehnvierundachtzig" [EA 1948], übers. von Kurt Wagenseil [EA 1950], 21. Auflage, Zürich: Diana-Verlag, 1973, S. 11: "Das Wahrheitsministerium - Miniwahr, wie es in der Neusprache, der amtlichen Sprache Ozeaniens, hieß - sah verblüffend verschieden von allem anderen aus, was der Gesichtskreis umfaßte. Es war ein riesiger pyramidenartiger, weiß schimmernder Betonbau, der sich terrassenförmig dreihundert Meter hoch in die Luft reckte. Von der Stelle, wo Winston stand, konnte man gerade noch die in schönen Lettern in seine weiße Front gemeißelten drei Wahlsprüche der Partei entziffern:

KRIEG BEDEUTET FRIEDEN
FREIHEIT IST SKLAVEREI
UNWISSENHEIT IST STÄRKE".

****/7 Ataraxia, griech. "Unerschütterlichkeit", ist die Bezeichnung der Epikureer und Pyrrhoneer in der Antike für das Ideal der Seelenruhe. Ähnlich der philosophischen Schule Stoa wird Affekt­losigkeit und Gelassenheit angestrebt und gilt als Voraussetzung für Glück.

****/8 "Rechte Gewalt: Die Baseballschlägerjahre", von Sven Wolters, Claudia Bracholdt, Christian Bangel, Dilan Gropengiesser, Lydia Meyer u.a., zeit.de, 1. Dezember 2020:

"Begonnen hat alles mit einem Zeitungsartikel, im Oktober 2019. In der Wochenzeitung Freitag schrieb der Rapper Testo, der 1988 in der DDR geboren wurde und mit bürgerlichem Namen Hendrik Bolz heißt, von seinen Jugendtagen in Stralsund. Sie waren geprägt von Glatzen, Bomberjacken und Springerstiefeln. Inspiriert von dem Artikel startete unser Autor Christian Bangel auf Twitter das Hashtag 'Baseballschlägerjahre' und bat andere, ihre Erfahrungen und Erlebnisse aus den Jahren nach der deutschen Wiedervereinigung zu teilen. Hunderte erzählten davon, wie sie von Neonazis bedrängt wurden, auf Konzerten, in Bussen, auf Schulhöfen. Verbal, mit bloßen Händen, Messern, Schreckschusspistolen oder eben mit Baseballschlägern [...]. In den Neunzigern wächst die rechte Szene in Magdeburg, viele Jugendliche werden zu sogenannten Skinheads. Bei Ausschreitungen jagen Neonazis alle, die anders sind: Punks, Linke und Geflüchtete. Menschen werden verletzt und sogar getötet. [...] 1987 kommt Amadeu Antonio Kiowa als Vertragsarbeiter aus Angola in die DDR. Wenige Jahre später wird er in Eberswalde von Skinheads erschlagen. Die Polizei schaut aus sicherer Distanz zu".

****/9 Kontexte 1998:

(1) Am 11. Oktober 1998 wird dem Schrifsteller Martin Walser der Friedenspreis des Deutschen Buchhhandels in der Paulskirche in Frankfurt am Main verliehen. "Walsers Dankesrede, vor allem seine Bemerkungen über das Gedenken an die Judenverfolgung in der Zeit des Nationalsozialismus, provoziert heftigen Widerspruch. Er sagt unter anderem: 'Wenn mir aber jeden Tag in den Medien diese Vergangenheit vorgehalten wird, merke ich, dass sich in mir etwas gegen diese Dauerpräsentation unserer Schande wehrt.'"****/12. Am 16. Oktober "billigt [der Bundestag] in seiner alten Zusammensetzung eine Beteiligung der Bundeswehr an einem möglichen Militärschlag der NATO gegen Rest-Jugoslawien (BRJ) aufgrund der Kosovo-Krise". Am 24. Oktober unterzeichnen "Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu und der palästinensische Präsident Jassir Arafat (1929-2004) [...] auf Initiative des US-Präsidenten Bill Clinton in Washington ein Friedensabkommen. Damit wird der [...seit der Ermordung des vorherigen israelischen Ministerpräsidenten Jitzchak Rabin am 4. November 1995 in Tel Aviv durch den illegale Siedlungen durch Israelis unterstützenden religiöszionistischen Yigal Amir] blockierte Friedensprozess in Nahost wieder in Gang gebracht"****/13. Am 27. Oktober wird nach 16 Jahren unionsgeführter Koalitionen unter Bundekanzler Helmut Kohl (CDU) "[d]er bisherige niedersächsische Ministerpräsident Gerhard Schröder (SPD) [...] vom Bundestag zum siebten deutschen Bundeskanzler gewählt. Am Nachmittag wird das neue Kabinett der rot-grünen Koalition vereidigt. Vizekanzler und Außenminister wird Joschka Fischer (Grüne)".

Bereits am 9. Oktober leitete der amerikanische Kongress ein Amtsenthebungsverfahren gegen den der demokratischen Partei zugehörigen Präsidenten Bill Clinton ein, "[b]ei den Beschuldigungen geht es im Zusammenhang mit der Beziehung zu der ehemaligen Praktikantin Monica Lewinsky um Meineid, Anstiftung zur Falschaussage, Zeugenbeeinflussung und Behinderung der Justiz". Am 15. September rollt "[m]it dem ICE-Sonderzug 'Claus Graf Stauffenberg' von Berlin nach Hannover [...] erstmals ein ICE auf einer Hochgeschwindigkeitsstrecke durch die neuen Bundesländer" (Zitate aus: Irmgard Zündorf, Claudia Wagner und Regina Haunhorst: "Jahreschronik 1998", in: "Lebendiges Museum Online", Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland, 11.09.2014, unter Creative-Commons-Lizenz CC BY-NC-SA 4.0).

Abb. aus Etienne Esquirol: "Des maladies mentales considérées sous les rapports médical, hygiénique et médico-légal", Paris: J.B. Baillière 1838, Public Domain, wellcomecollection.org (Ausschnitt, modifiziert).

(2) Tony Blair [Labour, GB] und Gerhard Schröder: "Europe: The Third Way/Die Neue Mitte", Working Documents No. 2, Friedrich-Ebert-Stiftung, Juni 1998, S. 2: "Social democrats are in government in almost all the countries of the Union. Social democracy has found new acceptance - but only because, while retaining its traditional values, it has begun in a credible way to renew its ideas and modernise its programmes. It has also found new acceptance because it stands not only for social justice but also for economic dynamism and the unleashing of creativity and innovation. The trademark of this approach is the New Centre in Germany and the Third Way in the United Kingdom. [...] Fairness and social justice, liberty and equality of opportunity, solidarity and responsibility to others - these values are timeless. Social democracy will never sacrifice them. To make these values relevant to today's world requires realistic and forward-looking policies capable of meeting the challenges of the 21st century. Modernisation is about adapting to conditions that have objectively changed, and not reacting to polls".

S. 3: "Ideas of what is 'left-wing' should never become an ideological straitjacket****/13. The politics of the New Centre and Third Way is about addressing the concerns of people who live and cope with societies undergoing rapid change - both winners and losers. In this newly emerging world people want politicians who approach issues without ideological preconceptions and who, applying their values and principles, search for practical solutions to their problems through honest well-constructed and pragmatic policies. Voters who in their daily lives have to display initiative and adaptability in the face of economic and social change expect the same from their governments and their politicians".

S. 4: "The most important task of modernisation is to invest in human capital: to make the individual and businesses fit for the knowledge-based economy of the future".

S. 5: "[W]e want a society which celebrates successful entrepreneurs just as it does artists and footballers - and which values creativity in all spheres of life".

S. 8: "Our economies are in transition****/14 - from industrial production to the knowledge-based service economy of the future. [...] The rapid advance of the information age, especially the huge potential of electronic commerce, promises to change radically the way we shop, the way we learn, the way we communicate and the way we relax. Rigidity and overregulation hamper our success in the knowledge-based service economy of the future. They will hold back the potential of innovation to generate new growth and more jobs. We need to become more flexible, not less".

(3) Bis zum Ersten Weltkrieg und mit allmählicher Abweichung auch noch bis 1945 wurde auf den Goldstandard zur Definition eines Wechselkursmaßes gesetzt, das dann eingeführte Bretton-Woods-System verwendete den amerikanischen Dollar als Ankerwährung. Bis zu seinem Zusammenbruch 1973 wurden nicht nur Hyperinflations- und Deflationskrisen abgewehrt, sondern damit auch der Einlagensicherungsgarantie des Glass-Steagal-Acts von 1932/33 Solidität verliehen, die nach der Weltwirtschaftskrise von 1929 eingeführt worden war. Dann nach 1973 allerdings folgten Ölkrisen, Hyperinflationskrisen in Ländern des Globalen Südens sowie die Krise der "Sparkassen", genannt "Savings and Loan", ab den 1980ern in den USA. 1999 wurde der Glass-Steagal-Act unter Bill Clinton aufgehoben.

Das (west)deutsche Gesetz zur Regelung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung von 1972 "wurde durch das Erste Gesetz für moderne Dienstleistungen am Arbeitsmarkt ("Hartz I") mit Wirkung zum 1. Januar 2003 geändert: Das besondere Befristungsverbot, das Synchronisationsverbot, das Wiedereinstellungsverbot und die Beschränkung der Überlassungsdauer auf höchstens zwei Jahre wurden aufgehoben" (WP 2021).

****/10 Zitat aus dem Film "The Doors" von Oliver Stone von 1991 mit Val Kilmer als Jim Morrison (imdb tt0101761): "Ihr Plastiksoldaten in einem Miniaturpapierfetzenkrieg! Los kommt schon! Wie viele Menschen wissen, dass sie leben? wie viele Menschen wissen, dass sie wirklich leben?".

Vgl. Kurt Cobain [Sänger der amerikanischen Band Nirvana, 1987-1994]: "[Letter] To Boddah", 8. April 1994, zitiert nach Charles R. Cross: "Heavier Than Heaven. A Biography of Kurt Cobain" [EA New York: Hyperion Books 2001], New York: Hachette Books 2019, S. 363: "Speakings from the tongue of an experienced simpleton who obviously would rather be an emasculated, infantile complainee. This note should be pretty easy to understand. All the warnings from the Punk Rock 101 Courses over the years, it's my first introduction to the, shall we say ethics involved with independence and the embracement of your community has been proven to be very true. I haven't felt the excitement of listening to, as well as creating music, along with really writing something for too many years now. I feel guilty beyond words about these things, for example when we're back stage and the lights go out and the manic roar of the crowds begins, it doesn't affect me the way in which it did for Freddie Mercury [Sänger der britischen Band Queen, 1991 an Aids gestorben], who seemed to love, relish in the love and adoration from the crowd which is something I totally admire and envy. The fact is, I can't fool you, any one of you. It simply isn't fair to you or me. The worst crime I can think of would be to rip people off by faking it and pretending as if I'm having 100% fun. Sometimes I feel as if I should have a punch-in time clock before I walk out on stage".

Abb. "Stechuhr" von Tomasz Sienicki (2009), unter Creative-Commons-Lizenz CC BY 3.0 (modifiziert).

****/11 Jürgen Roth: "Die 'Jungle World' und der Streit um die Linke. Gralshüter, Besserwisser", in: "Neues Deutschland", 30.12.1997: "Sein [Jürgen Elsässers] das 'Jungle-World'-Dossier 'Links & Rechts' eröffnender Besinnungsaufsatz 'Nach Gollwitz: What's left?' perfektioniert einen gewissen Aberwitz: Elsässer will den Nachweis führen, die 'Linke' sei ab ovo reaktionär, deutschnational, antisemitisch. So schmuck und schick die These, so töricht sein Geraune. Die Antworten auf eine Umfrage der Zeitschrift 'konkret' just darüber, was heute noch unter dem Etikett 'links' zu verstehen ist, gelten Elsässer als Indiz, 'warum es heute nicht nur illusionär, sondern reaktionär ist, sich positiv auf ›die Linke‹ zu beziehen'. [...] Die Linke habe en bloc Auschwitz verdrängt und richte ihre Politik nicht mehr antifaschistisch aus****/13. [...] Zunächst hat Elsässer Gollwitz und die vorgeblich 'linken' Apologeten des unbestreitbar rassistischen und antisemitischen Syndroms im Auge. Als Chefankläger, für den er sich hält, zieht er jedoch aus seinen Beobachtungen Schlüsse, die dem Historiker Ernst Nolte alle Ehre machen. Nolte bezeichnete Auschwitz perverserweise als 'verständliche' und notwendige, ja Notwehrreaktion der Nazis auf den Gulag und löste damit Ende der [19]80er Jahre den sogenannten Historikerstreit aus. Elsässer geht - unter linkskritischen und totalitarismustheoretischen Vorzeichen - ähnlich großspurig zu Werke und sucht, weil er wohl glaubt, das komme an, zu denunzieren, was er sich als 'Linke' zurechtpusselt. [...] 'So sind die realen Kräfteverhältnisse in der Linken: Die Nachdenklichkeit', mahnt der wenig besonnene Schwerdenker, 'die nach dem Golfkrieg in allen Strömungen zu beobachten war, hat keine Wirkung gehabt. Die allermeisten Linken waren, sind und bleiben Spießer, Reaktionäre, Antisemiten.' Nach Elsässer freilich hätten die Linken, wie er als 'Junge-Welt'-Redakteur einmal offenherzig bekannte, Michael Endes Kinderbuch 'Momo' ['Momo oder Die seltsame Geschichte von den Zeit-Dieben und von dem Kind, das den Menschen die gestohlene Zeit zurückbrachte. Ein Märchenroman', Stuttgart: Thienemann Verlag 1973] zu lesen, das er allen Ernstes für ein Revolutionstraktat hält****/15. Es könne ihnen helfen, ihren begrifflich-ästhetischen Horizont radikalkommunistisch zu erweitern". Smashing Pumpkins, Bullets with Butterfly Wings, 1995, The World is a Vampire

Jürgen Elsässer, der 1990 einen Artikel "Warum die Linke antideutsch sein muß" in der Zeitschrift "AK - Arbeiterkampf" (später: "Analyse und Kritik") veröffentlichte und ab 1992 mit der Gruppe K die Zeitschrift "Bahamas" mit einem "antideutschen", linken Profil herausbrachte, wandte sich ab 2003 wieder antiimperialistischen Positionen und ab 2006 allmählich der politischen Rechten zu und ist seit 2010 Chefredakteur der Zeitschrift "Compact. Magazin für Souveräntität", seit 2015 Sprachrohr der Partei Alternative für Deutschland (AfD) und der islamfeindlichen Pegida-Bewegung (Jürgen P. Lang: "Biographisches Porträt: Jürgen Elsässer", in: "Jahrbuch Extremismus & Demokratie", hrsg. von Uwe Backes, Alexander Gallus, Eckhard Jesse, Jg. 28, Baden-Baden: Nomos 2016, S. 225-240).

****/12 Deborah E. King: "Zum Tode von Martin Walser. Der Brandstifter und seine Biedermänner", jungle.world, 29.07.2023: "In einem kurzen Gespräch unter vier Augen, das sich 1999 am Rande einer Veranstaltung in Amsterdam mit ihm ergab, stellte ich [Ignatz] Bubis genau diese Frage: Warum er den Vorwurf gegen [Martin] Walser zurückgenommen habe. Das allererste was Bubis in seiner Antwort erwiderte war, dass Walser zweifelsohne durch und durch Antisemit sei. Daran bestand für ihn kein Zweifel. Walser habe sich in seiner Paulskirchenrede bewusst vage ausgedrückt, um zwar einerseits ein Publikum anzusprechen, welches ihn so verstand, wie er verstanden werden wollte - nämlich antisemitisch - andererseits jedoch auch einen gewissen Rückzugsraum zu haben à la 'So habe ich das gar nicht gemeint'. Aus diesem Grund sei es nötig gewesen, den - wie er es nannte - 'Hammer' (also den Vorwurf der 'geistigen Brandstiftung') einzusetzen, damit Walser gezwungen werde, zu erklären was genau er gemeint habe und sich somit von jeglicher antisemitischen Interpretation seiner Worte zu distanzieren".

****/13 Maximilian Hauer, 22.10.2023, Facebook: "GERD ALBARTUS IST TOT. - So lautet ein bemerkenswerter Text der bewaffneten linksradikalen Gruppe Revolutionäre Zellen aus dem Jahr 1991. Darin finden sie nicht nur selbstkritische Worte über den Irrgang ihrer Bewegung, die sich im Laufe der 1970er Jahre immer stärker an mutmaßlichen nationalen Befreiungsbewegungen im Trikont orientierte, sondern schaffen auch ihrem Genossen Gerd Albartus ein Andenken. Albartus war 1987 von einer palästinensischen Miliz, mit der er zusammenarbeitete, als vermeintlicher Verräter erschossen worden - wobei, so liest man zwischen den Zeilen, auch seine Homosexualität eine Rolle als Verdachtsmoment gespielt haben könnte. Die Form der Würdigung eines individuellen Schicksals ist dabei vom politischen (oder ethischen?) Gehalt des Textes nicht zu trennen, der auch ein Einspruch gegen die 'moralische Desintegration' der kommunistischen Bewegung im 20. Jahrhundert ist, an der man selbst Anteil hatte und die sich leider im 21. Jahrhundert weitgehend unaufgearbeitet forterbt.

'Entebbe war kein Einzelfall, wohl aber der Kulminationspunkt einer Entwicklung, in deren Verlauf wir uns mehr und mehr von dem entfernt hatten, wofür wir mal angetreten waren. Vergessen waren die Sätze, die Ulrike Meinhof knapp zehn Jahre zuvor aus Anlaß des Sechs-Tages-Krieges geschrieben hatte: ›Es gibt für die europäische Linke keinen Grund, ihre Solidarität mit den Verfolgten aufzugeben, sie reicht in die Gegenwart hinein und schließt den Staat Israel mit ein.‹ Der schwarze September der Palästinenser, die israelischen Luftangriffe auf die Flüchtlingslager, das Massenelend in den besetzten Gebieten, das Regime des Schreckens, das die Besatzungsmacht dort ausübte, die Berichte aus den israelischen Gefängnissen waren uns Grund genug und zugleich Vorwand, unser Wissen über Auschwitz in den Hintergrund zu drängen. Wir machten uns die Losungen des palästinensischen Befreiungskampfes zu eigen und setzten uns darüber hinweg, daß unsere Geschichte eine vorbehaltlose Parteinahme ausschloß. Wir interpretierten den Konflikt mit den Kategorien eines an Vietnam geschulten Antiimperialismus, mit denen er nicht zu ermessen war. Wir sahen Israel nicht mehr aus der Perspektive des nazistischen Vernichtungsprogramms, sondern nur noch aus dem Blickwinkel seiner Siedlungsgeschichte: Israel galt uns als Agent und Vorposten des westlichen Imperialismus mitten in der arabischen Welt, nicht aber als Ort der Zuflucht für die Überlebenden und Davongekommenen, der eine Notwendigkeit ist, solange eine neuerliche Massenvernichtung als Möglichkeit von niemandem ausgeschlossen werden kann, solange also der Antisemitismus als historisches und soziales Faktum fortlebt. Die dramatische Tatsache, daß dieses Sicherheitsbedürfnis der Juden scheinbar nur gegen die Palästinenser zu realisieren ist, stürzte uns nicht in ein unlösbares Dilemma, wir nahmen sie vielmehr zum Anlaß, uns bedingungslos auf die Seite derer zu schlagen, die in unseren Augen die schwächeren waren. Wo wir unter anderen Voraussetzungen auf der Unterscheidung zwischen oben und unten beharrten, sahen wir im Nahen Osten vor allem gute und schlechte Völker.'" (zitiert nach "Die Früchte des Zorns. Texte und Materialien zur Geschichte der Revolutionären Zellen und der Roten Zora", hrsg. von ID-Archiv im IISG Amsterdam, Berlin: ID-Verlag 1993, 2 Bände, Band 1, Kapitel 1 "Aktuelle Texte der Revolutionären Zellen 1991/92", S. 17).

****/14 Saskia Sassen: "The Global City. New York, London, Tokio" [EA 1991], Princeton: Princeton University Press 2001, S. 3f.: "The point of departure for the present study is that the combination of spatial dispersal and global integration has created a new strategic role for mayor cities. Beyond their long history as centres for international trade and banking, these cities now function in four new ways: first, as highly concentrated command points in the organization of the world economy; second, as key locations for finance and for specialized service firms, which have replaced manufacturing as the leading economic sector; third, as sites of production, including the production of innovations, in these leading industries; and fourth, as markets for the products and innovations produced. These changes in the functioning of cities have had a massive impact upon both international economic activity and urban form: cities concentrate control over vast resources, while finance and specialized service industries have restructured the urban social and economic order. Thus a new type of city has appeared. It is the global city".

****/15 Peter Siemionek: "Phantasie und Vernichtung. 'Momo' und die autoritäre Sehnsucht des Michael Ende", in: "Bahamas", 55/2008.

Vortragsankündigung "Das Netz der Blutsauger. Über 'Momo' und die Reproduktion des Antisemitismus", nokrauts.org 2008: "'Michael Ende, du hast mein Leben zerstört', sang die Band 'Tocotronic' [1995] vor mehr als zehn Jahren. Der Song richtete sich vor allem gegen friedensbewegte und ökologisch gesinnte Lehrer, die in den 1980er Jahren ihren Schülern pausenlos mit dem Preisen der Romane des Kinderbuchautors in den Ohren lagen. Heute jedoch muss deren Lektüre Schülern nicht mehr durch Empfehlungen wollpullitragender Pädagogen nahe gebracht werden. Es sind tatsächlich die 'Eltern aller Schichten', die ihren Kindern die Bücher des Schriftstellers nicht nur ans Herz, sondern auch auf den weihnachtlichen Gabentisch legen. Endes größter Erfolg wurde der Roman 'Momo', der bei Deutschlehrern besonders hoch im Kurs steht und seit 35 Jahren eines der beliebtesten deutschen Jugendbücher ist. Wie kein anderes Buch wird 'Momo' seit seinem Erscheinen mit der Sehnsucht nach einem besseren Leben, der Utopie von einer freien Welt und vor allem mit der lebensnahen Darstellung von Phantasie, Kreativität und Sinnlichkeit in Verbindung gebracht. Dass solche Qualifizierungen einer Textkritik des Romans keineswegs standhalten, soll der Vortrag erläutern. In Hinblick auf 'Momo' wird vor allem vom Antisemitismus zu sprechen sein, der im Buch ganz ohne Juden auskommt und doch alle ideologischen Bestandteile des modernen Judenhasses reproduziert. Wahrscheinlich ist hierin der Grund zu suchen, warum 'Momo' als hochideologisches Traktat den Deutschen generationenübergreifend so unentbehrlich geworden ist".

Abb. "Die Schildkröte Kassiopeia aus der Skulpturengruppe Momo in Northeim von Rubi Brockhausen und Lukas Ott (Holzskulptur)" von Gerd Fahrenhorst und Christoph Waghubinger, 2021, unter Creative-Commons-Lizenz CC BY 4.0 (modifiziert), die beigefügte Tafel erklärt: "Die Schildkröte Kassiopeia führt das Mädchen Momo aus der Geschichte von Michael Ende zu Meister Hora, dem Herrn der Zeit, und entdeckt, dass man Zeit nur mit dem Herzen wirklich begreifen kann". In "Momo" treten Agenten einer "Zeitsparkasse" auf.

Peter Siemionek: "Phantasie und Vernichtung", a.a.O.: "Hora klärt Momo über den wahren Charakter und die schändlichen Ziele der grauen Herren auf und schärft ihr ein, dass sich 'die Menschen [...] von diesen Plagegeistern befreien' (Ebd. [47. Aufl., Stuttgart 2005], S. 270) müssten".

Michael Ende (1929-1995) ist Sohn des surrealistischen Malers Edgar Carl Alfons Ende (1901-1965), seit 1931 Mitglied der Münchner Secession, mit Wohnung in München-Obermenzing, seit 1935 in München-Schwabing, in der Kaulbachstraße 90. Gegen ihn hatte die Reichskulturkammer 1936 ein Berufs- und Ausstellungsverbot verhängt.

Roman Hocke und Markus Michalek: "Michael Ende und die magischen Weltbilder", michaelende.de, 2010: "Zwar beschäftigt er sich von Jugend an intensiv mit Rudolf Steiner und seinen Werken, wie dies im übrigen auch seine Eltern tun, doch hat Peter Boccarius, ein enger Jugendfreund, Recht, wenn er in seiner Biographie Michael Ende - Der Anfang der Geschichte [München: Nymphenburger 1990] ausführt, es sei nicht nur die Steinersche Anthroposophie gewesen, die Michael Endes Weltsicht geprägt habe. Durch Edgar Endes Bibliothek inspiriert, kommt der Sohn in jungen Jahren mit okkulten Schriften in Kontakt. Als Hauptstadt des Okkultismus im frühen 20. Jahrhundert zog die bayerische Metropole im ersten Viertel des Jahrhunderts zahlreiche Vertreter der Lehre vom Übersinnlichen an. Genannt seien hier nur die Kosmiker um Alfred Schuler, Karl Wolfskehl und Ludwig Klages. [...] 'Edgars Sohn suchte auch bei anderen Weisen und Esoterikern Erkenntnis, in des legendären Christian Rosenkreutz' Chymischer Hochzeit wie in des infernalischen Altmeisters Aleister Crowleys Manifesten, bei Indern und Ägyptern, beim Zen, in der Kabbala, bei Swedenborg, Eliphas Lévi, Sören Kierkegaard, Friedrich Weinreb [...]'".

Brief von Michael Ende an den Sozialökonomen Werner Onken, München, 03.09.1986: "Übrigens sind Sie bis jetzt der erste, der bemerkt hat, daß die Idee des 'alternden Geldes' im Hintergrund meines Buches 'Momo' steht. Gerade mit diesen Gedanken [Rudolf] Steiners und [Silvio] Gesells habe ich mich in den letzten Jahren intensiver beschäftigt, da ich zu der Ansicht gelangt bin, daß unsere Kulturfrage nicht gelöst werden kann, ohne daß zugleich, oder sogar vorher, die Geldfrage gelöst wird".

Peter Bierl: Vortrag "Schwundgeld, Menschenzucht und Antisemitismus. Die Tauschringe, die Lehre des Silvio Gesell und die Antiglobalisierungsbewegung", rote-ruhr-uni.com, 12.06.2004: "Anfangen werde ich mit der Ideologie Silvio Gesells und seiner heutigen Vertreter, die eine ökonomisch absurde Theorie vertreten, die strukturell antisemitisch ist, auf Manchester-Kapitalismus und Sozialdarwinismus hinausläuft und deren Ziel eine Art Rassenhygiene und Menschenzüchtung ist".

Vgl. auch Julian Timm: "Der erzählte Antisemitismus. Das Narrativ der 'Jüdischen Weltverschwörung' von seinen literarischen Ursprüngen bis heute", Göttingen: Wallstein 2023 [Open Access], S. 315-358: "Der Wunschpunsch - eine Transformation des Judenkirchhofs?".

 

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